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Alle gratulieren ihm: dabei haben die politischen Akteure im Moment noch ganz andere Probleme als die Wahl eines neuen Präsidenten.

© dapd

Gauck und seine Wähler: Ziemlich beste Freunde

Alle lieben Gauck, und am Ende klatscht sogar die Linke. Bei der Wahl des Bundespräsidenten herrscht große Einigkeit – und ebenso großes Desinteresse. Weil die politischen Akteure derzeit ganz andere Sorgen haben.

Von Robert Birnbaum

Der Mann, der Präsident werden soll, sitzt seit einer halben Stunde ohne erkennbare Regung auf der Ehrentribüne und schaut über das bunte Treiben zu seinen Füßen hinweg. Wer nicht Mitglied der Bundesversammlung ist, darf im Reichstag nicht mit aufs Parkett, da ist das Protokoll streng. Beate Klarsfeld, die darf unten im Plenarsaal sitzen, sogar in der ersten Reihe, weil die Linke ihre Präsidentschaftskandidatin zugleich zur Wahlfrau berufen hat. Bei Joachim Gauck wäre das schlecht gegangen, allein wegen des Gerangels, das sofort losgegangen wäre darum, wer ihn nominieren darf. Joachim Gauck hat neuerdings einfach zu viele politische Freunde. Also muss er da oben sitzen und Haltung zeigen, was ja schon mal eine ganz gute Übung ist für seine künftigen Aufgaben. Außerdem passt es zum Tag. Die 15. Bundesversammlung wählt den 11. Bundespräsidenten. Aber sie interessiert sich in Wahrheit keine Bohne dafür. Sie interessieren sich für alles mögliche andere sehr viel mehr.

Dieses leicht zerstreute Desinteresse hängt natürlich auch mit einem Umstand zusammen, der selbst die korrekte Bundestagsverwaltung augenzwinkernd Rechnung trägt. Als sich die Delegierten am Sonntagmorgen vor ihren Fraktionen anstellen zwecks Registrierung, bekommt jeder ein kleines Ledermäppchen mit seiner Stimmkarte in die Hand gedrückt. In dem Mäppchen ist Platz für drei Karten, vulgo drei Wahlgänge. Es steckt aber diesmal nur eine Karte drin. Eine übergroße Koalition hat sich auf Gauck verständigt, eine übergroße Mehrheit wird ihn wählen. Fast alle Bundespräsidentenwahlen vorher waren parteipolitische Schlachten. Diese ist es nicht. Es reicht nur für ein paar Scharmützel.

Die Wahl zum Bundespräsidenten in Bildern

Die Scharmützel betreffen die Frage, wessen Präsident der Pastor Gauck denn nun am meisten werden wird. Dafür muss herhalten, was der Kandidat am Samstagnachmittag gesagt hat, als er noch einmal in den Fraktionen seiner Unterstützer war. Bei den Grünen hat er gesagt, dass er wahrscheinlich, wenn er in der Bundesrepublik gelebt hätte, auch ein 68er geworden wäre. Das freut die Grünen derart, dass sie es gleich rumerzählen. Der SPD-Vorsitzende Gabriel betont, dass Gauck nicht nur die Freiheit als sein Zentralthema nenne, sondern dazu die Verantwortung, was ja wichtig sei in einer Gesellschaft, in der „die Ellenbogen zum wichtigsten Fortbewegungsmittel“ zu werden drohten. Das mit den Ellenbogen ist allerdings von Gabriel, nicht von Gauck.

Bei der Union schließlich freuen sie sich, dass Gauck Helmut Kohl zum guten Beispiel erhoben hat, weil der die DDR-Mark eins zu eins in D-Mark umgetauscht hat, was zeige, dass man Politik nicht nur „mit dem Rechenschieber“ machen dürfe. Gauck hat das aktuell auf Europa bezogen, was ihm noch mehr neue Freunde verschafft hat.

Nur die FDP sticht durch eine gewisse Nüchternheit aus dem Kreis der Friends of Gauck hervor. Sie hat sich wahrscheinlich vorher zu viel und zu laut gefreut über jenen Coup, der Gauck zum Konsenskandidaten beförderte und die CDU-Vorsitzende Angela Merkel ziemlich belämmert aussehen ließ. Der Fraktionsvorsitzende Rainer Brüderle beschränkt sich jedenfalls auf die Mitteilung, dass sich beim letzten Zählappell „einstimmig alle bereit erklärt haben, Herrn Gauck zu wählen“.

Aber vielleicht geht es Brüderle auch bloß ähnlich wie vielen anderen Freidemokraten, die sich im fünften Stock des Reichstags auf der Fraktionsebene die Zeit bis zum Beginn der Sitzung vertreiben. Sie freuen sich nämlich durchaus, nur hat das mit Gauck nichts zu tun. Schuld daran ist diesmal ein sehr junger, sehr smarter, sehr blonder Mann, den man, was die um ihn kreisende Aufmerksamkeit angeht, versehentlich für die Hauptfigur des Tages halten könnte.

Christian Lindner ist seit drei Tagen so etwas wie der Messias der FDP. In Nordrhein-Westfalen wird am 13. Mai ein neuer Landtag gewählt. Lindner soll die FDP vor dem Untergang retten. Im Fraktions-Saal der Liberalen machen Geschichten über regelrechte Euphorie an der Basis die Runde, die allein die Benennung des NRW-Spitzenkandidaten ausgelöst hat.

Die meisten sind mit anderen Dingen beschäftigt

Lindner selbst muss Fernsehinterviews am Fließband geben. Immer wieder muss er halb lächelnd und doch ganz ernst sagen, dass es die Überzeugung von der Freiheit sei, die Gauck und ihn verbinde. Einmal, zweimal, immer wieder. Schließlich kann er sich befreien durch einen Sprung in den Aufzug, der gerade seine Türen schließt. Drinnen steht Wolfgang Kubicki, FDP-Spitzenmann aus Schleswig-Holstein. Dem jungen Lindner klopft Kubicki aufmunternd auf die Schulter. Zwei Hoffnungsträger grinsen sich an.

Die FDP also ist mit dem Kopf in Wahrheit in Nordrhein-Westfalen. Die SPD auch. Dort reichen sie beim Delegiertenabend am Samstag im Club „Goya“ Hannelore Kraft wie eine Heldin herum. Bei der Union ein paar Straßen weiter im Adenauer-Haus sind sie ebenfalls stark mit NRW beschäftigt, nur dass sie dort mit ihrem Spitzenmann hadern: Dass Norbert Röttgen sich eine Rückfahrkarte nach Berlin reservieren will, halten bis auf den Umweltminister selbst alle für einen Fehler. Nur die Grünen befassen sich nicht mit NRW, sondern gleich mit der nächsten größeren Wahl: Das Spitzenquartett aus Partei und Fraktion verständigt sich am Rande des Abends darauf, dass eine Urwahl das Spitzenkandidatenduo für die Bundestagswahl 2013 bestimmen soll.

So sind alle eigentlich mit ganz anderen Dingen beschäftigt. Nur – wählen müssen sie den Gemeinschaftskandidaten Gauck halt schon noch. Der Tag beginnt, wie stets, mit einem Gottesdienst. Normalerweise ist der Kirchgang eher etwas Erbauliches. Aber dieser Wahltag hat ja eine Vorgeschichte. Merkel hat sie am Vorabend schon kurz erwähnt und Christian Wulff dafür gedankt, dass er ja in vielen Fragen das Land „sehr würdig vertreten“ habe. Das Publikum in der CDU-Zentrale klatscht. In der Friedrichstadtkirche ist es der katholische Prälat Karl Jüsten, der an den Fall erinnert.

Jüsten wendet sich an Gauck, der mit geradem Rücken direkt vor der Kanzel sitzt. Er möge sein Amt so ausüben, dass man ihn „hier so bald nicht wiedersieht“, bittet Jüsten. In der Kirche macht sich Gemurmel breit, auch Gelächter. Aber Jüsten findet die Sache zu ernst: „Bei allem, was war“, mahnt der Priester, müsse man doch anerkennen, dass Christian Wulff sein ganzes politisches Berufsleben Niedersachsen und dem ganzen Land gewidmet habe. „Und dafür wäre ein Dank angebracht.“ Spontaner Applaus in den hinteren Kirchenbänken, verdutzt gucken sich die Kanzlerin und der Bundestagspräsident um. Gauck sagt beim Herausgehen, dass es ihn auch in den Fingern gejuckt habe. Aber Applaus zur Predigt sei halt nicht üblich.

Rückblick: So scheiterte Gaucks Vorgänger Wulff im Amt

Applaus im Bundestag ist üblich. Um Punkt zwölf Uhr betritt der Bundestagspräsident den Plenarsaal. Sofort sortiert sich das bunte Klassentreffen zu geordneten Stuhlreihensitzern. Das ist ein mittleres Wunder. Die üblichen Bänke sind abmontiert, um Platz für alle 1240 Wahlleute zu schaffen. An den Stühlen kleben farbige Zettel – grün für Grüne, rot für Rote, weiß für Schwarze und so weiter. Obendrein hat jeder Delegierte einen Zettel in die Hand bekommen mit einem Saalplan, auf dem sein Platz angekreuzt ist.

Auch Norbert Lammert geht noch einmal auf die Vorgeschichte ein. Dass die Abstände zwischen den Bundesversammlungen immer kürzer werden, merkt er ironisch an, „wird man nicht für eine Errungenschaft halten“. Über Wulffs kurze Amtszeit müssten Historiker urteilen, auch über das, was über das Verhältnis von Amt und Person und über die Verantwortung von Amtsträgern und Öffentlichkeit zu sagen sei. Nur: „Es gibt durchaus Anlass für selbstkritische Betrachtungen, nicht nur an eine Adresse.“ Trotzdem, Wulff danken oder gar ihn nachträglich rehabilitieren will der Christdemokrat nicht: „Manches war bitter“, sagt Lammert, „aber unvermeidlich.“

Diesmal applaudieren sogar die Linken

Dann folgt das Formelle. Ein paar Anträge, die die drei NDP-Mitglieder in der Versammlung gestellt haben, weist Lammert als unzulässig ab, über andere lässt er abstimmen – das Ergebnis ist immer das gleiche: drei gegen den Rest. Und dann beginnt jene Prozedur, die hier vor 20 Monaten schon einmal stattgefunden hat: Eine Stunde lang verlesen die Schriftführer Namen um Namen, und wer genannt wird, steht auf und gibt seine Stimme ab.

Gauck verlässt den Saal, seine Lebensgefährtin Daniela Schadt, im grauen Kostüm, begleitet ihn. Unten fängt wieder ein bunter Reigen von Gesprächen an. Es ist ja auch ein bisschen wie ein Klassentreffen. Man sieht die Ehemaligen wieder – Roland Koch ist da, Friedrich Merz, viele Landespolitker, die längst in Pension sind. Die Kanzlerin wechselt ein paar Worte mit dem SPD-Chef. Alice Schwarzer bahnt sich den Weg zur Stimmabgabe.

Um 14.18 Uhr schellt die Glocke. Die Auszählung ist beendet. Diesmal darf, ja muss Joachim Gauck in den Saal. Langsam und aufrecht kommt er durch die hintere Saaltür. Man hat ihm einen Stuhl in die Gangreihe gestellt zwischen Grünen und Union. Lammert verliest das Ergebnis. 108 Wahlleute haben sich enthalten – ein Raunen geht durch den Saal: Das sind die, die eine Rechnung offen haben mit Gauck oder wegen Gauck. 126 Stimmen hat Beate Klarsfeld erhalten, die Kandidatin der Linken. Drei der Kandidat der NPD. Joachim Gauck aber bekommt 991. Der Saal springt fast geschlossen auf, minutenlanger Applaus; nur die Linke mag nicht mitklatschen.

„Was für ein schöner Sonntag“, sagt Gauck, als er zur kurzen Rede gebeten wird. Er meint zuerst den anderen Sonntag, jenen 18. März, an dem die DDR ihre erste freie Volkskammer wählte. Nie werde er die vergessen, sagt Gauck. Vom Glück der Freiheit spricht er, von der Pflicht zur Verantwortung. Und – das verspricht der neue Präsident all denen, die ihn skeptisch sahen – er wolle sich neu auf Themen, Probleme und Personen einstellen. Wieder applaudiert der Saal, diesmal sogar die meisten Linken. Gauck geht zurück an seinen Platz. Er setzt sich auf den Stuhl, reicht seine rechte Hand zu Renate Künast herüber. Die Grüne ergreift sie. Gauck guckt kurz nach links. Dann streckt er auch dorthin eine Hand. Peter Altmaier, der Fraktionsgeschäftsführer der Union, fasst zu. Drüben von der SPD gucken ein paar ein bisschen neidisch herüber. Aber selbst ein Konsenskandidat hat nur zwei Hände.

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