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Demonstration gegen die Regierung: Vor allem Studenten gehen in Tiflis Tag für Tag auf die Straße, seitdem die Folter von Gefangenen öffentlich geworden ist. Viele Georgier sehen in der seit langem bekannten, aber bisher nie öffentlich diskutuierten Gewalt in Gefängnissen ein Symptom für die Haltung der Regierung. Foto: David Mdzinarishvili/Reuters

© REUTERS

Georgien: „Gewalt ist Teil des Systems“

In Georgien gibt es nach dem Folterskandal täglich Proteste auf der Straße – die Stimmung vor der Parlamentswahl ist explosiv.

Auf der Suche nach Käufern geht ein älterer Mann mit sonnengebräuntem Gesicht und Stoppelbart den Rustaweli-Boulevard im Zentrum von Tiflis entlang. Auf dem Rücken trägt er einen offenen Rucksack voller Reisigbesen. Ein junger Passant lächelt beim Anblick der Besen, ein anderer grinst verschmitzt zurück. Die beiden amüsieren sich allerdings nicht über das hoffnungslose Unterfangen, den Kundinnen der Boutiquen diese Ware verkaufen zu wollen. Die Reisigbesen sind zum Symbol geworden in Georgien. Sie stehen für den Protest gegen Präsident Michail Saakaschwili, den viele nach mehr als acht Jahren Amtszeit aus dem Amt fegen wollen. Zu große Luftschlösser hat er versprochen, zu wenig hat sich die soziale Situation für einen Großteil der Bevölkerung geändert. Vor allem Ältere und Dorfbewohner schlagen sich als Straßenverkäufer, Taxifahrer und Kleinbauern durch.

Die Besen sind aber auch Symbol für einen Skandal, der die georgische Gesellschaft in der vergangenen Woche bis ins Mark erschütterte und dies in einer ohnehin aufgeheizten Situation kurz vor der Parlamentswahl am Montag. Am 18. September strahlten die oppositionellen Fernsehsender TV9 und Maestro Videos aus. Zu sehen sind Gefängnisinsassen, die geschlagen und beschimpft werden. Ein Ausschnitt zeigt einen Häftling, den Wärter mit einem Besen vergewaltigen. Solche ohnehin menschenrechtsverachtenden Taten haben für die Opfer in der konservativ geprägten Gesellschaft Georgiens auch noch eine lebenslange Ächtung zur Folge. Ein Aufschrei ging durch die Bevölkerung. Spontan versammelten sich hunderte Demonstranten vor der Philharmonie in Tiflis, wo sie Präsident Saakaschwili vermuteten. Seitdem gibt es täglich Protestaktionen dort und in anderen Städten wie Kutaissi oder Batumi.

Zwar handelte die Regierung schnell. Mehr als zehn Gefängnismitarbeiter wurden verhaftet. Die zuständige Ministerin wurde durch den bisherigen Ombudsmann George Tugushi ersetzt, der in seinen Berichten zur Menschenrechtslage immer wieder die Situation in den Gefängnissen angeprangert hatte. Nach zwei Tagen trat auch Innenminister Batscho Achalaja zurück. Er hatte das Ministerium von 2005 bis 2008 geleitet und war für die Niederschlagung eines Gefängnisaufstandes mit sieben Toten verantwortlich. „Der Umgang mit diesem Fall zeigt, dass wir eine gesunde demokratische Gesellschaft haben“, sagt der Parlamentsabgeordnete Giorgi Kandelaki von der Regierungspartei Vereinigte Nationale Bewegung. Eine Kommission werde die Fälle vollständig aufklären, verspricht er.

Doch das Misstrauen in der Bevölkerung ist groß. Viele sehen in der seit langem bekannten, aber öffentlich kaum diskutierten Gewalt in den Gefängnissen nur ein Symptom. „Gewalt ist Teil des Systems. Es geht nicht nur um einige Wärter oder das Management der Gefängnisse. Es ist der politische Wille unserer Regierung, nicht nur Gewalt gegen Häftlinge einzusetzen, sondern auch Kritiker unter Druck zu setzen. Das wollen wir ändern“, sagt Tornike Chumburidze. Er gehört zur Studentengruppe „Laboratoria 1918“, die sich seit 2010 für die Rechte der Studierenden einsetzt. Einen Tag vor Veröffentlichung der Videos demonstrierten sie gegen die Entlassung einer Lehrbeauftragten, die sich kritisch über die Regierung geäußert hatte. Dann schlossen auch sie sich den Protesten gegen die Regierung an. Seitdem kommen jeden Nachmittag Hunderte zu ihren Aktionen. Giorgi Chubinidse, ein weiteres Mitglied der etwa 50-köpfigen Gruppe, betont, sie seien unabhängig von allen politischen Parteien. Deshalb vertrauten ihnen die Leute.

Kurz vor der Parlamentswahl am Montag ist die politische Öffentlichkeit hochgradig polarisiert und aufgeheizt, da sich Saakaschwilis Partei einem ernsthaften Herausforderer gegenüber sieht. Der Multimilliardär Bidsina Iwanischwili formte aus der zerstrittenen Opposition ein Bündnis, das seit Monaten regelmäßig Kundgebungen im ganzen Land abhält. Zu einer Veranstaltung im westgeorgischen Zugdidi strömten am vergangenen Wochenende Tausende. Dabei heißt es gerade über diese Region, die Regierungspartei sei dort stark und übe großen Druck auf Kritiker aus.

Die Unsicherheit über den Wahlausgang sorgt für Anspannung in der Bevölkerung, ebenso aber die Kampagnen beider Seiten. Gerüchte, Halbwahrheiten und Lügen zielen vor allem auf den Präsidenten und den Milliardär. Der Hauptvorwurf an die Regierungspartei lautet, sie nutze „administrative Ressourcen“ für den Wahlkampf. Mehr als 20 Anhänger der Opposition seien nur unter Scheinvorwürfen festgenommen und zu mehrtägigen Haftstrafen verurteilt worden. Meist wird ihnen Widerstand gegen die Staatsgewalt und Rowdytum vorgeworfen. Über Iwanischwili heißt es, er setze sein Vermögen gesetzeswidrig für politische Zwecke ein. Er sei ein Handlanger des feindlich gesinnten Nachbarn Russland. Außerdem wolle die Opposition zusammen mit Vertretern des organisierten Verbrechens das Land destabilisieren. Die Folter-Videos aus den Gefängnissen werden als gezielter Versuch dargestellt, die Regierung zu diskreditieren. So bleibt kaum Raum für sachliche Debatten und die Unentschlossenheit unter den Wählern ist groß. Eine Vorhersage über den Wahlausgang am Montag bleibt damit vor allem Spekulation.

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