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Der Stuttgarter Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) wirbt in der Provinz Fukushima für erneuerbare Energien. Das findet der Gouverneur auch gut. Nur seine Regierung in Tokio findet Atomkraft immer noch besser.

© dpa

Fukushima: Die fast vergessene Katastrophe

Baden-Württembergs Ministerpräsident Kretschmann besucht die Krisenregion. Er wirbt für die Energiewende, doch Japan hält an der Atomenergie fest.

Eine „Insel des Glücks“ mit fantastischer Natur und tollen Freizeitmöglichkeiten verspricht das bunte Magazin, das die Tourismusmanager für den Gast aus Baden-Württemberg ausgelegt haben. Im Innenteil bedankt sich Gouverneur Yuhei Sato für die weltweite Hilfe nach dem „Erdbeben“. Sein Grußwort endet mit dem Satz: „Wir können es kaum erwarten, dass Sie unsere Heimat besuchen – Fukushima.“

Die Fotos, die Setsuko Kida ins „Fukushima View Hotel“ in der Provinzhauptstadt Fukushima, 60 Kilometer vom gleichnamigen Unglücksreaktor entfernt, zum Gespräch mit Baden-Württembergs Regierungschef Winfried Kretschmann mitgebracht hat, zeigen eine andere Welt: Berge schwarzer Müllsäcke mit kontaminiertem Laub. Verlassene Häuser. Kahle Landschaften. Es ist das düstere Fukushima der Atomkatastrophe, das in keine Werbebroschüre passt. Kida, Anti-Atomkraft-Sticker am Revers, hat aufgrund der Strahlung ihr Zuhause verloren und das Vertrauen in die japanische Politik, die nukleare Gefahren jahrzehntelang verneint hatte. „Die Menschen, die weiter weg wohnen, haben Fukushima schon wieder vergessen“, sagt sie.

Kretschmann ist nach Fukushima gereist, um die Anteilnahme der Deutschen für die Betroffenen zu bekunden. Es ist ein Besuch mit Symbolkraft. Es ist aber auch der vorläufige Höhepunkt einer Geschichte mit offenem Ende.

Die Geschichte hat einen langen Vorlauf. Die entscheidende Wende nimmt sie am 11. März 2011, als die Unfallserie in Fukushima beginnt. Da führt Kretschmann im fernen Stuttgart eine Zehn-Prozent-Partei in die Endphase des Landtagswahlkampfs. Umfragen sagen Amtsinhaber Stefan Mappus (CDU) trotz der Proteste gegen Stuttgart 21 einen knappen Sieg voraus. Nach Fukushima sind die Prognosen Makulatur. Der Regierungschef hatte sich in den Vormonaten vehement für eine Laufzeitverlängerung der deutschen Meiler starkgemacht. Wenn Mappus bis zur Wahl am 27. März noch etwas retten könne, so die Hoffnung seiner Berater, dann nur ein radikaler Kurswechsel. Kurz darauf verkündet Kanzlerin Angela Merkel (CDU) die Energiewende.

Kretschmann dagegen muss nur Kurs halten. Am 14. März 2011 beginnt er seine Wahlrede erstmals mit Japan. Es ist ein Balanceakt. Er will nicht als Profiteur der Katastrophe dastehen. Aber sein Thema will er sich auch nicht nehmen lassen. Schließlich gehört der Atomausstieg zum Grundinventar der grünen Partei, die Kretschmann einst mitbegründet hat. Fukushima, sagt er, zeige auf tragische Weise, wie wichtig der schnelle Ausstieg sei. Als er gefragt wird, ob die Grünen von der Katastrophe profitieren könnten, sagt er: „Nein. Wenn wir profitieren, dann von unserer Weitsicht.“ Der Balanceakt gelingt. Kretschmann gewinnt die Wahl und der Ausstieg eine breite Mehrheit.

Zwei Jahre später repräsentiert der 65-Jährige nicht nur das erste grün regierte Bundesland. Nach Japan reist er als amtierender Bundesratspräsident, er fliegt in derselben Maschine der Flugbereitschaft, in der Merkel zwei Wochen zuvor deutsche Soldaten in Afghanistan besucht hat. Er ist nun das Gesicht einer Republik, die den Atomausstieg im Konsens beschlossen hat. Seine Gastgeber aber bereiten sich darauf vor, dass bald wieder Atommeiler ans Netz gehen.

56 Reaktoren waren in Japan vor Fukushima in Betrieb. Aktuell sind es zwei. Die Bevölkerung sieht die Atomenergie seit dem März 2011 mehrheitlich kritisch. Trotzdem hat sie Ende 2012 den atomfreundlichen Shinzo Abe zum Premier gewählt. Die jüngsten Unterhauswahlen hat seine LDP gewonnen. Der Schock von Fukushima hat Japan verunsichert. Den Atomausstieg aber hat er nicht gebracht.

„Premier Abe will wieder Atomkraftwerke in Betrieb nehmen“, ärgert sich Yuji Kuroiwa, Gouverneur von Baden-Württembergs Partnerprovinz Kanagawa. Kuroiwa war ein populärer Nachrichtenmoderator, der Claus Kleber Japans. Nach Fukushima kandidierte er mit dem Versprechen einer Energiewende für den Gouverneursposten – und gewann. „Ich will von Kanagawa aus die Energierevolution starten“, verkündet er nun, und dass sein Konzept exportfähig sei. Kuroiwa redet, als wäre er noch immer auf Sendung, und Kretschmann hält mit Baden-Württembergs Anstrengungen dagegen. Es ist ein Wettstreit unter Gleichgesinnten auf einem Gebiet, das sie als Markt der Zukunft sehen. Er sei sich sicher, sagt der Deutsche, dass grüne Innovationen zu „einer neuen Leittechnologie“ werden. Es sei entscheidend, dass die Energiewende „nicht nur ökologisch, sondern auch ökonomisch ein Erfolg wird“, fährt Kretschmann fort. Der Eindruck, den er selbst aus den vielen Gesprächen in Japan mitnimmt, formuliert er so: „Japan befindet sich bei der Energiefrage in einem Suchprozess. Wo die Reise hingeht, ist noch nicht entschieden.“

Dem sendungsbewussten Gouverneur Kuroiwa und Plänen, vor der Küste von Fukushima den weltweit größten Offshore-Windpark zu bauen, zum Trotz: Ein klares Konzept für die völlige Abkehr von der Atomkraft ist in Japan nicht erkennbar. Es gibt keinen liberalisierten Strommarkt, keinen Einspeisevorrang für erneuerbare Energien, nicht einmal ein einheitliches Stromnetz. Dafür gibt es teure Gasimporte als Ersatz für den Atomstrom. Um Japans Wirtschaft anzukurbeln, schwächt Abe den Yen. Das fördert die Exportfähigkeit, macht aber zugleich die Energieeinfuhren noch teurer – und verstärkt so den wirtschaftlichen Druck, die alten Meiler wieder anzuwerfen.

Wie Kretschmann sieht auch Abe auf dem Energiesektor Exportchancen – aber für die Atomwirtschaft. In der Türkei, in China, Südkorea oder Indien wird in neue Anlagen investiert und japanische Firmen mischen auf dem Markt mit. Fukushima hat Deutschland erschüttert. Die Atomwelt aber dreht sich in Japan scheinbar wieder wie vor dem März 2011.

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