zum Hauptinhalt
Einschluss. Die Politik tut sich mit gefährlichen Kriminellen schwer. Deren Verwahrung musste in diesem Jahr neu geregelt werden, viele Inhaftierte kamen daraufhin frei. Foto: Imago

© Imago

Gefängnis und Gewahrsam: Europas Zweifel an der Psycho-Haft

Der Menschenrechtsgerichtshof kritisiert in seinem neuesten Urteil, wie in Deutschland seelisch gestörte Rückfalltäter festgehalten werden. Die Koalition will die umstrittene Unterbringung dennoch ausbauen.

Berlin - Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg hat Zweifel am deutschen Gesetz zur nachträglichen Unterbringung psychisch gestörter Straftäter. Die Richter haben am Donnerstag einem Kläger 3000 Euro Schadenersatz zugesprochen, weil seine Inhaftierung gegen seine Freiheitsrechte und das Verbot rückwirkenden Strafens verstieß. Zugleich deuteten sie an, dass die Menschenrechtskonvention einen engeren Begriff seelisch Kranker habe, als ihn das umstrittene deutsche Therapieunterbringungsgesetz (ThUG) verwende.

Ein Gericht hatte den Mann 1997 in Hanau bei Frankfurt am Main wegen sexueller Übergriffe auf Kinder zu vier Jahren Haft verurteilt. Die anschließende Sicherungsverwahrung wurde nach dem Wegfall der Höchstfrist von zehn Jahren immer wieder verlängert.

Das Urteil des EGMR ist noch nicht rechtskräftig. Für die deutsche Kriminalpolitik aber ist das Verfahren wichtig, weil die nachträgliche Therapieunterbringung laut Koalitionsvertrag künftig ausgebaut werden soll. Verhindern wollen die Politiker damit die Entlassung psychisch gestörter Gewalt- und Sexualstraftäter nach Verbüßen ihrer Haft, wenn sich deren besondere Gefährlichkeit erst im Gefängnis herausgestellt hat.

Prinzipiell werden in der Bundesrepublik seelisch kranke Straftäter in den sogenannten psychiatrischen Maßregelvollzug eingewiesen, wenn sie für ihre Taten nicht verantwortlich gemacht werden können. Ein solcher Fall war der kürzlich entlassene Gustl Mollath. Für „gesunde“ Rückfalltäter gibt es die in diesem Jahr umfassend reformierte Sicherungsverwahrung, die ebenfalls unbegrenzt andauern kann. 2009 hatte der EGMR die Regeln dazu mit der Menschenrechtskonvention für unvereinbar erklärt.

Ein nachträgliches Festsetzen ist nach den europäischen Maßgaben nur bei psychisch Kranken erlaubt. Dutzende Inhaftierte kamen nach dem EGMR-Urteil auf freien Fuß. Um ihre Zahl klein zu halten, verabschiedete der Bundestag Ende 2010 das ThUG, das für „psychisch gestörte“ Täter in der Sicherungsverwahrung gelten soll. Psychiater und Juristen kritisieren, es vermische Kranke und Gesunde und diene nur dazu, die EGMR-Vorgaben zu unterlaufen. Rückfalltäter würden mit dem viel zu weiten Begriff der „psychischen Störung“ als krank deklariert, obwohl sie nach den Strafurteilen für ihr Tun verantwortlich seien.

Der Straßburger Gerichtshof schließt sich dieser Kritik jetzt in Teilen an. Die Richter zweifelten, ob die dissoziale Persönlichkeit des Klägers allein mit der Eigenschaft, pädophil zu sein, den Maßgaben der Menschenrechtskonvention für einen nachträglichen Freiheitsentzug genüge. Einen Verstoß gegen seine Rechte stellten sie aber vor allem fest, weil er in einem Gefängnistrakt ohne ausreichende medizinische Betreuung festgehalten wurde. Jost Müller-Neuhof

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false