zum Hauptinhalt
Verzerrt. Die Euro-Krise hat in den Köpfen vieler aus Griechen Faulenzern, aus Deutschen Nazis und aus Briten Casinokapitalisten gemacht.

© AFP

Friedensnobelpreis für die EU: „Wer an Europa zweifelt, der sollte Soldatenfriedhöfe besuchen“

Euro-Gruppenchef Jean-Claude Juncker hat das gesagt und gemahnt, das Miteinander zu schätzen. Bevor die EU am Montag den Friedensnobelpreis erhält – eine Reise zu den Gräbern der Toten.

Die Gärtner sind allein mit der Geschichte. Am Backsteinhäuschen, das den Eingang zum britischen Militärfriedhof am Waldrand markiert, kommt an diesem kalten Spätherbstvormittag kein Spaziergänger, Radler oder Jogger vorbei. Für eine letzte Ruhestätte ist es hier trotzdem ziemlich laut. Die Autobahn von Brüssel nach Aachen durchschneidet das flämische Städtchen Heverlee und führt nur wenige hundert Meter entfernt vorbei. Hinter der letzten Reihe mit Grabsteinen stechen zwei Männer akkurate Kreise aus dem kurz geschorenen Rasen aus. Sie pflanzen vier neue Bäume für die Toten – allesamt Soldaten des Zweiten Weltkriegs.

Viel Ehr’, viel Einsamkeit. Die mutmaßlich letzten Besucher sind vor einer Woche hier gewesen. Zumindest ist der neueste Eintrag im Gästebuch, das in einem in die Friedhofsmauer eingelassenen Briefkasten steckt, sieben Tage alt. Wenigstens 160 Menschen haben demnach in diesem Jahr an den Gräbern der vorrangig britischen Gefallenen gestanden, die 1940 den Belgiern zu Hilfe eilten und von der heranrollenden deutschen Wehrmacht getötet wurden. Auf vielen Steinen steht das Todesjahr 1944.

An Bord eines am 23. April 1944 über Belgien abgeschossenen Bombers der Royal Air Force befand sich der Offizier Sydney Marvin Clarke. Sein Bruder, so lässt sich dem Gästebüchlein entnehmen, sei selbst gestorben, bevor er die wohl länger geplante Fahrt von der Insel herüber antreten konnte. Stellvertretend hat dessen Sohn Douglas eine Mahnung hinterlassen: „Möge dies nie wieder passieren!“ Das ist es bisher auch nicht.

Wenn am Montag die Europäische Union in Oslo den Friedensnobelpreis erhält, dann bekommt sie ihn vor allem dafür. Fast siebzig Jahre sind vergangen, ohne dass sich Europas Großmächte aufs Neue bekämpften. Die Kraft, sich von Krieg und Zwangsherrschaft zu befreien, hatten die Europäer nicht selbst. Die kam von außen. Aber sie schufen ein Gebilde, das den Nationalismus in ein Korsett aus Paragrafen zwang. Ihre Gesetze befrieden.

Es hat keinen Stau gegeben auf der Fahrt nach Heverlee am Morgen. Alle wollten in die Gegenrichtung, hinein nach Brüssel, wo diese europäischen Gesetze entstehen. Die vielen Autos mit „CD“-Nummernschildern zeugen davon, ihre Insassen gehören dem Corps diplomatique an, die EU-Institutionen beschäftigen ein Heer von 33 000 Beamten. Wie passend doch ein Satz des Regisseurs Wim Wenders dazu klingt: „Aus der europäischen Idee wurde die Verwaltung, und jetzt betrachten die Menschen die Verwaltung als die Idee.“

Dabei hat diese Idee viele Adressen. Man kann sie besuchen. Der Luxemburger Ministerpräsident und Euro-Gruppenchef Jean-Claude Juncker diktiert sie allen Nörglern, Skeptikern und Kritikern immer wieder in den Block: „Wer an Europa zweifelt, wer an Europa verzweifelt, der sollte Soldatenfriedhöfe besuchen!“ Mit Richtlinien und Rettungsschirmen im Kopf geht, dem Ratschlag folgend, die Reise weiter – von Heverlee nach Lommel an der niederländischen Grenze. Und wieder in den Wald.

„Die schlechten Gefühle für andere Kulturen sind wieder da.“

Jugendleiter Karsten Conaert beobachtet in Lommel immer wieder, wie die fast 40 000 Gräber Jugendliche beeindrucken.
Jugendleiter Karsten Conaert beobachtet in Lommel immer wieder, wie die fast 40 000 Gräber Jugendliche beeindrucken.

© Ziedler

Lange ist der „Duitse militaire begraafplaats“, den ein einziges kleines Schild an der Hauptstraße angekündigt hat, nicht zu sehen. Myriam Koonings empfängt die Besucher am Eingang einer Jugendbegegnungsstätte, wo im Aufenthaltsraum ein Tischkicker steht und ein Transparent an der Wand hängt, auf dem das italienische „Pace“ für „Frieden“ gemalt ist. Die Niederländerin will den Jugendlichen aus ganz Europa, die jeden Sommer auf Einladung des Volksbundes Kriegsgräberfürsorge die Ruhestätten pflegen, „zeigen, was die Geschichte angerichtet hat“.

Dabei passiert stets dasselbe, auch jetzt wieder: Kein Besucher ist auf den Anblick vorbereitet, der ihn am Ende der Treppen erwartet, die am Friedhofseingang zum Mahnmal hinaufführen. Die Jugendlichen, erzählt der 24-jährige Jugendleiter Karsten Conaert, schnattern, ratschen, lärmen, gelangweilt vielleicht von den vorangegangenen Ausführungen, rennen hoch „und dann“, sagt Conaert, „dann sind sie still“.

Kreuze so weit das Auge reicht. Angeordnet in endlosen Reihen, die sich zu einzelnen Totenfeldern zusammensetzen. Die schiere Masse raubt dem, der auf die 39 094 Grabstätten schaut, den Atem. Der größte deutsche Soldatenfriedhof in der belgischen Heide, der doch nur 0,05 Prozent aller Weltkriegstoten beherbergt, ist an diesem Tag in helles Sonnenlicht getaucht.

Nach dem Krieg wollten die Menschen in Lommel nicht, dass ihr Ort letzte Ruhestätte für Wehrmachtssoldaten und SS-Sturmbannführer wird. Tatsächlich sehen Neonazis ihn noch heute als Ort der Heldenverehrung, weshalb politische Versammlungen ausdrücklich verboten werden mussten. Koonings versucht, ihren jugendlichen Besuchern einen realistischen Blick zu vermitteln. „Viele der hier Begrabenen haben schlimme Dinge getan“, sagt sie, „und manche waren Jungs, Kindersoldaten, die ihre Träume hatten wie alle anderen auch, aber exekutiert worden wären, wenn sie nicht mitgemacht hätten.“ Die Schuldfrage aber steht für die Jungen nicht mehr im Mittelpunkt, weil sie sich ihnen nicht persönlich stellt. Ihre Blicke richten sich meist nach vorn. „Viele fragen, ob das hier noch einmal passieren kann“, sagt Conaert und zeigt auf die Gräber: „Ich antworte dann: Ja, vielleicht, wenn wir nicht aufpassen. Die schlechten Gefühle für andere Kulturen sind wieder da.“

Woran er dabei denkt, ist klar. Die Euro-Krise hat in den Köpfen vieler aus Griechen Faulenzer, aus Deutschen Nazis, aus Briten Casinokapitalisten und aus Franzosen unfähige Unternehmer gemacht. Für die schon als „verlorene Generation“ bezeichneten arbeitslosen jungen Menschen in Spanien ist Europa mit seinen strengen Sparauflagen mehr Bedrohung als Verheißung.

Die alten Geschichten vom Krieg hatten auch Lydia Nähe und Vivien Staniek kaum interessiert. Die beiden, 19 und 18 Jahre alt, wollten nach der Schule in Dresden und im brandenburgischen Schwedt einfach für eine gewisse Zeit ins Ausland gehen. Sie waren aber mit ihrer Bewerbung für ein Freiwilliges Soziales Jahr spät dran, nur in Lommel war noch etwas frei. Eher widerwillig, erzählen die beiden, reisten sie Mitte September an.

„Jetzt habe ich einen vollkommen anderen Blick darauf“, erzählt Vivien Staniek. Sie sagt: „Das ist kaum zu beschreiben, was passiert, wenn man eine Runde über den Friedhof läuft. Es ist so friedlich, aber zugleich bedrückend.“ Lydia Nähe hat am meisten der Volkstrauertag Ende November beeindruckt. Soldaten der deutschen Bundeswehr und des belgischen Militärs ehrten gemeinsam die Toten. „Diese ehemals verfeindeten Armeen so zu sehen“, sagt sie, „das hat mir schon so eine Art europäisches Gefühl gegeben.“

Die Stille wird vom Getöse eines Kampfjets zerrissen. Es ist eine laute Erinnerung daran, dass Europa im Inneren heute weitgehend befriedet ist, draußen in der Welt aber nicht nur die Menschenrechte hochhält, sondern auch Krieg führt. Am Horn von Afrika gegen die Piraten, in Afghanistan gegen die Taliban und im übertragenen Sinne auch gegen Flüchtlinge an den eigenen Außengrenzen.

„Im Alltag geht oft das Bewusstsein für die Gründungsidee Europas verloren.“

Es ist an diesem Tag niemand da, den der Lärm stören würde. Es kommen inzwischen nur noch wenige Angehörige, vereinzelte rote Grabkerzen und Kränze zeugen davon. Doch die Geschichten, die sie in ein kleines Besucherheft schreiben, rühren zu Tränen. „Kurz vor Weihnachten 1944 haben wir uns zuletzt gesehen. Dein Winken habe ich in guter Erinnerung“, steht da zu lesen, „mein lieber Bruder Erich Pankratz. Wir sehen uns wieder. Deine Schwester Elfriede.“

Christa Halbeisen kommt seit den Fünfzigern immer wieder. Sie fährt aus Rielasingen am Bodensee her. Und jedes Mal steht sie aufs Neue erschüttert in Block 49, Reihe 15, vor Grab 595, dem ihres Vaters – „wenn auch die Zeit tatsächlich die Wunden etwas heilte“, wie sie in einer E-Mail schreibt. Schwarz-Weiß-Fotos, die sie schickt, zeigen sie als junge Frau am Grab Rudolf Lüddeckes. „Heldenfriedhof“ sagten sie in der Reisegruppe des Volksbundes Kriegsgräberfürsorge damals. Wie sich die Zeiten ändern. Die Bäume in Lommel, heute mächtig und groß, waren gerade frisch gepflanzt.

Sie fuhr bei ihrem ersten Besuch weiter nach Antwerpen, Brügge und Brüssel, wo es noch keine EU gab, sondern nur einen belgischen Soldaten, der Christa Lüddecke verächtlich einen Hitlergruß entgegenstreckte. Sie weiß, was es bedeutet, dass Deutschland heute nur von Freunden umgeben ist – und sieht doch kritisch, was in Brüssel alles beschlossen wird. „Mit vielen Bürgern teile ich sicher die Verblüffung über die Nobelpreisverleihung an die EU“, steht in ihrer Mail. Aber sie weiß auch, dass ihr Verlust dem Sohn erspart geblieben ist: „Vielleicht ist deshalb dieser erhaltene Frieden schon einen Nobelpreis wert.“

Christa Halbeisens Vater wurde nach Belgien geschickt, um das Land zu besetzen. Ihr Sohn Julian, Jahrgang 1976, geht nach Belgien, um ein Praktikum zu machen. Als er im April 2009 von einem Besuch am Grab des Großvaters zurückkehrt, notiert er: „Europa wird geschäftsmäßig verwaltet. Im Alltag geht oft das Bewusstsein für die Gründungsidee verloren.“ Für ihn ist nicht selbstverständlich, dass ihm nicht widerfährt, was der Opa durchmachte. „Meine Generation kann dafür dankbar sein.“

Die Autobahn nach Lüttich führt an der Maas entlang. Nach den vielen toten Deutschen aus der Ardennenschlacht, dem letzten Aufbäumen des Dritten Reichs, warten nun auf dem Soldatenfriedhof von Neupré im Süden der französischsprachigen Stahlmetropole die toten Amerikaner, die den Kampf um Europa mit dem Leben bezahlt haben. Eine Landkarte aus Silber und Gold in der gewaltigen Kapelle zeichnet den Kriegsverlauf nach und erzählt doch nichts über diesen Krieg. Das tun die 5328 Kreuze und Davidsterne aus weißem Marmor, die auf der sanft abfallenden Wiese stehen.

Als die Sonne untergeht, steigt dort der Friedhofswärter Vincent Joris in sein Auto. Am Ende des Weges verlässt er den Wagen und geht zum Fahnenmast, wo die „Stars & Stripes“ im eisigen Wind weht. Joris wartet. Plötzlich sind aus Lautsprechern drei Salutschüsse zu hören. Trompeten stimmen anschließend die Trauerhymne „Taps“ an, mit der die USA ihre toten GIs ehren. Seit 1945 wird zu diesen Klängen vom Band in der Dämmerung die Fahne eingeholt, erst von Vincent Joris Vorgängern, nun von ihm. Es ist ein so würdiges wie unwirkliches Ritual. Europäische Geschichte findet an diesem Tag ohne Zuschauer statt.

Zur Startseite