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Sigmund Jähn (rechts) und sein Kollege Waleri Bukowsky im sowjetischen Weltraumflughafen.

© IMAGO

Geplante Marsmission: Sigmund Jähn hat Sehnsucht nach dem All

Es ist ein Menschheitstraum, lebendiger denn je. Für eine Marsmission ohne Rückkehr haben sich gleich 200 000 Freiwillige gemeldet. Sigmund Jähn kennt ihre Sehnsucht genau. Er war der erste Deutsche im Weltraum.

Minuten bevor er ins Weltall katapultiert wird, beginnt Sigmund Jähn zu schwitzen, sein Puls rast. Es ist der frühe Morgen des 26. August 1978 und der DDR-Bürger Jähn wird gleich der erste Deutsche sein, der in den Weltraum fliegt, der erste Kosmonaut.

Seit mehr als einer Stunde sitzt Jähn im Raumanzug in der Kapsel, im sowjetischen Weltraumflughafen in der Steppe von Kasachstan. Über Funk hat er verfolgt, wie sein Raumschiff betankt wird, wie die letzten Versorgungspakete in der Kapsel verstaut werden. Die ganze Zeit war er ruhig. Jetzt blinkt ein kleiner roter Punkt im Cockpit, er gehört zu einer Kamera. Gleich soll er eine Rede an die Nation halten. Er sagt sich den Text noch einmal vor: Ich, der erste Deutsche …

Angst? Ach, was!

„Die Vorstellung, dass ich gleich live im Fernsehen zu sehen sein würde, machte mich viel nervöser als der Start“, sagt Sigmund Jähn heute, 36 Jahre später. Er sitzt mit schneeweißem Haar am Wohnzimmertisch in seinem Haus am Rande von Strausberg, blickt hinaus auf den stillen See, der gleich hinter seinem Garten beginnt. „Dabei hatte ich meinen Text auswendig gelernt, und ich hatte ihn sogar vor mir liegen!“ Der 76-Jährige lächelt, ein wenig verlegen.

Kosmonaut Sigmund Jähn in seiner Wohnung in Strausberg
Sigmund Jähn, 36 Jahre später.

© picture alliance / dpa

Keine Vorfreude? Sigmund Jähn schüttelt den Kopf. Angst? Davor, dass etwas schiefgehen könnte? Vor dieser unfassbaren Erfahrung? Er schüttelt jetzt wieder den Kopf, heftiger, seine schneeweißen Haare geraten in Bewegung. „Nein, Angst darf man als Flieger nicht haben.“

Wen einmal die Weite des Alls umfangen hat, hält die Antworten auf Erden gerne knapp. In einem Dokumentarfilm über die amerikanischen Apollo-Missionen sagt ein Astronaut: „Die Frage, wie er sich fühlt, kann ein Astronaut nicht beantworten. Nicht, weil er nicht will, sondern weil Gefühle für ihn während der Mission einfach keine Rolle spielen – er muss funktionieren.“ Und: „Wir Piloten sind nicht gut darin, der Menschheit das All näherzubringen.“

1961 flog der Erste ins All

Die Reise ins All ist ein Menschheitstraum, seit Anfang des 17. Jahrhunderts das Fernrohr erfunden wurde und damit der Mond als Himmelskörper erkannt. Der Naturphilosoph Johannes Kepler beschrieb wenig später, im Jahr 1634, als einer der Ersten eine fiktive Reise zum Mond. Im Jahr 1961 flog der Russe Juri Gagarin als erster Mensch ins All. Und 40 Jahre später reiste der erste Weltraumtourist, der US-Amerikaner Dennis Tito, zur Internationalen Raumstation. Viele würden es ihm gerne gleichtun, sofern sie die 20 Millionen Euro übrig hätten, die der Flug kostete. Die Warteliste der Weltraumtouristen ist lang.

Zur Marsmission sagt Jähn: Das ist ein Himmelfahrtskommando

Diese Sehnsucht ist in den vergangenen Wochen wieder so konkret geworden wie schon lange nicht mehr. Anfang Januar meldeten sich gleich 200 000 Menschen, als eine niederländische Firma Freiwillige für einen Flug zum Mars suchte – obwohl es eine Mission ohne Rückkehr sein soll. Hinter dem Aufruf steckte der Unternehmer Bas Landsdorp. 2023 will er den Mars besiedeln lassen, finanziert werden soll das Ganze mit TV-Übertragungs-Rechten. Die Reise und das Leben auf dem Mars sollen rund um die Uhr im Fernsehen zu sehen sein.

Sigmund Jähn sagt: „Das ist ein Himmelfahrtskommando. Die Leute, die da mitfliegen wollen, können sich gleich auf der Erde umbringen.“

Auch andere Raumfahrtexperten nehmen das Projekt nicht ernst. Sie gehen davon aus, dass frühestens in den 30er Jahren ein bemanntes Raumschiff auf dem Mars landen könnte. Für diesen Zeitraum planen etwa die USA ihre erste bemannte Marsmission.

Der Mars ist der Erde am ähnlichsten

So unglaubwürdig und verrückt das niederländische Vorhaben auch klingt, es zeigt: Fast 50 Jahre nach der ersten Mondlandung scheint die Menschheit auf den nächsten großen Schritt zu warten, auf einen bemannten Flug zum Mars, jenen Planeten unseres Sonnensystems, der der Erde am ähnlichsten ist. Der Mond hingegen erscheint nach elf bemannten Missionen so nah wie der nächste Kontinent.

Die Sehnsucht, das All zu erkunden, hat wohl nicht nur mit Neugierde zu tun, sondern auch mit dem Wunsch, die Grenzen der Menschheit zu überwinden, unsere eigene Kleinheit. Schließlich ist unsere Erde nur ein kleiner Planet in unserem Sonnensystem, das sich in einem kleinen Spiralarm unserer Galaxie bewegt. Unsere Galaxie, die Milchstraße, ist nur eine von mindestens 1300 Galaxien in einem Galaxienhaufen, der wiederum Teil eines Superhaufens ist, in dem sich mindestens hundert weitere Galaxiehaufen bewegen. Und dieser Superhaufen wiederum ist nur Teil des von der Menschheit überhaupt beobachtbaren Universums.

2008 landete die erste Sonde

Seit den 60er Jahren jedenfalls werden Sonden zum Mars geschickt, 1976 landete die erste auf dem Planeten. Seit vielen Jahren arbeiten Forscher daran, ihr einen Menschen folgen zu lassen.

Weil die bemannte Raumfahrt immer auch ein Prestigeprojekt einzelner Nationen ist, könnte der Vorstoß des niederländischen Unternehmers die Mars-Premiere beschleunigen. Neil Armstrong wäre wahrscheinlich auch später als 1969 auf dem Mond gelandet, hätte die Sowjetunion nicht im Jahr 1957 den Sputnik ins All geschossen, den ersten Satelliten, und damit den Wettlauf in den Weltraum begonnen.

Jähn flog als Bordingenieur an der Seite des Kosmonauten Waleri Bukowsky zur Raumstation

Als der Sputnik ins Weltall flog, saß Sigmund Jähn vor dem Fernseher. Er steckte gerade in der Ausbildung zum Jagdflieger und war fasziniert. Nur wenige Tage später kaufte er ein Buch über die Raumfahrt, die Sehnsucht hatte ihn gepackt. Bis im Sommer 1976 eines Morgens Oberstleutnant Jähn von seinem Vorgesetzten angesprochen wurde. Jähn stand gerade auf dem Flugplatz in Strausberg und besprach mit anderen Piloten die nächsten Flüge. „Der Chef der Luftstreitkräfte will dich sprechen“, sagte der Vorgesetzte. Jagdflieger Jähn, mittlerweile verantwortlich für Flugsicherheit, schaute fragend. Doch sein Vorgesetzter zuckte nur ratlos mit den Schultern. Im Vorzimmer warteten bereits etwa 20 weitere Männer, alles hochrangige Flieger der Luftstreitkräfte. Einer nach dem anderen wurde hineingerufen. Als der fünfte Mann wieder herauskam, machte er mit dem Daumen eine langsame Bewegung in Richtung Himmel. Da wusste Sigmund Jähn: Es geht um einen Allflug.

Auf dem Drehstuhl wurde vielen schlecht

Zwei Tage Bedenkzeit habe er, damit er auch mit seiner Frau sprechen könne, sagte der Chef. „Ich brauche keine Bedenkzeit“, antwortete Jähn. Er habe gewusst, dass seine Frau nichts dagegen haben würde, sagt Jähn  – und gibt dann lächelnd zu: „Und selbst wenn: So eine Chance lehnt man nicht ab.“

Sigmund Jähn wurde mit neun weiteren Piloten zu einem Auswahlverfahren nach Dresden eingeladen. Als die Kandidaten 15 Minuten auf einem Drehstuhl bei hoher Geschwindigkeit und wechselnder Richtung bestimmte Bewegungen mit den Händen ausführen sollten, schieden die Ersten aus. Ihnen war schlecht geworden. Nach zwei Jahren Ausbildung in der Sowjetunion stand fest: Jähn würde als Bordingenieur an der Seite des Kosmonauten Waleri Bukowsky zur Raumstation Salut 6 fliegen.

Sein Vater weinte nachts

Wenige Tage vor dem Abflug weckte Jähn eines Nachts ein lautes Schluchzen aus dem Nebenzimmer. Es war sein Vater, der zu ihm nach Moskau gereist war. „Was soll ich bloß machen, wenn du nicht zurückkommst?“, fragte er ihn, als Jähn an seinem Bett stand. „Keine Sorge, ich werde wiederkommen.“ Jähn erinnert sich nicht daran, auch nur einen Moment lang Angst gehabt zu haben, nicht zurückzukehren. „Wenn ich überhaupt an so was gedacht habe, dann habe ich mir bestimmt sofort gesagt: ,Unter die Erde kommst du sowieso.’“

Erst als die Kapsel 80 Kilometer hoch war, wurde es hell

Nur ein Kilo Gepäck durfte er mitnehmen. Er packte Fotos und einen Schal seiner Tochter ein, dazu Umschläge mit Briefmarken, die extra für den Flug gedruckt worden waren und die er im All abstempeln würde. Die sowjetischen Kosmonauten-Kollegen hatten ihm gesagt, Sammler würden für diese Briefmarken viel Geld bezahlen. Damals konnte er nicht ahnen, dass ihn manche auch heute noch nach diesen Marken fragen würden.

Beim Start gab es einen Knall

Als das Raumschiff gestartet wurde, hörte Jähn einen lauten Knall. Wenige Sekunden später fühlte er sich unendlich schwer, ähnlich wie in der Zentrifuge. Weil es ein Nachtstart war, sah er nichts aus dem fußballgroßen Fenster an seiner Seite. Erst als die Kapsel 80 Kilometer hoch war, wurde es hell und er konnte eine riesige Landmasse erkennen. Nach 220 Kilometern hatte das Schiff die endgültige Geschwindigkeit erreicht, 28 000 Stundenkilometer. Da hatte Jähn plötzlich das Gefühl, er würde liegen, obwohl er noch immer in seinen Stuhl geschnallt war – die Schwerelosigkeit.

Fast acht Tage lang blieb Jähn im All. Die Kosmonauten aßen einen Brei, der aus einem Pulver und mit der Feuchtigkeit der Atmosphäre angerührt wurde, die aus Atemluft und Schweiß entsteht. Er schlief kaum, weil er wegen der Schwerelosigkeit das Gefühl hatte, immer auf dem Bauch zu liegen, eine Schlafposition, die er nicht mag. Er machte Aufnahmen mit der Multispektralkamera, prüfte, wie sich die Schwerelosigkeit auf das Sprechvermögen auswirkt und auf das Zellwachstum; hielt Ansprachen im sowjetischen und im DDR-Fernsehen.

Er schaute aus dem Fenster - und staunte

So oft es ging schaute Jähn aus dem Fenster, staunte, dass die Erde wirklich rund war, dass die Sonne im All wirklich 16 Mal in 24 Stunden auf- und unterging, dass Italien wirklich die Form eines Stiefels hatte. Und er wünschte sich, dass der Bordingenieur der Langzeitbesatzung frühzeitig nach Hause fliegen wollte. Denn dann hätte er ihn ersetzen müssen.

Sigmund Jähn zeigt in seinem Wohnzimmer jetzt ein Bild, das er im Weltall aufgenommen hat. Zu sehen ist ein hellblauer Bogen, der sich über einen schwarzen Hintergrund spannt, in der Mitte des Bogens leuchtet ein gelber Ball. „Ein Sonnenaufgang“, sagt er und lächelt. „Das muss man sich noch viel brillanter und schillernder vorstellen.“ Er blickt hinaus aus dem Fenster, doch er scheint weit weg vom Straussee. „Ich habe Polarlicht-Erscheinungen gesehen, grüne, gelbe, bläuliche Vorhänge, die über der Erde hängen.“ Pause. „Wenn ich irgendetwas vermisst habe da oben, dann eine richtig gute Kamera.“

Die Mission hat Jähn verändert: Ich bin reicher geworden.

Als Jähn in der kasachischen Steppe landete, wäre er am liebsten gleich wieder losgeflogen. Doch die DDR und die Sowjetunion hatten anderes mit ihm vor. Er sollte von jetzt an den Volkshelden geben, er sollte das Gesicht des Triumphs der DDR über die BRD in der Raumfahrt sein. Er wurde durchs Land gekarrt, musste winken, umarmen, reden, Blumen entgegennehmen. Nach ihm und seinem sowjetischen Kollegen wurde die Berliner Allee der Kosmonauten benannt. Fast jeder ehemalige DDR-Bürger erkennt Jähn auf der Straße.

Ins All aber flog Jähn nie wieder. Zwischen den Auftritten als Volksheld bildete er Kosmonauten aus, nach 1990 beriet er das russische Kosmonautenausbildungszentrum, außerdem das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt und später die Europäische Weltraumorganisation ESA in Paris.

Die Erde von der Seite - was für ein Anblick

Hat er sich da oben verändert? Wieder schüttelt er den Kopf. Dann überlegt er kurz. „Vielleicht ist mir noch klarer geworden, dass wir unsere Erde gesund erhalten müssen. Dass es keine zweite gibt.“ Schließlich sagt Jähn: „In jedem Fall bin ich reicher geworden. Ich habe unsere Erde von der Seite gesehen! Wer das nicht gesehen hat, hat schon etwas verpasst.“

Kein Tag vergeht seither, an dem Sigmund Jähn nicht an seinen Weltallflug denkt. Nicht nur, weil er täglich Medikamente gegen jene Rückenschmerzen nimmt, die ihn seit seiner Rückkehr und der unsanften Landung in der kasachischen Steppe begleiten: Sein Fallschirm öffnete sich zu spät und Jähn prallte auf den Boden.

Der Mond war noch so fern

Immer noch bekommt er fast ausschließlich Geschenke, die irgendetwas mit dem Weltall zu tun haben. Über seiner Haustür hängt eine Tafel, auf der ein Raumfahrer über der Erde zu sehen ist, sein Autoschlüssel hängt an einer Medaille, die einen Astronauten im Weltall zeigt. „Im Grunde war ich gar nicht weit weg von der Erde“, sagt Jähn. „Der Mond und die Sterne sahen nicht anders aus als vom Erdboden.“ Von der sowjetischen Raumstation, die in einer Entfernung zwischen 220 und 275 Kilometern um die Erde kreiste, war der Mond immer noch mehr als 384 000 Kilometer entfernt.

Würde man Sigmund Jähn heute anbieten, bei einer seriösen Mission zum Mars mitzufliegen, und wäre er ein paar Jahre jünger – er wäre sofort dabei.

Erschienen auf der Reportageseite

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