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Hans-Dietrich Genscher

© dapd

Gastkommentar: Kooperation statt Konfrontation mit Russland

Der Nato-Gipfel in Chicago sollte den Aufbau einer Raketenabwehr nicht übereilt angehen.

G-8-Gipfel in Camp David, Nato- Gipfel in Chicago, Russlands Präsident Putin bleibt beiden fern. Heißt das nun kalter Wind aus Moskau? Oder will Putin nur eine persönliche Konfrontation vermeiden und damit das Tor offen halten für einen Neubeginn in den Ost-West-Beziehungen? Das wohl eher.

Am 13. April 2012 riefen der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt und der frühere amerikanische Senator Sam Nunn, einer der herausragendsten strategischen Köpfe der USA, dazu auf, das Ziel der Beseitigung aller nuklearen Waffen weiterzuverfolgen und auf dem Wege dorthin der Ausbreitung der Atomwaffenbesitzer einen Riegel vorzuschieben. Sie warnten dabei die westliche Allianz, den Aufbau eines Raketenabwehrsystems ohne die Kooperation mit Russland voranzutreiben. Die Konsultationen darüber laufen seit langem. Eine Übereinstimmung konnte noch nicht hergestellt werden, aber große Fortschritte wurden gemacht. Sollte man sich da nicht weiter um Kooperation bemühen? Ist es nicht vernünftiger, der Fortsetzung der Gespräche mit Moskau den Vorrang zu geben, vor einer einseitigen Entscheidung in Chicago über eine erste Stufe des Systems? Schmidt und Nunn haben doch recht, wenn sie warnen vor einem neuen Rüstungswettlauf, vor der Rückkehr der Konfrontation und vor neuen Spannungen. Warum so eilig? Präsident Obama rief vor kurzem seinem Moskauer Kollegen Medwedew zu: Nach der Wahl könne er flexibler sein. Wer ist also der Antreiber einer übereilten Entscheidung für das Raketenabwehrsystem in Chicago? Die Kooperation ist noch immer der bessere Weg, und Eilfertigkeit ist ein schlechter Ratgeber. Die Nato ist ein politisches Bündnis, das macht ihre Stärke aus. Vergessen wir nicht, die Nato eröffnete mit dem Harmel-Bericht von 1967 den Weg für die Entspannungspolitik auf der Grundlage gesicherter Verteidigungsfähigkeit. Sie erklärte Rüstungskontrolle und Abrüstung zu integralen Bestandteilern ihrer Sicherheitspolitik. Das zusammen mit den deutschen Ostverträgen eröffnete den Weg zur KSZE und diese eine grundlegende Veränderung der Lage in Europa, so dass ein Mann wie Gorbatschow in Moskau als Generalsekretär der KPdSU möglich wurde.

Heute geht es darum, dass Amerika, Europa und Russland ihre gemeinsamen Interessen gemeinsam definieren. Diese sind wesentlich größer, als es manche Sicherheitsbürokraten in Brüssel und auch solche in Washingtoner Amtsstuben wahrhaben wollen. Anders, als es der sich der Kooperation verpflichtet fühlende Präsident Obama sieht. Die Europäer sollten alles tun, damit, bevor in Chicago neue Fakten geschaffen werden, Obama bei der Wahl die von ihm angekündigte größere Flexibilität erwirbt. Es gibt genug Probleme, die wir nur gemeinsam mit Russland lösen können. Die Verhinderung neuer Atomwaffenbesitzer, die Verhinderung eines Krieges im Nahen und im Mittleren Osten. Die Überwindung des israelisch-palästinischen Konfliktes durch eine für alle Seiten akzeptable Friedenslösung. In den arabischen Staaten des neuen Aufbruchs wird die Solidarität mit dem palästinensischen Volk deutlich stärker erkennbar.

Wenn sich die Staats- und Regierungschefs der Nato in Chicago treffen, dann geht es um mehr als um den Rückzugstermin aus Afghanistan, so wichtig dieser ist. Es geht auch um das Verhältnis zu unserem großen Nachbarn im Osten, und es geht um die Nutzung der Chance einer neuen Kooperation von West und Ost. In einer solchen Lage ist Staatskunst verlangt, und das heißt: Abbau der Konfrontation und nicht die Inkaufnahme der Gefahr einer neuen Konfrontation. Es geht darum, die neue Flexibilität zu nutzen, die Obama für die Zeit nach seiner Wiederwahl verspricht. Und es geht darum, dass Europa das große Versprechen der Charta für Europa von 1990 einlöst. Das alles und die Lösung der großen Probleme unserer Zeit geht nur mit Russland und nicht ohne und schon gar nicht gegen Russland.

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