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Die britische und die europäische Flagge vor dem Europe House in London.

© Reuters

Gastbeitrag des britischen Außenministers: Wir wollen Vertrauen zurückgewinnen

Weil die EU sich verändert hat, brauchen wir ein Referendum. Und wir wollen Reformen, die allen Mitgliedstaaten helfen. Ein Gastbeitrag.

In ganz Europa haben Anti-EU-Parteien in den letzten Jahren enorme Zugewinne verbuchen können – bei lokalen, nationalen und europäischen Wahlen. Hierauf müssen wir reagieren, indem wir die EU demokratischer machen und ihr bessere Möglichkeiten geben, Wachstum und Beschäftigung zu schaffen – wie die Bürger es von ihr erwarten.

Seit dem Beitritt Großbritanniens hat sich die EU bis zur Unkenntlichkeit verändert. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wurde die EU um 16 neue Mitglieder erweitert, der Euro wurde eingeführt, und EU-Vorschriften regeln inzwischen unsere Angelegenheiten in vielen Bereichen von der Umwelt- bis hin zur Sozialpolitik. Zweifelsohne hat die EU-Mitgliedschaft Großbritannien in mancher Hinsicht eindeutige Vorteile gebracht. Aber in anderer Hinsicht hat sie zu einem Verlust von nationaler Souveränität und einer Zunahme der bürokratischen Belastung der Wirtschaft geführt, sodass unsere Mitgliedschaft inzwischen nur noch von einer hauchdünnen Mehrheit der britischen Bevölkerung unterstützt wird.

Fit für das 21. Jahrhundert

Was also erwartet die britische Regierung von diesen Verhandlungen? Um das Vertrauen der britischen Bevölkerung in die EU zurückzugewinnen, müssen wir uns in Zusammenarbeit mit unseren europäischen Partnern auf ein Paket von Reformen einigen, das die EU fit macht für das 21. Jahrhundert – Reformen, die nicht nur Großbritannien, sondern allen 28 Mitgliedstaaten zugutekommen.

Erstens sehen wir uns, was Arbeitsplätze und Wachstum anbelangt, mit der unbequemen Wahrheit konfrontiert, dass das Wachstum der EU weit unter der Rate liegt, mit der die Arbeitslosigkeit auf ein akzeptables Niveau gesenkt werden kann, und dass es nicht nur von Asien, sondern auch von den USA übertroffen wird. Wenn wir den europäischen Lebensstandard aufrechterhalten wollen, müssen wir unseren Unternehmen die Chance geben, international wettbewerbsfähiger zu werden, indem wir den Binnenmarkt besonders in den Bereichen Dienstleistungen, Digitalwirtschaft und Energie ausbauen. Wir müssen offen für den Welthandel sein und Handelsabkommen mit den USA, Japan und anderen Industrieländern wie auch mit den wachstumsstarken Staaten Asiens und Südamerikas schließen. Und wir müssen ein Regelungsumfeld gestalten, das die Wirtschaft bei der Schaffung von Wachstum und Arbeitsplätzen unterstützt, anstatt sie zu behindern.

Konzept eines Zwei-Säulen-Europas

Zweitens wünschen wir uns Reformen, die es Ländern ermöglichen, eine Integration voranzutreiben, wenn sie dies wünschen, und gleichzeitig die Interessen derer respektieren, die dies nicht wollen. Das gilt besonders für die Euro-Zone: Großbritannien will einer weiteren Integration nicht im Wege stehen – wir befürworten sie sogar –, aber wir brauchen die Garantie, dass die Interessen der Nicht-Euro-Länder geschützt werden. Dieses Konzept eines Zwei-Säulen-Europas, bei dem das Verhältnis zwischen Euro-Ländern und Nicht-Euro-Ländern – innerhalb des Binnenmarkts und mit den gleichen Institutionen – klar definiert ist, haben wir auch schon in Form der Architektur des Schengen-Raums und der Bankenunion, und es ist vorteilhaft für alle. Es lässt eine weitere Integration der Euro-Zone zu und respektiert die Interessen der Mitgliedstaaten, die ihr nicht angehören. Und es trägt der Tatsache Rechnung, dass das Konzept eines immer engeren Zusammenschlusses manchen Mitgliedstaaten zusagt, aber nicht für alle Mitgliedstaaten das richtige ist.

Drittens sind wir der Ansicht, dass die nationalen Parlamente ein größeres Mitspracherecht erhalten sollten. Dadurch würde nicht nur ein besserer Draht zwischen den Bürgern und den Beschlüssen der EU hergestellt, sondern auch das Subsidiaritätsprinzip – wonach Beschlüsse möglichst bürgernah gefasst werden müssen – konsequent umgesetzt. Zu oft ist die EU in Bereichen tätig geworden, in denen die Politik auf nationaler, regionaler oder lokaler Ebene gemacht werden könnte, ohne dass die Arbeitsweise des Binnenmarktes oder das effektive Funktionieren der EU davon beeinträchtigt würden. Wir wollen die Rolle der nationalen Parlamente stärken, zum Beispiel, indem wir für die Zukunft die Möglichkeit schaffen, dass einige sich zusammenschließen und gemeinsam Vorschriften blockieren können. Die EU muss die Ebenen des Regierens respektieren, die den Bürgern Europas am nächsten sind und die sie am besten zur Rechenschaft ziehen können. Wir stimmen der niederländischen Regierung zu: „Europäisch wo nötig, national wo möglich.“

Wir wollen unseren Partnern zuhören

Viertens akzeptieren wir, dass die Personenfreizügigkeit eine der vier Grundfreiheiten der EU ist, und diese Freiheit wollen wir mit unseren Verhandlungen auch nicht einschränken. Aber wir wollen das britische Sozialsystem gegen Missbrauch schützen und die Anreize verringern, die hoch qualifizierte Arbeitnehmer nach Großbritannien locken, um niedrig qualifizierte Jobs anzunehmen. Dies untergräbt in den Herkunftsländern das Wirtschaftswachstum und in den Zielländern den Glauben an die Fairness der Freizügigkeit. Wir müssen auch die anderen Freiheiten weiterentwickeln – insbesondere den freien Dienstleistungs- und Kapitalverkehr, damit nicht nur die Personenfreizügigkeit ihren Beitrag zur Konvergenz der Lebensstandards in Europa leistet.

Diese Reformen gehen wir konstruktiv und engagiert an. Wir wollen unseren Partnern zuhören und Reformen verabschieden, die allen Mitgliedstaaten helfen, im 21. Jahrhundert zu wachsen und zu gedeihen.

Philip Hammond.
Philip Hammond.

© Reuters

Wir werden ein Reformpaket aushandeln und dann die britischen Bürger spätestens Ende 2017, wenn möglich schon früher, in einem klaren Referendum über Austritt oder Verbleib um ihre Meinung fragen.

Es steht viel auf dem Spiel: Großbritannien ist eine große und offene Volkswirtschaft mit einer langen Geschichte und einer wichtigen Rolle auf den Weltbühne, wodurch es einen enormen Beitrag zum Erfolg Europas leisten kann. Wenn wir die Probleme lösen können, die die britische Bevölkerung so sehr beunruhigen, und im Referendum ein Ja-Votum bekommen, wäre die Frage unseres Platzes in Europa geklärt und Großbritannien könnte in Zukunft eine engagierte Rolle in einer EU spielen, die wettbewerbsfähiger, wohlhabender, offener und selbstbewusster sein wird.

Dies ist ein Ergebnis, das wirklich im Interesse der Europäer auf beiden Seiten des Ärmelkanals sein wird.

Philip Hammond ist britischer Außenminister.

Philip Hammond

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