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Demonstranten verbrennen in Barcelona Porträts von Spaniens König Felipe VI..

© dpa/Emilio Morenatti

Gastbeitrag des spanischen Ministerpräsidenten: Der Nationalismus der Separatisten darf die spanische Demokratie nicht zerstören

Durch Fake-News wurde die Separatistenbewegung befeuert. Ihre Anführer müssen sich wieder auf den Boden der Verfassung stellen. Ein Gastbeitrag.

Pedro Sánchez ist spanischer Ministerpräsident. Von Juli 2014 bis Oktober 2016 war und seit Mai 2017 ist Sánchez Generalsekretär und somit Parteivorsitzender des Partido Socialista Obrero Español.

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Europa ist vor allem Freiheit, Frieden und Fortschritt. Diese Werte gilt es voranzutreiben und Europa zu einem führenden Modell für Integration und soziale Gerechtigkeit zu machen, in dem seine Bürger Schutz finden. Das Europa, das wir anstreben, brauchen und aufbauen, gründet auf demokratischer Stabilität in den Mitgliedstaaten und kann den einseitigen Verstoß gegen seine Integrität nicht akzeptieren. Das Europa, das wir bewundern, wurde auf dem Prinzip überlappender Identität und Gleichheit für alle Bürger sowie auf der Ablehnung nationalistischer Ideologien und Extremismus aufgebaut.

Aus diesem Grund ist die Herausforderung durch den Separatismus in Katalonien auch eine Herausforderung für Europa und die Europäer, weil er sich gegen Spaniens verfassungsrechtlichen Rahmen richtet und außerhalb dieses Rahmens ersonnen wurde. Die Wahrung der eingangs erwähnten Werte im heutigen Katalonien bedeutet, jenes offene und demokratische Europa zu schützen, für das wir stehen.

Diese Werte wurden in Spanien im Jahr 1978 gesetzlich verankert, als man eine vollkommen demokratische Verfassung ausarbeitete und verabschiedete. Dieses historische Dokument fand im Rahmen eines Referendums die Zustimmung von beinahe 88 Prozent aller Wähler. In Katalonien waren Unterstützung und Wahlbeteiligung sogar noch höher: etwa 90,5 Prozent der Katalanen unterstützten die neue Verfassung.

Spanien entkam so dem langen und dunklen Schatten der Diktatur und legte den Grundstein für einen Staat auf Grundlage der Rechtsstaatlichkeit, der heute mit den lange bestehenden Demokratien Westeuropas mithalten kann. Spanier unterschiedlicher Überzeugungen und Herkunft - darunter auch viele Katalanen – kämpften und siegten für die Wiederherstellung individueller Freiheiten. Die Verfassung von 1978 lieferte auch eine innovative und fortschrittliche Antwort auf die territoriale Vielfalt Spaniens, indem sie diese als einen echten Vorteil betrachtete, der Anerkennung verdient. Etwa 40 Jahre später wird Spanien in dem vom Wochenmagazin The Economist veröffentlichten Demokratie-Index als eine von weltweit 20 vollkommenen Demokratien eingestuft.

Katalonien genießt einen der höchsten Grade an regionaler Selbstverwaltung

Das heutige Spanien ist das am zweitstärksten dezentralisierte Land Europas und Katalonien genießt einen der höchsten Grade an regionaler Selbstverwaltung auf dem ganzen Kontinent. Dazu gehören weitreichende autonome Zuständigkeiten in entscheidenden Sektoren wie Medien und öffentliche Kommunikation, Gesundheit, Bildung und Gefängnisse.

Heute steht Katalonien jedoch nicht nur für die auf der ganzen Welt hochgeschätzte Kreativität und Eigeninitiative, sondern auch für eine tiefe Krise, aufgrund des von den Separatistenführern im Herbst 2017 initiierten einseitigen Verstoßes gegen die spanische Verfassungsordnung. Die katalanische Führung verstieß gegen sämtliche Auflagen und Beschlüsse des Verfassungsgerichtshofs, verabschiedete ein verfassungswidriges Gesetz über die „Trennung“ vom spanischen Staat, hielt ein illegales Referendum ab und rief eine so genannte Katalanische Republik aus. 

Kein Demokrat sollte den von den Separatistenführern eingeschlagenen Weg unterstützen

Kein Staat würde jemals die einseitige Abspaltung eines Gebietes erlauben, das Teil seiner verfassungsmäßigen Ordnung ist. Und kein Demokrat sollte den von den Separatistenführern eingeschlagenen Weg unterstützen, die bei den Regionalwahlen weniger als 48 Prozent der abgegebenen Stimmen erhielten. Ihre betrügerische Unabhängigkeitskampagne entfachte den Zorn der Menschen und förderte – mit Unterstützung von absichtlich verbreiteten Fake News – ein tiefes Gefühl der Ungerechtigkeit und Konfrontation gegenüber dem Rest Spaniens. Wo waren die Stimmen und das Votum der Mehrheit der Katalanen, die sich gegen die Unabhängigkeit aussprachen? Wo war die Stimme der Spanier, die zu fassungslosen Zeugen eines direkten Bruches ihrer verfassungsmäßigen Garantien wurden?

Meine Regierung zeichnet sich dadurch aus, die Ausweitung von Rechten und Freiheiten an vorderste Stelle zu stellen. Internationale Organisationen haben die hohen Standards anerkannt, die wir in Bereichen wie der Gleichstellung der Geschlechter festlegten. Aus diesem Grund würden wir auch der geringsten Einschränkung der Meinungsfreiheit nicht zustimmen. Der Präsident der Generalitat de Catalunya (der katalanischen Regionalregierung) ist ein radikaler Separatist, aber trotz des Schmerzes und des Schadens, den seine Ansichten für das friedliche Zusammenleben in Katalonien bedeuten, wird er weder daran gehindert, seine Meinung frei zu äußern, noch daran, diese öffentlich zu verteidigen.

Der spanische Ministerpräsident Pedro Sánchez.
Der spanische Ministerpräsident Pedro Sánchez.

© Jorge Guererro/AFP

Gleiches gilt für separatistische lokale Verwaltungen und Regierungen sowie auch für Verbände, die die Unabhängigkeit unterstützen. Sie können ihre Meinung nach Belieben äußern, sofern sie keine kriminellen Handlungen befürworten oder dazu aufrufen. Vor dem Gesetz sind alle Spanier gleich. Verfassung und Demokratie sind untrennbare Realitäten.

Gemäß der rechtsstaatlichen Bestimmungen in Spanien ist die Justiz vollkommen unabhängig und ermöglicht die Überprüfung von Entscheidungen durch nationale und internationale Behörden. Die Regierung respektiert und befolgt alle gerichtlichen Entscheidungen. Das gilt auch für das Urteil des Obersten Gerichtshofs gegen neun Separatistenführer, die wegen der von ihnen begangenen illegalen Akte im Herbst  2017 angeklagt gewesen waren. In diesem Fall agierte auch der Gerichtshof mit größter Transparenz: sämtliche Verhandlungen wurden live im Fernsehen übertragen.  

Die Reaktionen auf das Urteil des Obersten Gerichtshofs fielen äußerst unterschiedlich aus: während man mancherorts der Ansicht war, Haftstrafen zwischen neun und 13 Jahren seien zu milde, organisierten andere Demonstrationen gegen das Urteil. Und obwohl einige dieser Proteste friedlich verliefen, versanken andere in extremer Gewalt.

Das Recht auf Protest ist Teil unsere Demokratie - etwas anderes sind aber vorsätzliche Gewaltakte

Das Recht auf Protest und Streik ist ein Grundpfeiler unserer Demokratie, und mein uneingeschränkter Respekt gilt jenen katalanischen Bürgern, die dieses Recht friedlich ausübten. Doch etwas ganz anderes sind die organisierten und vorsätzlichen Gewaltakte, die in den letzten Wochen in ganz Katalonien stattfanden. Diese spiegeln in keiner Weise den Geist der  Toleranz und der Offenheit der Region wider.

Die illegalen Bemühungen zur Herbeiführung der Unabhängigkeit Kataloniens folgten einem Fahrplan, der im heutigen Europa sattsam bekannt ist. Er führt durch ein Netz von Lügen, gewoben aus Fake News und viralen Nachrichten und dient der Mobilisierung von Rechtsextremisten und Feinden der europäischen Integration. Genau diesen Weg schlägt man auch anderswo ein und nutzt die Rhetorik der Reaktion aus, um mit Polarisierung und Konfrontation die Spaltung der Gesellschaft fördern.

Vor kurzem erklärten die Anführer dieser Bewegung, wie etwa der Präsident der wichtigsten pro-separatistischen Vereinigung, dass Gewalt notwendig sein kann, um einem Anliegen zu größerer Aufmerksamkeit zu verhelfen. Wenn wir allerdings eine Lehre aus der schmerzhaften und blutigen Geschichte Europas gezogen haben, dann besteht sie darin, dass keine politische Ambition jemals als Rechtfertigung für die Anwendung von Gewalt dienen darf, geschweige denn für die Normalisierung der Gewalt als politisches Instrument. 

Meine Regierung hat auf diese Herausforderung kontrolliert und mit Augenmaß reagiert. Ich bin der festen Überzeugung, dass Zurückhaltung unsere Stärke ist. Wir reagierten rasch, um für die Bürger Kataloniens, von denen eine Mehrheit gegen die aktuell instabile Pattsituation ist, Frieden und Stabilität wiederherzustellen. Wir agierten außerdem mit Umsicht, um die aus den Momenten der Spannung resultierende Gefahr auf einem möglichst niedrigen Niveau zu halten. Und wir dürfen die beispielhaften Bemühungen und den Mut der katalanischen Polizei nicht vergessen, die mit Unterstützung der nationalen spanischen Polizei zu einer Zeit die Ordnung aufrechterhielt, als ihre regionalen Anführer offene Verachtung für das geltende Gesetz an den Tag legten.

Es ist ein absurdes Paradoxon einen Präsidenten der Generalitat zu erleben, wie er die Gewalt verharmlost und gleichzeitig jene Polizeikräfte anprangert, die in seinem Auftrag ihrer Pflicht nachkommen. Das ist auch ein schwerwiegender Fehler. Ich fordere ihn auf, die Gewalt klar und deutlich zu verurteilen und mit jenen Menschen und nicht-separatistischen Parteien in Katalonien, die die Unabhängigkeit nicht wollen, in einen  Dialog einzutreten. Er muss beginnen, als Präsident aller Katalanen zu agieren und nicht nur derjenigen, die seine politischen Ansichten teilen.

Heilung und das Zusammenleben der Menschen - darum soll es in Katalonien gehen und nicht um Unabhängigkeit

Ich werde es nicht zulassen, dass es zu einem weiteren, von falschen Narrativen geschürten und von Lügen durchdrungenen extremen Ausbruch des Nationalismus kommt, der den Erfolg der spanischen Demokratie untergräbt, die durch die harte Arbeit unserer Bürger und Institutionen erreicht wurde. In der Debatte um die Zukunft Kataloniens steht nur die Heilung und das Zusammenleben der Menschen und der Gesellschaft in Katalonien auf der Tagesordnung, nicht die Unabhängigkeit der Region. Das ist unsere wichtigste Herausforderung: wir müssen gewährleisten, dass allseits verstanden und akzeptiert wird, dass einseitige Unabhängigkeitsbestrebungen einen direkten Affront gegenüber grundlegenden demokratischen Prinzipien darstellen.   

Zurückhaltung und Mäßigung sind derzeit das Gebot der Stunde. Wir werden mit aller Entschlossenheit handeln, um das friedliche Zusammenleben zu verteidigen, aber auch mit der Intelligenz, die uns erkennen lässt, dass wir die Gelegenheit haben, ein neues Kapitel aufzuschlagen. Ich habe mich dem Dialog nie verweigert, sofern beide Parteien bereit sind, sich innerhalb des verfassungsrechtlichen Rahmens und des Gesetzes zu bewegen. Ich will kein Präsident nach dem Motto „Wir gegen die anderen“ sein. Meine Aufgabe ist es, allen Spaniern gleichermaßen zu dienen.

Die Separatistenführer müssen auf den Boden Verfassung zurückkehren

Es bestehen verschiedene Bereiche des Dialogs, die es zu erkunden gilt, wenn die separatistischen Führer ihren einseitigen Weg aufgeben. Wir können ohne Drohungen oder Herabsetzung miteinander sprechen und einander zuhören. Mir ist bewusst, dass es offene Wunden sowie Schmerz und Frustration gibt. Trotzdem besteht die Möglichkeit zu hoffen, dass wir erkennen, was wir gemeinsam erreicht haben, und darüber nachzudenken, was wir gemeinsam tun können, um das Wohl aller unserer Bürger zu verbessern. Um das zu erreichen, müssen die Separatistenführer jedoch auf den Boden der Verfassung zurückkehren und den Rechtsstaat respektieren.

Meine Regierung hat Spanien an der Spitze des Projekts der europäischen Integration sowie an vorderster Front im Kampf gegen unsere größten globalen Herausforderungen positioniert. Wir setzen uns für die Stärkung und Ausweitung von Rechten und Freiheiten ein und engagieren uns im Kampf gegen die Ungleichheit. Diese Ziele gehen über eine nationalistische Vision hinaus und wir brauchen Katalonien und auch die katalanische Gesellschaft, um sie zu erreichen.  
Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier.

Pedro Sánchez

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