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Politik: Gefühlte Verfassung

JACQUES SCHRÖDERS EU

Von Christoph von Marschall

Ist das Spektakel nicht aller Aufmerksamkeit wert? Ein neues Wesen betritt Europas Bühne: Jacques Schröder, Gerhard Chirac. Aber die Deutschen schauen auf Berlin, wo angeblich des Kanzlers Mehrheit auf dem Spiel steht, und die übrigen EUBürger sonst wohin in ihrem eigenen Land – nur nicht auf die Premiere in Brüssel. Dabei vertritt erstmals ein französischer Präsident offiziell deutsche Interessen. Schröder gibt Chirac die Ehre; er sei in Berlin unabkömmlich, sagt er. Welch ein Beweis für Vertrauen und Einigkeit! Dazu mit hoher Symbolkraft: Europa überwindet Interessengegensätze, die nationalen der ehemaligen Erbfeinde so gut wie die zwischen Konservativen und Sozialdemokraten.

Oder trifft Österreichs Kanzler Schüssels nüchterner Spott die Lage besser? Schröder versuche nur trickreich, eine peinliche Terminplanungspanne als historischen Fortschritt zu inszenieren. Das Datum des Gipfels war lange genug bekannt. Ja, stimmt das überhaupt: dass sich die Interessenlagen mit der Integration Europas allmählich so sehr angleichen, dass ein Franzose für Deutschland sprechen kann – und umgekehrt? Hand aufs Herz, viele Deutsche fühlen sich gar nicht wohl bei dieser Vorstellung; jedenfalls nicht, wenn es jenseits luftiger Symbolik um handfeste Dinge wie Geld, Jobs oder Militäreinsätze geht. Und die umgekehrte Konstellation: Kanzler Schröder als Sachwalter französischer Agrarpolitik? Das gäbe einen Aufschrei bei den Nachbarn. Die nette Geste von Brüssel ist möglich, weil es am zweiten Gipfeltag um nichts Wichtiges geht. Ein Modell für die Zukunft ist sie nicht.

Die EU gibt sich eine Verfassung, um den Ausgleich konkurrierender Interessen in formalen Abläufen zu kanalisieren, nicht weil die Gegensätze mit der Zeit verschwinden. Die Mechanismen dafür werden immer komplizierter, die Bürger verstehen sie kaum noch. Aber das macht sie keineswegs weniger misstrauisch. Je weniger sie die Kämpfe und Kompromisse nachvollziehen können, desto eher argwöhnen sie, dass Europas Einigung auf ihre Kosten geht. Bis sich dann sogar Gruppen benachteiligt fühlen, die eigentlich den Vorteil haben.

Zum Beispiel die kleineren Staaten, die am ersten Gipfeltag den Aufstand gegen den Verfassungsentwurf fortsetzen. Sie gehen mit der Angst hausieren, dass sie von den Mächtigen in Europa unter Wert behandelt werden, kein Gehör finden, wenn Deutschland und Frankreich sich einig sind – und finden Sympathie. Die Furcht der Schwachen vor den Starken kann jeder nachvollziehen. Die tatsächliche Verfassungslage ist gerade umgekehrt zur gefühlten. Gemessen an der Bevölkerung haben kleinere Staaten einen überproportionalen Einfluss in der EU. Erst mit dem – unveränderten – Verfassungsentwurf würde das demokratische Prinzip „one man, one vote“ etwas mehr Geltung finden: Die Stimmen der Bürger müssen gleiches Gewicht haben.

In der EU-Kommission wollen die Kleinen am Prinzip ein Kommissar pro Land festhalten – ob das Land rund 400 000 Einwohner hat wie Malta und Luxemburg, zehn Millionen wie Ungarn und Griechenland, knapp 60 Millionen wie Frankreich und Großbritannien oder 82 Millionen wie Deutschland. Im Europäischen Parlament vertritt ein Abgeordneter aus Irland oder Litauen 280 000 Bürger, aus Tschechien 430 000, aus Deutschland 828 000 Bürger. Auch im Ministerrat, wo die Stimmen nach Ländergröße gewichtet werden, gilt: Je kleiner ein Land, desto mehr sind seine Bürger wert.

Das Problem des Umgangs mit Ländern unterschiedlicher Größe kennt jeder Bundesstaat – und löst ihn, ob Amerika oder die Bundesrepublik, meist durch ein Zwei-Kammer-System. In der einen wird nach Ländern gezählt, in der anderen nach der Bevölkerungszahl. So haben die Kleinen kräftige Vetomöglichkeiten. Dahin will Europa erst kommen mit der neuen Verfassung. Deren Gegner – ob Polen, Spanien, Österreich oder die Balten – verteidigen nicht berechtigte Interessen, sondern ungerechtfertigte Privilegien. Europa darf die Kleinen nicht unterbuttern, aber auch nicht auf Kosten von Demokratie und Transparenz wachsen. Denn eines ist bei den deutschen Sozialreformen nicht anders als bei EU-Europa: Wenn die Bürger nicht mehr verstehen, was verhandelt wird, glaubt jeder, er zahle drauf. Und wendet sich verärgert ab. Da helfen auch keine Spektakel.

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