zum Hauptinhalt
Raju Prasad Lamichhane, Mun Maya und Dilli, Angehörige eines der auf einer WM-Baustelle in Doha getöteten Nepalesen, sitzen in ihrem halbfertigen Haus in der Hauptstadt Kathmandu und trauern um ihren Bruder beziehungsweise Sohn.

© Reuters

Fußballweltmeisterschaft Katar: Leichte Beute

Die Armut in Asien führt zum Massenexodus. Die Regierungen kennen das Problem, tun aber nichts – im Gegenteil. Sie profitieren davon, dass Auswanderer in den Golfstaaten ihr Leben und ihre Gesundheit aufs Spiel setzen.

Wie oft hat er sich gewünscht, dass er Nepal nie verlassen hätte. Doch der Arbeitsvermittler malte die Zukunft in rosigsten Farben. Am Ende war die Hoffnung auf ein besseres Leben stärker als die Angst vor der Fremde. Laxmi Kaderi ging nach Dubai und besserte dort Straßen aus. Die Arbeit war hart, der Lohn karg, aber er verdiente mehr als zu Hause.

Er schickte Geld heim, um seine Familie zu unterstützen. Er träumte davon, eines Tages sogar ein Haus zu bauen. Bis zu dem Tag, an dem der Unfall passierte. Laxmi Kaderi kehrte, kaum 30-jährig, als Krüppel zurück. Seine linke Körperhälfte kann er nicht mehr gebrauchen, sein linkes Bein ist voller Schrauben, Nägel und Platten. Nun schleppt er sich mit einer Krücke vorwärts.

Gerade mal ein Jahr war er im Ausland. Das Geld, das er verdiente, reichte nicht einmal, um die Schulden abzubezahlen, die er aufnahm, um Flug und Visa zu bezahlen. Besonders erbittert ihn jedoch, wie er in seinem Heimatland behandelt wurde. Obwohl er die Prämie für eine Unfallversicherung zahlte, bekam er keine Entschädigung – weil er kein Körperteil verloren habe, beschied ihn die zuständige Behörde.

Dabei hatte er noch Glück. Jeden Tag kommen am Internationalen Flughafen von Kathmandu zwei, drei, vier Särge mit Leichen an. Die britische Zeitung „Guardian“ warf nun ein Schlaglicht auf die Ausbeutung von bitterarmen Migranten im reichen Katar, das die Fußball-Weltmeisterschaft 2022 ausrichtet. Danach sind allein diesen Sommer 44 nepalesische Gastarbeiter gestorben.

Doch die Missstände gehen weit über Katar hinaus. Und: Sie sind seit Jahren bekannt. Bereits 2011 hat Amnesty International Nepal das Schicksal von Kaderi und anderen nepalesischen Migranten in einem Video dokumentiert. Passiert ist so gut wie nichts – auch weil die Regierungen der Heimatländer tatenlos bleiben.

Zu Hunderttausenden verlassen verzweifelte Menschen jedes Jahr Nepal, Indien, Bangladesch, Pakistan, Sri Lanka oder die Philippinen, um sich in reicheren Staaten als Gastarbeiter zu verdingen. Sie gehen in die Golfstaaten, nach Saudi-Arabien, nach Malaysia. Es ist ein gewaltiger Exodus von Armutsflüchtlingen, die in der Fremde oft weitgehend schutz- und rechtlos sind.

Allein im vergangenen Jahr zog es 450 000 Nepalis in die Fremde. Tendenz steigend. Insgesamt arbeiten nach Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) heute zwei Millionen der knapp 30 Millionen Nepalis im Ausland. Ähnlich sieht es in den Nachbarstaaten aus. Mehr als 30 Millionen Inder arbeiten außerhalb des Landes, viele in der Golfregion.

Die Zustände in Nepal sind symptomatisch. Der kleine Himalayastaat, den Westler als Urlaubs- und Bergsteigerregion kennen, zählt zu den ärmsten Ländern der Welt. Die meisten Menschen leben notdürftig von dem, was sie selbst anbauen. Je nach Definition verharren 25 bis 40 Prozent in bitterer Armut. 45 Prozent sind Analphabeten. Die Zustände auf dem Land sind mittelalterlich. Viele Hütten sind aus Holz, Stein und Lehm zusammengezimmert. Als Dach dient oft Stroh, durch das im Winter der kalte Wind pfeift. Gekocht wird auf offenem Feuer.

22 Jahre beträgt das Durchschnittsalter. Doch es fehlt an Arbeit für die Jungen. Fast jeder zweite Nepalese ist ohne Perspektive. Die einzige Chance, dem Elend zu entkommen, ist meist ein Job im Ausland. Die überwiegende Zahl der Migranten stammt aus armen ländlichen Regionen. Sie hoffen, dass sie mit den besseren Einkommen in der Fremde ihre Familien unterstützen können.

So fliehen junge Menschen in Scharen. Und die Regierung unterstützt den Exodus. Die Migranten halten nicht nur ihre Familien über Wasser. Sie sind eine der wichtigsten Säulen der Wirtschaft. Nepals Gastarbeiter tragen inzwischen 22 Prozent zum Bruttosozialprodukt bei.

Und sie halfen, die Armut von rund 42 Prozent im Jahr 1996 auf nun 25,2 Prozent zu drücken. Doch die Migranten zahlen einen hohen Preis. Die Männer schuften sich für Billiglöhne als Hilfsarbeiter am Bau oder in Fabriken halb zu Tode, die Frauen dienen teilweise unter sklavenähnlichen Bedingungen als Hausmädchen, Nannys oder Pflegerinnen in Privathaushalten. Und manche enden auch als Prostituierte.

Schuld an der Misere sind nicht allein die Gastländer. Auch die Herkunftsländer nehmen die Ausbeutung oft wissentlich in Kauf. Sie lassen skrupellose Anwerbefirmen gewähren, die die Menschen mit falschen Versprechungen in die Fremde und in eine Schuldenfalle locken. Zu Tausenden schwärmen ihre Agenten in Nepal in die Dörfer aus und versprechen das Blaue vom Himmel.

Die Dorfbewohner, die oft gar nicht wissen, wo Dubai oder Katar liegen, die kaum schreiben und lesen können, sind für die modernen Menschenhändler eine leichte Beute. „Der Agent verspricht ihnen eine wundervolle Zukunft für ihre Familie“, sagt Tim Noonan vom Internationalen Gewerkschaftsbund. „Und dann ist die Realität ganz anders.“

Studien belegen, dass ein Großteil der Ausbeutung bereits in den Anwerbepraktiken in den Herkunftsländern begründet liegt. Im Durchschnitt 1200 Dollar berechnen die Arbeitsvermittler für ihre Dienste. Das ist in Nepal ein Vermögen. Die meisten Migranten verschulden sich auf Jahre, zumal sie oft noch Zinssätze von bis zu 60 Prozent bezahlen müssen. Die Arbeiter sind in einer Schuldenspirale gefangen.

Nach Ansicht von Kritikern wie der Internationalen Arbeitsorganisation laufen viele dieser Arbeitsverhältnisse auf Zwangsarbeit oder Schuldknechtschaft hinaus. Doch obwohl die Regierungen der Herkunftsländer seit Jahren um die Missstände wissen, tun sie kaum etwas. Zwar bezeichnete die Botschafterin Nepals in Katar, Maya Kumari Sharma, den Staat nun als „offenes Gefängnis“ für Nepalis. Doch sie wurde prompt ausgewechselt.

Und Nepal beeilte sich, Katar zu besänftigen. Man werde den Strom an Migranten nicht stoppen, nur weil diese Ausbeutung jetzt in den Medien hervorgehoben wurde, sagte Buddhi Bahadur Khadka vom Nepalesischen Arbeitsministerium Journalisten. „Wir können es nicht stoppen, weil das die einzige größere Beschäftigungschance für die Mehrheit von Nepals Jugend ist.“

Vor allem wollen die Regierungen nicht auf das Geld verzichten, das die Migranten in die Heimat zurücksenden. Für sie sind die Gastarbeiter im Ausland eine wichtige Geldquelle. Und noch etwas lässt die Kritik eher leise ausfallen: Viele der Herkunftsländer behandeln ihre Armen selbst nicht besser.

Schuldknechtschaft, Leibeigenschaft, Menschenhandel und katastrophale Arbeitsbedingungen – all das findet sich auch in den Staaten Südasiens. In Indien, Bangladesch und Pakistan sind die meisten Zwangsarbeiter der Welt beschäftigt. Tote auf Baustellen und in Fabriken sowie versklavte Hausdiener sind Alltag. Ein Menschenleben zählt wenig in Südasien, das Leben der Armen noch weniger. „Niemand interessiert, ob wir sterben oder getötet werden. Unser Leben ist nichts wert“, sagt eine Nepalesin, die als Hausmädchen in Dubai war. Frauen sind noch schutzloser, weil sie in privaten Haushalten arbeiten. Immer wieder liest man Horrorgeschichten von Frauen, die mit heißen Eisen gebrandmarkt, mit kochendem Wasser übergossen oder vergewaltigt wurden. „Man behandelt uns wie Vieh. Vieh ist vermutlich kostbarer als wir.“

Suhas Chakma, Direktor des Asiatischen Zentrums für Menschenrechte, sieht die Regierungen der Herkunftsländer in der Pflicht. Diese müssten Druck auf die Gastländer ausüben, Mindeststandards einzuhalten. „Seit Jahren sterben nepalesische Gastarbeiter aufgrund unmenschlicher Arbeitsbedingungen, aber erst jetzt wird wegen der WM darüber berichtet.“

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false