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"36 Grad, kein Ventilator, das Leben kommt mir gar nicht hart vor.“

© Karl-Josef Hildenbrand/dpa

Gelassenheit im Sommer: Muss auch sein

Waldbrände, Ernteausfall, Klimakrise – darf man noch unbedarft über diesen Sommer schreiben? Einfach nur dasitzen und den Eiswürfeln lauschen? Eine Glosse.

Eine Glosse von Malte Lehming

Am Abend als erstes unter die Dusche, kühl muss das Wasser sein, nicht kalt, Abtrocknen entfällt. Die Sonne ist um das Haus gewandert, Schatten auf dem Balkon, Liegestuhl. Dann nichts tun, einfach nur dasitzen, dösen, den Eiswürfeln lauschen, die sich im Weißweinschorleglas stoßen. Auch Nachbarn sitzen auf ihren Balkonen, von links unten sind Gesprächsfetzen zu hören, von rechts Reggaemusik. Das geht bis spät. Über der Stadt hängt eine Glocke.

Zwischendurch ein Blick auf Twitter, hier herrscht Ironie. „Ich bin verzehrfertig“, schreibt jemand. „Der Unterschied von geduscht zu dringend duschbedürftig ist echt fließend“, ein anderer. „Hack in die Luft geworfen, Frikadelle gefangen, danke Dachgeschoss“, witzelt der dritte. Der nächste erinnert sich an den letzten heißen Sommer: „Ich war jung, cruiste mit lauter Musik im quietschgelben Nissan Micra einer Freundin herum, und wir lagen 24 Stunden am See, in dem wir Mitternacht noch baden waren. 2018 hab’ ich Kopfweh, und die Hitze macht mich fertig. Ich werde alt.“ Eine Modekolumnistin lockt ihre Follower: „Jeder Tag ist der heißeste Tag des Jahres, wenn Ihr meine Bilder auf Instagram anschaut.“

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Darf man noch unbedarft über den Sommer schreiben? Seine Unschuld jedenfalls scheint er verloren zu haben. Ernteausfall, leidende Bauern, Waldbrände, Tote, aggressive Autofahrer, Kreislaufzusammenbrüche. Das alles ist real, kein Fake. Werden Pommes bald unbezahlbar? Mineralwasserherstellern fehlt das Leergut. Es gibt Eis mit Hummus-Geschmack. Ventilatoren werden zu Schwarzmarktpreisen gehandelt. Das sind eher banale Überschriften. Längst aber sind extreme Wetter auch hochpolitisch: „Dieses Wetter kommt eben nicht irgendwie zufällig oder vom Himmel“, schreibt die Grüne Katrin Göring-Eckart. Die Stichworte heißen „Klimakrise“, „Kohleausstieg“, „Erderwärmung“. Beatrix von Storch von der AfD keilt brutalstmöglich zurück. Das hysterische Klimakrisen-Gekreische der „Klimanazis“ sei unerträglich. Wetter-Prophet Jörg Kachelmann wiederum tut das, was er am liebsten tut – besser wissen: Wenn es trocken sei, heiße es Dürre, nicht Hitze. Verdammt nochmal.

Salzige Körper, Sand zwischen den Zehen, Sternschnuppen

Verträgt ein bitterernstes Thema keine Gelassenheit? Ernst Jandl dichtete einst dieses melancholische Sommerlied: „Wir sind Menschen auf den Wiesen/bald sind wir die Menschen unter den Wiesen/und werden Wiesen/und werden Wald/das wird ein heiterer Landaufenthalt.“ Überhaupt Sommerlieder. „Here comes the sun“, singen die Beatles. „It gets so hot in the city“, grooven Mark-Almond. Und „2Raumwohnung“ texten: „36 Grad, und es wird noch heißer, mach’ den Beat nie wieder leiser, 36 Grad, kein Ventilator, das Leben kommt mir gar nicht hart vor.“ Sommerlieder – das waren die, die auf Urlaubsrückfahrten gespielt wurden, immer wieder. Sie transportierten ein Lebensgefühl, salzige Körper, Sand zwischen den Zehen, Sternschnuppen, Meerwasser, echter Tomatengeschmack, Olivenöl, Retsina, Gitanes.

Kohleausstieg? Ja, muss sein. Nasses T-Shirt auf heißer Haut? Muss auch sein. Das kühle Bier am See? Muss auch sein. Eine verlängerte Wasserrutsche für Kinder? Muss auch sein. Alles verlangsamt, die Nächte kurz, viele Erzählungen, die einen waren schon weg, die anderen kommen bald wieder. Aus Anekdoten werden Abenteuer. Der frei laufende Hirsch auf der dänischen Insel, der am späten Nachmittag die Hagebutten aß. Der Stier mitten auf der schmalen Gebirgsstrecke auf dem Peleponnes, der bedrohlich mit dem Huf scharrte, zum Glück aber angekettet war. Es ist Sommer. Auch das.

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