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Besuch in Windsor Castle: Königin Elizabeth II., Präsident Barack Obama und Michelle Obama (von links).

© Reuters

Gastbeitrag von Barack Obama: Warum ein Brexit schlecht für die Briten ist

Großbritannien ist stärker, wenn es in der EU bleibt: Eine Botschaft des US-Präsidenten an die Briten, aus Anlass seines London-Besuchs.

1939 sprach Präsident Franklin D. Roosevelt im Weißen Haus einen Toast zu Ehren König Georg VI. aus. Er sagte: „Ich bin davon überzeugt, dass der wichtigste Beitrag, den unsere beiden Länder zur Zivilisation und zum Wohlergehen aller Völker weltweit zu leisten in der Lage sind, darin besteht, wie wir die Beziehungen unserer beiden Nationen gemeinsam gestaltet haben.“

Auch nahezu 80 Jahre danach ist Großbritannien wie kein anderes Land den Vereinigten Staaten ein Freund und Verbündeter. Unsere besonderen Beziehungen nahmen ihren Anfang auf dem Schlachtfeld und wurden durch den Aufbau und die Unterstützung jener Architektur gefestigt, die Stabilität und Wohlstand in Europa und unsere demokratischen Werte weltweit fördern sollte. Männer und Frauen, die vor uns lebten, besaßen die Weitsicht, auf den Ruinen des Krieges internationale Institutionen aufzubauen und Initiativen anzustoßen, die einen Frieden in Wohlstand ermöglichten: die Vereinten Nationen und die Nato, die Bretton-Woods-Institutionen, den Marshall-Plan und die Europäische Union. Ihre Anstrengungen bildeten die Grundlage für Demokratie, offene Märkte und Rechtsstaatlichkeit und 70 Jahre des relativen Friedens und Wohlstands in Europa.

Heute wird diese Ordnung durch Terrorismus, Aggression, Migration und wirtschaftliche Turbulenzen erschüttert – Herausforderungen, denen wir nur begegnen können, wenn sich die Vereinigten Staaten und das Vereinigte Königreich aufeinander, auf ihre besonderen Beziehungen und auf Partnerschaften, die Fortschritte versprechen, verlassen können.

Wir sind Freunde, die einander nicht fürchten

Während meines Besuchs in London werden Premierminister Cameron und ich das gesamte Spektrum dieser Herausforderungen besprechen. Unsere Anstrengungen zur Verhinderung terroristischer Anschläge auf unsere Bürgerinnen und Bürger müssen resolut und flexibel sein und den bisher erreichten Fortschritt bei der Bekämpfung der Bedrohung durch den IS bis zu seiner Zerschlagung fortsetzen. Wir müssen Lösungen für die politischen Konflikte im Nahen Osten – vom Jemen über Syrien bis hin zu Libyen – erarbeiten, damit es eine Chance für größere Stabilität geben kann. Wir müssen weiterhin in die Nato investieren, damit wir unseren Verpflichtungen im Ausland – von Afghanistan bis zur Ägäis – nachkommen und unsere Verbündeten, die aufgrund der russischen Aggression zurecht besorgt sind, beruhigen können. Und wir müssen weiterhin globales Wachstum fördern, damit unsere Kinder mehr Chancen haben und größeren Wohlstand erreichen können.

Ich weiß, dass der Zeitpunkt meines Besuchs Grundlage erheblicher Spekulationen – und einiger Kontroversen – war. Und ich gebe es zu: Es stimmt, dass ich Ihrer Majestät persönlich zum Geburtstag gratulieren möchte. Aber ich weiß auch, dass hier gerade eine lebhafte Diskussion stattfindet. Bei uns ist das im Moment ähnlich. Und schlussendlich liegt die Entscheidung über den Verbleib Großbritanniens in der EU bei den britischen Wählerinnen und Wählern.

Allerdings bemerkte Präsident Roosevelt bei seinem Toast auf unsere besonderen Beziehungen auch, dass wir Freunde sind, die einander nicht fürchten. Deshalb kann ich in freundschaftlicher Aufrichtigkeit sagen, dass das Ergebnis Ihrer Wahl von großem Interesse für die USA ist. Zehntausende Amerikaner, die auf Europas Friedhöfen ruhen, sind stille Zeugen dafür, wie stark unser Wohlstand und unsere Sicherheit tatsächlich miteinander verflochten sind. Und die Richtung, die Sie einschlagen, ist auch für die Aussichten der heutigen Generation von Amerikanern von Bedeutung.

Die EU hat den britischen Einfluss vergrößert

Wenn die Bürger des Vereinigten Königreichs Bilanz ziehen über ihre Beziehungen zur EU, dann sollten sie stolz darauf sein, dass die EU dabei geholfen hat, britische Werte und Gewohnheiten auf dem Kontinent und bis an seine Grenzen zu verbreiten – wie die Demokratie, die Rechtsstaatlichkeit, offene Märkte. Die Europäische Union hat den britischen Einfluss nicht gemäßigt, sondern ihn vergrößert. Ein starkes Europa stellt keine Bedrohung für die globale Vorreiterrolle Großbritanniens dar, sondern stärkt Großbritanniens weltweite Führungsrolle. Die Vereinigten Staaten haben erkannt, wie Großbritanniens einflussreiche Stimme in Europa dafür sorgt, dass Europa eine starke Position in der Welt einnimmt und dass die EU offen bleibt, auch mal über ihren Tellerrand hinausschaut und enge Beziehungen zu ihren Verbündeten auf der anderen Seite des Atlantiks pflegt. Deshalb brauchen die Vereinigten Staaten und die Welt Großbritanniens enormen Einfluss – auch innerhalb Europas.

In dieser komplizierten, vernetzten Welt steht die EU den gleichen Herausforderungen gegenüber wie die Vereinigten Staaten und andere Nationen: Einwanderung, wirtschaftliche Ungleichheit, die Bedrohung durch den Terrorismus und der Klimawandel. Obwohl wir alle unsere Souveränität in der heutigen Welt schätzen, üben die Nationen ihren Einfluss am wirkungsvollsten aus, die das durch gemeinsame Aktionen als Antwort auf die heutigen Herausforderungen tun.

Der Binnenmarkt hat den Briten riesige Chancen eröffnet

Als wir das historische Abkommen mit Iran verhandelt und ihn davon abgehalten haben, Atomwaffen zu entwickeln, war es eine gemeinsame Aktion der ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates und Deutschlands. Und der Sitz der EU am Tisch hat die Stimme des Vereinigten Königreiches nur noch stärker hervorgehoben.

Als das Klimaabkommen in Paris neuen Schwung benötigte, war es die Europäische Union, gestärkt durch das Vereinigte Königreich, die letzten Endes das Abkommen erst möglich machte.

Wenn es um die Schaffung von Arbeitsplätzen, Handelsbeziehungen und Wirtschaftswachstum geht, die im Einklang mit unseren Werten stehen, dann hat Großbritannien von seiner Mitgliedschaft in der EU profitiert – innerhalb des Binnenmarkts, der den Briten riesige Chancen eröffnet. Und die Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft mit der EU wird unsere Werte und unsere Interessen voranbringen und hohe arbeitnehmerorientierte Standards und Richtlinien im Handel und in der Industrie der Wirtschaft des 21. Jahrhunderts setzen.

Diese Art der Zusammenarbeit, die vom Austausch nachrichtendienstlicher Informationen und Terrorismusbekämpfung bis zur Vereinbarung von Abkommen zur Schaffung von Arbeitsplätzen und Wirtschaftswachstum reicht, wird viel wirkungsvoller sein, wenn sie sich über ganz Europa erstreckt. Die Zeit für Freunde und Verbündete, sich zusammenzutun, ist jetzt gekommen.

Die Vereinigten Staaten, das Vereinigte Königreich und die Europäische Union haben gemeinsam Jahrhunderte des Krieges in Europa in Jahrzehnte des Friedens verwandelt und haben zusammengearbeitet, um diese Welt zu einem besseren und sicheren Ort zu machen. Das ist wirklich ein außerordentliches Vermächtnis. Und welch ein außerordentliches Vermächtnis werden wir hinterlassen, wenn wir die Herausforderungen dieses jungen Jahrhunderts ebenfalls zusammen meistern.

Der englische Originaltext erschien zum Besuch des amerikanischen Präsidenten in Großbritannien am 22. April 2016 im „Telegraph“.

Barack Obama

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