zum Hauptinhalt
Die Namen der NSU-Opfer stehen auf einer Gedenktafel für die NSU-Opfer am Halitplatz in Kassel.

© dpa

Fünf Jahre Enttarnung des NSU: Die blutige Spur der braunen Terrorgruppe

Morde, Sprengstoffattacken, Raubüberfälle und ein Mammut-Prozess: Am 4. November 2011 flog die rechtsextreme Terrorzelle NSU auf. Eine Bilanz.

Von Frank Jansen

Anfang November 2011 wird das gefährlichste rechtsextreme Terrornetzwerk seit 1945 bekannt: die Terrorzelle „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU). Schockwellen gehen durchs Land. In Eisenach erschossen sich am 4. November 2011 nach fast 14 Jahren im Untergrund die Mörder Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt. In Zwickau steckte Beate Zschäpe die Wohnung der drei in Brand. Allerdings sind auch heute noch die Machenschaften des NSU und seines Umfelds nicht vollständig geklärt.

BEKANNTE FAKTEN

Unstreitig ist, dass sich Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe am 26. Januar 1998 aus Jena nach Chemnitz absetzten. Die drei Rechtsextremen flohen, als die Polizei eine von Zschäpe gemietete Garage durchsuchte, in der halbfertige Rohrbomben lagen. Es folgte eine für die Bundesrepublik beispiellose Serie rechtsterroristischer Gewalttaten. Die Familien der Ermordeten und viele der überlebenden Opfer werden die Traumata nicht los.

In ihrem wahnhaften, rassistischen Hass erschossen Mundlos und Böhnhardt neun Migranten türkischer und griechischer Herkunft. Beim mutmaßlich ersten Attentat, am 9. September 2000, starb in Nürnberg der Blumenhändler Enver Simsek. Das nächste Opfer war am 13. Juni 2001 in Nürnberg der Schneider Abdurrahim Özüdogru. Zwei Wochen später töteten die Neonazis in Hamburg den Gemüsehändler Süleyman Tasköprü. Am 29. August 2001 feuerten Mundlos und Böhnhardt in München auf den Gemüsehändler Habil Kilic. Am 25. Februar 2004 ermordeten sie in Rostock Mehmet Turgut, der in einem Döner-Imbiss aushalf. Am 9. Juni 2005 starb in Nürnberg Ismail Yasar in seinem Imbiss. Sechs Tage danach trafen Schüsse in München Theodoros Boulgarides, als er in seinem Schlüsseldienst am Verkaufstresen stand. Im April 2006 töteten Mundlos und Böhnhardt innerhalb von drei Tagen, am 4. und am 6. April, zwei Menschen. Erst starb in Dortmund der Kiosk-Betreiber Mehmet Kubasik, dann in Kassel Halit Yozgat in seinem Internetcafé. Alle diese Taten verübten die Neonazis mit einer Pistole der Marke Ceska 83. Beim mutmaßlich letzten Mord setzten sie andere Waffen ein. In Heilbronn schossen Mundlos und Böhnhardt am 25. April 2007 auf die Polizistin Michèle Kiesewetter und den mit ihr im Streifenwagen sitzenden Kollegen Martin A. Die Beamtin war sofort tot, Martin A. überlebte den Kopfschuss.

 Bildkombination zeigt Porträtfotos der Neonazi-Mordopfer.
Bildkombination zeigt Porträtfotos der Neonazi-Mordopfer.

© picture alliance / dpa

Mundlos und Böhnhardt begingen zudem mindestens drei Sprengstoffanschläge. Nur zwei stehen in der Anklage der Bundesanwaltschaft. In Köln wurde im Januar 2001 die Tochter eines iranischen Einzelhändlers bei der Explosion einer präparierten Christstollendose schwer verletzt. Beim zweiten Angriff in der Domstadt, im Juni 2004, flogen Nägel und Splitter durch die türkisch dominierte Keupstraße. Mehr als 20 Menschen wurden getroffen.

Erst im NSU-Prozess am Oberlandesgericht München wurde durch die Aussage des Angeklagten Carsten S. bekannt, dass Mundlos und Böhnhardt im Juni 1999 in einem türkischen Lokal in Nürnberg eine mit Sprengstoff gefüllte Taschenlampe abgestellt hatten. Als ein Angestellter sie anknipsen wollte, kam es zur Explosion. Der Mann erlitt mehrere Schnittwunden.

Mit 15 Raubüberfällen finanzierten die beiden Mörder ihr Leben und das der Kumpanin Zschäpe. Mundlos und Böhnhardt erbeuteten mehr als 600 000 Euro. Zschäpe fügte der Serie von Verbrechen noch die schwere Brandstiftung in Zwickau hinzu, kurz nachdem sie vom Tod ihrer Freunde erfahren hatte. Eine gebrechliche Nachbarin geriet bei dem Feuer in Lebensgefahr. Vier Tage später, am 8. November 2011, stellte sich Zschäpe in Jena der Polizei.

Die geschilderten Taten sind der Kern dessen, was im NSU-Komplex als gesichert oder zumindest plausibel gelten kann. Das meiste steht auch so in der Anklage der Bundesanwaltschaft gegen Beate Zschäpe, den Ex-NPD-Funktionär Ralf Wohlleben sowie Carsten S., Holger G. und André E. Er hatte wahrscheinlich bis zuletzt Kontakt zur Terrorzelle.

OFFENE FRAGEN

Auch dreieinhalb Jahre nach Beginn des NSU-Prozesses in München und trotz mehrerer Untersuchungsausschüsse in Bundestag und Landtagen sowie weiterer Kommissionen von Fachleuten bleibt vieles unklar. Es beginnt schon mit der Zeit vor dem Tag der Flucht von Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe. Offen ist, ob die beiden Männer alleine oder mit Zschäpe in der Garage Sprengsätze gebastelt hatten. Unverständlich bleibt zudem die fatale Panne der Polizei bei der Razzia am 26. Januar 1998. Anstatt den bereits aufgesuchten Böhnhardt zur Garage mitzunehmen oder zumindest bis zum Ende der Durchsuchung im Auge zu behalten, ließen die Beamten den als gefährlich bekannten Neonazi gehen. Böhnhardt verschwand, wie offenbar länger geplant, mit seiner Freundin Zschäpe und Mundlos nach Chemnitz. Dieses Versäumnis hat zehn Menschen das Leben gekostet.

Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe, aufgenommen im Jahr 2004.
Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe, aufgenommen im Jahr 2004.

© dpa

Weitere Fehler der Behörden kamen hinzu. Polizei, Staatsanwaltschaften und Verfassungsschutz hätten den drei gesuchten, immerhin als Bombenbauer verdächtigten Rechtsextremisten auf die Spur kommen können – wenn beispielsweise Ralf Wohlleben, der mutmaßliche Komplize des NSU, lange genug observiert worden wäre. Wohlleben war offenbar eine Schlüsselfigur im Unterstützerumfeld. Er soll die Beschaffung der Mordwaffe Ceska 83 eingefädelt und die ersten Jahre Kontakt zu den Untergetauchten gehalten haben, bis hin zu konspirativen Treffen. Ein V-Mann des Thüringer Verfassungsschutzes, offenbar der Neonazi-Anführer Tino Brandt, meldete mehrfach, Wohlleben unterstütze die Verschwundenen. Doch Wohlleben wurde nur tageweise überwacht. Warum? Rätselhaft ist zudem heute noch, wie die Terrorzelle die Mordopfer ausgesucht hat. Auch nach der Vernehmung von mehr als 500 Zeugen im NSU-Prozess ist diese Frage, die vor allem die Familien der Toten quält, nicht beantwortet.

Ein undatiertes Foto des Bundeskriminalamtes zeigt Uwe Mundlos.
Ein undatiertes Foto des Bundeskriminalamtes zeigt Uwe Mundlos.

© dpa

Und: warum Mundlos und Böhnhardt nach zehn Morden nicht weiter schossen und sprengten, bleibt nebulös. Ebenso wie der Wechsel in der Strategie. Wieso töteten die Neonazis nach neun Migranten eine Polizistin? Und warum kam bei dem Attentat in Heilbronn nicht mehr die Ceska 83 zum Einsatz? Agierten Mundlos und Böhnhardt im Fall Kiesewetter alleine? Der Vorsitzende des zweiten NSU-Untersuchungsausschusses im Bundestag, Clemens Binninger (CDU), hält mehr als zwei Täter für möglich. Auch bei weiteren Morden.

KONSEQUENZEN DES SKANDALS

Angesichts der vielen Mängel in der Kooperation der Sicherheitsbehörden im NSU-Komplex bildeten die Innenminister von Bund und Ländern noch Ende 2011 das Gemeinsame Abwehrzentrum gegen Rechtsextremismus/-terrorismus (GAR). Hier kamen Polizei und Nachrichtendienste an einen Tisch. Das GAR ging dann 2012 in dem noch größeren Informationsverbund Gemeinsames Extremismus- und Terrorismusabwehrzentrum (GETZ) auf. Die Sicherheitsbehörden untersuchen heute schneller, ob Umtriebe gewaltbereiter Rechtsextremisten in Terror umschlagen können. Ein Beispiel ist der Fall „Oldschool Society (OSS)“. Die Gruppe bildete sich über bundesweite Kontakte von Rassisten bei Facebook und WhatsApp. Das Bundesamt für Verfassungsschutz bekam es rechtzeitig mit, im Mai 2015 wurde die OSS ausgehoben.

De Prozess gegen die Hauptangeklagte Beate Zschäpe dürfte 2017 enden.
De Prozess gegen die Hauptangeklagte Beate Zschäpe dürfte 2017 enden.

© dpa

Eine weitere gravierende Konsequenz aus dem NSU-Schock ist das zweite Verbotsverfahren gegen die NPD. Im Dezember 2013 reichte der Bundesrat den Antrag beim Bundesverfassungsgericht ein. Bundestag und Regierung halten sich im Unterschied zum ersten Verfahren abseits. Die Chancen, dass die Karlsruher Richter anders als 2003 die NPD verbieten, sind schwer zu kalkulieren. Schon im Februar 2012 sagte der damalige Generalbundesanwalt Harald Range, „es ist nach unseren Erkenntnissen nicht so, dass die NSU der militante Arm der NPD wäre“. Der Bundesrat hofft dennoch, dem Verfassungsgericht werde die braune Agitation der Partei für ein Verbot genügen.

BLICK NACH VORN
Der NSU-Prozess in München dürfte im nächsten Jahr enden. Zschäpe muss damit rechnen, dass der Strafsenat sie, wie von der Bundesanwaltschaft gefordert, als Mitglied des NSU und damit als Mittäterin aller Verbrechen der Terrorzelle verurteilt. Hohe Strafen drohen auch den meisten Mitangeklagten. Offen bleibt, ob die weiteren neun Beschuldigten im NSU-Komplex, sie sind mutmaßliche Unterstützer der Terrorzelle, angeklagt werden. Und ob die Sicherheitsbehörden es schaffen, das Umfeld des NSU jemals komplett auszuleuchten. Im Februar 2012 versprach Angela Merkel bei ihrer Gedenkrede für die Opfer und ihre Angehörigen: „Wir tun alles, um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen.“ Dass sich die Worte der Kanzlerin bewahrheiten, erscheint fünf Jahre nach dem Ende des NSU jedoch zweifelhaft.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false