zum Hauptinhalt

Politik: Gemeinsam langsam

Schröder benennt in der Türkei zwar Reformdefizite, bleibt dabei aber sehr zurückhaltend

Zum Abschied klopfte der Patriarch dem Bundeskanzler aufmunternd auf die Schulter: Wird schon noch werden, schien die Geste zu sagen – dabei wäre es eigentlich der Patriarch gewesen, der Trost und Aufmunterung nötig gehabt hätte. Als geistiges Oberhaupt von mehr als 300 Millionen orthodoxen Christen in aller Welt steht Bartholomäus I. von Konstantinopel vor dem Aussterben seiner eigenen Kirche in der Türkei, wenn der türkische Staat nicht sehr bald seinen Herrschaftsanspruch über alle Religionsgemeinschaften aufgibt und ihnen eine gewisse Autonomie zugesteht. Volle Religionsfreiheit zählt deshalb zu den ausstehenden Reformforderungen der EU, die Gerhard Schröder bei seinem Besuch in der Türkei anzumahnen hatte und die er durch das Treffen mit dem Patriarchen unterstrich.

Viel konnte Schröder bei seinem Besuch im Patriarchat am Goldenen Horn von Istanbul nicht für die Christen tun. Nichts dürfe überstürzt werden, warnte er die orthodoxen Würdenträger vor allzu großen Hoffnungen in seine Fürsprache. Auch im Gespräch mit dem türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan zeigte sich Schröder vorsichtig und ließ sich bei der gemeinsamen Pressekonferenz nicht auf die Forderung festnageln, das seit Jahrzehnten geschlossene orthodoxe Priesterseminar des Patriarchats wiedereröffnen zu lassen. Aus Feigheit dürfte dies nicht geschehen sein; vielmehr bewies der Kanzler damit, dass er die Gefechtslage und die Kräfteverhältnisse im türkischen Reformprozess kennt.

Nicht an Erdogan und seiner von islamischen Grundwerten inspirierten Regierung liegt es, wenn der türkische Staat sich mit der Religionsfreiheit schwer tut. Wenn es nach Erdogan ginge, könnten die Orthodoxen wohl morgen schon mit der Priesterausbildung beginnen. Weil gleiches Recht für alle gelten muss, könnten dann freilich auch islamische Gruppierungen ihre eigenen Koran- und Imamschulen eröffnen, statt wie bisher vom staatlichen Religionsamt kontrolliert zu werden – und genau deswegen hätte die Regierung mit einer solchen Reform bisher keine Chance gegen den strikt anti-islamistischen Staatsapparat.

Schröder steuerte einen vorsichtigen Kurs zwischen diesen Fronten hindurch. Er vermied es, Erdogan weiter unter Druck zu setzen, weil der in dieser Frage ohnehin nichts ausrichten kann. Mit dem Besuch im Patriarchat demonstrierte er den Kräften des Widerstands im Staatsapparat aber zugleich, welchen Wert die EU auf volle Religionsfreiheit legt und dass es ohne weitere Reformen in diesem Bereich keinen EU-Beitritt geben kann. Ähnlich vorsichtig austariert waren auch die Äußerungen des Kanzlers zu anderen Fragen des EU-Beitrittsprozesses der Türkei, hatte er doch eine empfindliche Balance zu wahren.

Einerseits musste Schröder die Türken auf bestehende Reformdefizite hinweisen, die bis zum Beginn von Beitrittsgesprächen noch abgearbeitet werden müssen – außer der Religionsfreiheit sprach er etwa die Polizeibrutalität und die anhaltende Diskriminierung von Frauen an. Zugleich galt es aber auch, den derzeit etwas entmutigten und irritierten Türken glaubhaft zu machen, dass die EU sie nicht mit immer neuen Forderungen vergraulen will, sondern dass zumindest Deutschland weiterhin fest zu ihnen hält. Sorgfältig ausbalanciert waren auch Schröders Aussagen zur Armenierfrage, in der Schröder die Türken zwar zur Aufarbeitung ihrer Vergangenheit aufforderte, zugleich aber deren Vorschlag unterstützte, die Debatte an die Historiker zu verweisen.

Der Balanceakt gelang, die Botschaft des Bundeskanzlers kam bei seinen Gastgebern an. „Der politische Wille zu weiteren Reformen ist da“, versicherte Erdogan seinem Besucher. „Wir werden diesen Weg zusammen mit unseren deutschen Freunden weitergehen, Hand in Hand und Schulter an Schulter.“ Eine Botschaft, die auch den orthodoxen Patriarchen aufgemuntert haben dürfte.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false