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Politik: „Gelbe Karte für die EU“

Der Historiker Kocka über die Abstimmungen

Herr Kocka, erleben wir mit dem „Non“ in Frankreich und dem „Nee“ in den Niederlanden eine allgemeine Abwendung von der Politik oder „nur“ eine Absage an Europa?

Man kann das nicht verallgemeinern. Es kann nämlich auch durchaus sein, dass es nach solch negativen Referenden zu einer größeren Zustimmung zur nationalen Politik kommt.

Warum haben die Menschen in Frankreich und in den Niederlanden gegen die EU gestimmt?

Wir befinden uns in einer rasanten Übergangssituation – übrigens auch in Deutschland. Zu dieser Übergangssituation gehören verschärfte Konkurrenz und vermehrte Zuwanderung. Gleichzeitig erleben wir eine Phase der sozialökonomischen Stagnation und viel Pessimismus. Und dann gibt es eine Entwicklung zu einer EU, die in mehr und mehr eingreift. Die EU übernimmt sich. Da haben die Bürger zum ersten Mal gesagt: Stopp, nicht so schnell.

Aber die EU-Verfassung soll ja gerade dazu beitragen, dass die EU sich nicht überall einmischt, wo die Nationalstaaten mit ihren Aufgaben allein fertig werden.

Es ist ein bisschen ironisch, dass jetzt ausgerechnet die – an sich recht gute – EU-Verfassung zum Opfer der Volksabstimmungen wird. Andererseits haben diese Referenden darauf aufmerksam gemacht, dass der politische Prozess in der EU zu sehr von oben nach unten verläuft, die Menschen zu wenig mitnimmt. Auf Dauer geht das nicht.

Ist die Verfassung jetzt tot?

Ich vermute, dass es jetzt nicht dazu kommt, dass die Ratifizierung der Verfassung einfach fortgesetzt wird. Es ist auch nicht vorstellbar, die Verfassung neu auszuhandeln. Aber es könnte doch möglich sein, dass man die Teile des Vertragswerks, die nicht kontrovers sind, später umsetzt.

Ist es vielleicht sogar gut, dass die Ablehnung der EU durch die Bürger jetzt deutlich zu Tage tritt – in Europa sozusagen mit offenen Karten gespielt wird?

Ja und Nein. Die Zivilgesellschaft hat der Europäischen Union die gelbe Karte gezeigt. Die Ausdehnung nach Osten ist zu schnell und zu radikal erfolgt. Die Ablehnung in Frankreich und in den Niederlanden bedeutet im Grunde die Forderung, dass beim Weiterbau der EU künftig mit mehr Augenmaß vorgegangen wird. Ich bin aber sicher, dass Europa mit dem „Non“ der Franzosen und dem „Nee“ der Niederländer nicht gleich die rote Karte bekommen hat. Das europäische Einigungswerk, dieses erfolgreiche Projekt aus dem 20. Jahrhundert, muss fortgesetzt werden.

Die Fragen stellte Albrecht Meier.

Jürgen Kocka ist Präsident des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) und Direktor am Berliner Zentrum für Vergleichende Geschichte

Europas.

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