zum Hauptinhalt
„Iftar auf dem Boden“, das Fastenbrechen ohne Tische und Stühle, ist die jüngste Aktionsform der Regierungsgegner. Foto: rtr

© REUTERS

Politik: Futtern für die Freiheit

Fromme Muslime erfinden im Ramadan eine neue Protestform gegen Erdogan.

Istanbul - Es gibt selbst gemachte Butterbrote und Kartoffelsalat, serviert auf alten Zeitungen und Plastiktischdecken, die auf dem Boden ausgebreitet werden. Kurz vor Sonnenuntergang versammeln sich im kleinen Park des Istanbuler Stadtteils Yeniköy einige Helfer und rund 300 Gäste zum Iftar, der Mahlzeit des allabendlichen Fastenbrechens im islamischen Fastenmonat Ramadan. Doch der Iftar in Yeniköy ist mehr als ein Picknick im Park – er ist eine politische Botschaft gegen die Regierung Erdogan.

Als einzige ausgiebige Mahlzeit der Gläubigen an einem Ramadan-Tag wird der Iftar oft aufwendig zelebriert. Prunkvolle Iftar-Empfänge in den Luxus-Hotels von Istanbul und Ankara sind Tummelplätze der türkischen Elite und Bühne für Spitzenpolitiker. Doch in Yeniköy ist alles anders. Betont einfach geht es zu, selbst Stühle und Tische fehlen. Promis und Sponsoren erst recht.

„Iftar auf dem Boden“ nennt sich diese Form des Fastenbrechens. Sie ist eine Erfindung der „Antikapitalistischen Muslime“, einer Gruppe frommer Türken, die den Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan aus islamischer Sicht und gewaltlos attackiert. „Hier herrscht Gleichheit, alle sitzen auf dem Boden, egal, aus welcher sozialen Schicht oder Klasse sie kommen“, sagt Özgür Kivanc von den „Antikapitalistischen Muslimen“. Erdogans Islam dagegen ignoriere die sozialen und liberalen Grundsätze der Religion. „Der Islam ist gegen Kapitalismus und persönliche Bereicherung“, sagt Kivanc. Unter Erdogan ist eine neue, fromme Mittelschicht in der Türkei zu Geld und Einfluss gekommen, was den gläubigen Antikapitalisten ein Graus ist. Aus ihrer Sicht macht Wirtschaftsfreund Erdogan so ziemlich alles falsch. Folgerichtig unterstützte Kivancs Gruppe die landesweite Protestbewegung im Juni, die durch Demonstrationen gegen ein Bauprojekt der Regierung im Istanbuler Gezi-Park ausgelöst wurde. Ein „Iftar auf dem Boden“ im Gezi-Park unterband Istanbuls Polizei am Wochenende.

Die überwiegend säkuläre Protestbewegung hat die fromme Idee des „Iftars auf dem Boden“ begeistert aufgenommen, weil sie darin ein neues Forum für ihre Kritik an Erdogan erkennt. „Das hier ist kein Sultansmahl“, sagt Gamze Saglik, eine 27-jährige Frau aus Yeniköy, die den Iftar im Park mitorganisiert hat. „Flambiertes Obst gibt’s hier nicht“, sagt einer ihrer Helfer stolz.

Im türkischen Ramadan ist damit auch beim Iftar die Trennlinie zwischen Anhängern und Gegnern der Regierung scharf gezogen. Auf die Frage, was er tun würde, wenn Staatspräsident Abdullah Gül unangemeldet bei einem „Iftar auf dem Boden“ auftauchte, antwortet der antikapitalistische Muslim Kivanc lächelnd: „Natürlich wäre er willkommen wie jeder andere auch“, sagt er. „Wir hätten ihm einiges zu erzählen.“ Thomas Seibert

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false