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Geplante Neuregelung: Organspenden: Die letzte Frage

Der plötzliche Tod eines Angehörigen. Und dann auch noch die Entscheidung: Organspende – ja oder nein? Ein neues Gesetz soll verhindern, dass so eine Situation zum Albtraum wird.

Acht Wochen ist es her, dass Jacob starb. Am 29. September um 18 Uhr 41 rief er seine Freundin an, sagte, er sei gleich bei ihr, und stieg auf sein gerade drei Wochen altes Rennrad. Neun Minuten später nahm ihm ein abbiegender Mercedes die Vorfahrt. Der 23-Jährige bremste, stürzte, schlug hart auf den Asphalt. Als der Notarzt zur Unfallstelle kam, lag die Kette noch im 24. Gang, das Rad hatte keinen Kratzer. Bei Jacob diagnostizierten die Ärzte ein multiples Schädeltrauma.

Über das, was danach geschah, sagt Astrid Burkhardt, seine Mutter: „Ich wollte das.“

14 Jahre ist es her, dass der Sohn von Renate Focke starb. Kurz danach kamen die Albträume. Manchmal sah sie seine Leiche in einem Aquarium treiben. Sie träumte von seinem leeren Grab, von blutigem Operationsbesteck.

Auch Arnd Focke starb nach einem Verkehrsunfall. Aber anders als Astrid Burkhardt ist Renate Focke mit dem, was danach geschah, bis heute nicht versöhnt.

Arnd Focke und Jacob Burkhardt wurden im Krankenhaus auf Anfrage der Ärzte und nach Einwilligung ihrer Familien zu Organspendern. Zwei Tote, zwei trauernde Familien und sechs oder acht gerettete Leben. So weit die Zahlen.

Oktober 2011. Renate Focke, heute 66, sitzt in einem Restaurant in Berlin-Schöneberg. Die Stimme der zierlichen Frau klingt zerbrechlich, wenn sie über den Herbst 1997 spricht. Den Moment, in dem der Anruf kam.

Gemeinsam mit ihrem Mann war sie auf Städtereise in Dresden. Das Telefon klingelte, die Tochter war dran. Es habe einen Unfall gegeben, sagte sie. Eine Frau habe Arnd angefahren. Er war schwer verletzt. Schon am Unfallort musste er beatmet werden.

Im Auto rasten die Fockes von Dresden nach Siegen. Immer wieder hielten sie an, um von Raststätten aus mit der Klinik zu telefonieren. Irgendwo auf der Autobahn in Thüringen erfuhren sie, dass ihr Sohn ins Koma gefallen war.

Arnd Focke war 27 Jahre alt, verheiratet. Er schrieb an seiner Doktorarbeit in Chemie.

„Als wir im Krankenhaus ankamen, fühlten wir uns wie Marionetten“, sagt Renate Focke. Ihr Sohn lag mit sechs anderen in einem Raum. Keine Trennwände, keine Privatsphäre. Immer wieder wurden sie aus dem Zimmer geschickt. Untereinander, das konnten sie hören, sprach das Personal von den Patienten nur als „den Hirnis“.

Renate Focke hatte Schwierigkeiten, die Situation zu begreifen. Die äußerlich nur minimalen Verletzungen standen im krassen Widerspruch zu dem, was die Ärzte ihnen sagten: dass Arnd nur wenig Überlebenschancen habe, dass die Diagnose Hirntod wahrscheinlich sei.

„Dann wird ja die Frage nach Organspende auf uns zukommen“, sagt Renate Fockes Mann damals mechanisch. Doch die Frage kam nicht. Stattdessen gratulierte ihnen eine der Stationsschwestern am nächsten Tag zu der Entscheidung, einer Organspende zugestimmt zu haben. Die Fockes fühlten sich überrumpelt. „Wir hatten doch gar nicht zugestimmt“, sagt Renate Focke. „Und dann hatten wir plötzlich den Eindruck, wir müssten jetzt ganz schnell Ja sagen.“ Sie diskutierten, es gab Meinungsunterschiede, die Tochter war gegen eine Spende. Arnds Frau jedoch sagte, ihr Mann habe sich einmal dafür ausgesprochen. Schließlich signalisierten sie Zustimmung.

Ihr Sohn war doch sozial? - Wer kann da schon widersprechen? - Lesen Sie mehr auf Seite zwei.

Am Tag danach kam dann eine Mitarbeiterin der Deutschen Stiftung Organtransplantation, DSO. Die in Frankfurt am Main ansässige Organisation ist die bundesweite Koordinierungsstelle für Organspenden. Einen Raum für das Gespräch habe ihnen das Klinikpersonal nur widerwillig überlassen, erinnert sich Renate Focke. Als die Familie der DSO-Koordinatorin schließlich gegenübersaß, begann die das Gespräch mit einer Frage: „Ihr verstorbener Mann, Ihr Sohn, Ihr Bruder war doch sicher ein sozialer Mensch?“

Renate Focke empfindet die Frage noch immer als infam. Wer könne da schon widersprechen?

Nach einer halben Stunde unterschrieben Arnds Frau und seine Mutter gemeinsam ein DIN-A4-Blatt, kreuzten die Organe an, die entnommen werden durften. „Danach“, sagt sie, „hatten wir das Gefühl, wir stünden nur noch im Weg.“ Sie verließen das Krankenhaus, ohne ihren Sohn noch einmal zu sehen. Sie sei damals um den Abschied von ihrem Kind betrogen worden, sagt sie. „Wir fühlen uns von den Ärzten über den Tisch gezogen.“

Das sei genau das, was nicht passieren dürfe, sagt Ralf Conrad, 49, grauer Bürstenschnitt, grauer Pullover, rahmenlose Brille. „Wir haben nichts davon, wenn die Leute im Nachhinein ihre Entscheidung bereuen“, sagt er. „Das ist die schlechteste Publicity, die man sich vorstellen kann.“ Und Publicity, Werbung, brauchen sie. Die Zahl derjenigen, die eine Organspende benötigen, ist immer noch mehr als zehnmal höher als die Zahl der gespendeten Organe.

Conrad sitzt in einem Büro der Berliner Zentrale der DSO, aus den Fenstern hinter ihm hat man einen Panoramablick über die welkenden Bäume des Berliner Tiergartens. 20 Jahre lang war er Anästhesist auf der Intensivstation, seit fünf Jahren ist er DSO-Koordinator, einer von 65 in Deutschland, einer von acht in der Region Nord-Ost, zu der Berlin zählt. „Es sind Extremsituationen, in denen wir die Leute ansprechen“, sagt er. Und er weiß, dass viel schiefgehen kann.

Renate Focke schüttelt immer wieder den Kopf, wenn sie erzählt. Bis heute fühlt sie sich schuldig, weil sie der Organspende zugestimmt hat. Sie hat im Nachhinein versucht, ihre Zweifel mit der DSO-Koordinatorin zu bereden, aber die habe das nicht gewollt. Die Fockes haben Konsequenzen gezogen und engagieren sich mit Gleichgesinnten gegen die Organspende. Es sind fast alles Eltern, die die Organe ihre Kinder freigaben. Sie drucken Broschüren, sprechen auf Kongressen. Der gemeinsame Kampf scheint ihnen Halt zu geben, sie zu retten vor der totalen Verzweiflung, die vielleicht nur Eltern spüren, die ihr Kind nicht vor dem Sterben bewahren konnten. Manchmal, erzählt Renate Focke, zerrissen die Leute nach ihren Vorträgen ihre Spenderausweise. Man habe sie deswegen schon als Mörderin beschimpft. Doch das nimmt sie in Kauf.

"Ich habe nie das Gefühl gehabt, zu dieser Entscheidung gedrängt worden zu sein." - Mehr zum Thema Organspende auf Seite drei.

Astrid Burkhardt sitzt am Berliner Kurfürstendamm in einem Café, in dem sie sich gerne mit ihrem Sohn getroffen hat. Eine 55-jährige Frau mit kurzen Locken. Vor ihr steht eine volle Tasse Kaffee, der langsam kalt wird.

Vor ein paar Tagen hat sie einige Informationen über die Empfänger bekommen, über die Menschen, die Jacobs Organe erhielten. Es sind Männer aus Belgien, Slowenien und Deutschland. Sie weiß das von ihrem DSO-Koordinator, mit dem sie immer noch in Kontakt steht. Er war sogar auf der Beerdigung ihres Sohnes. Sie hat sich gefreut darüber.

Dann erzählt sie von dem Tag nach Jacobs Einlieferung, von seinem verletzten Kopf, der so furchtbar angeschwollen war. Davon, wie am nächsten Tag ein Arzt zu ihnen kam, um ihnen die Lage zu schildern. „Als er sagte, dass sein Herz es nicht mehr schaffe, Blut in sein geschwollenes Gehirn zu pumpen, wusste ich, dass es das jetzt war“, sagt sie.

Sie selbst war es, die das Gespräch auf die Organspende brachte. Der Arzt sagte, er hätte die Frage jetzt noch nicht gestellt, aber sie käme wohl auf. Sie sollten sich Zeit lassen mit der Entscheidung.

Auch die Burkhardts sprachen mit Verwandten, mit Freunden. Ihr Sohn hätte es gewollt, sind sie sich schließlich einig.

Auch bei ihnen kam am Tag darauf ein Mitarbeiter der DSO ins Krankenhaus. Er erklärte das Vorgehen, wie die Feststellung des Hirntods erfolgt, welche Organe genutzt werden können, wie die Entnahme vonstattengeht. Jacob wurde auf ein Einzelzimmer verlegt, sie sollten in Ruhe Abschied nehmen können. Sie selbst sollen bestimmen, wann sie so weit sind, sagte der Koordinator.

Während die DSO auf dem Flur mit Laptops und Handy ein improvisiertes Büro aufbaute, verbrachte die Familie noch ein paar Stunden zusammen. Kurz vor 21 Uhr machte Astrid Burkhardt das letzte Foto, dann verließen sie das Krankenhaus. In den frühen Morgenstunden des nächsten Tages wurde Jacob operiert.

Sie habe nie das Gefühl gehabt, sie sei zu der Entscheidung gedrängt worden, sagt Astrid Burkhardt rückblickend.

Derzeit sind es in 90 Prozent der Fälle die Angehörigen, die entscheiden müssen, ob ein Mensch Organspender wird oder nicht. Denn momentan besitzen selbst Menschen, die spenden würden, in der Regel keinen Spenderausweis, auch Ralf Conrad hat erst einen, seit er bei der DSO anfing. Um das zu ändern, erklärten gestern alle im Bundestag vertretenen Fraktionen, noch bis Ende des Jahres einen gemeinsamen Antrag zum Thema vorzulegen. Danach soll jeder Bürger wenigstens einmal im Leben – etwa beim Versand der Versichertenkarte – mit der Frage konfrontiert werden, ob er zu einer Organspende bereit ist.

Die DSO hat sich zum Ziel gesetzt, allen Bedürftigen „so schnell wie möglich die notwendige Transplantation zu ermöglichen“. Bezahlt wird die Stiftung von den gesetzlichen Krankenkassen nach der erwarteten Zahl der entnommenen Organe, parlamentarische Kontrolle findet nicht statt. Conrad versteht sich in erster Linie als Anwalt für die Organempfänger, deren Leben von einer Spende abhängt. Deshalb habe auch er sich schon dem Vorwurf ausgesetzt gesehen, er wolle nur die Organe, sagt er.

Ende Oktober erschien ein anonymer Brief, in dem mutmaßlich Mitarbeiter der DSO die Führung beschuldigen, durch Konzeptlosigkeit und Ressourcenverschwendung für den Rückgang der Spender verantwortlich zu sein. Von Januar bis September 2011 sank deren Anzahl im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um sechs Prozent auf gerade mal 902. Ein paar Menschen weniger als die, die jedes Jahr sterben, weil ein passendes Spenderorgan fehlt.

Wie viel Unabhängigkeit kann von den Koordinatoren also erwartet werden?

Ein ehrliches Nein ist besser als ein abgerungenes Ja. - Mehr zum Thema Organspende auf Seite vier.

„Zu sagen, wir wären neutral, ist sicher das falsche Wort“, sagt Conrad nach einer langen Pause. Es gebe aber keine Quote, wie viele Zustimmungen sie einholen müssten. Jeder habe das Recht abzulehnen, und in der Hälfte der Fälle entschieden die Befragten auch so. Er wolle niemanden überreden, sagt er. Ein ehrliches Nein sei ihm lieber als ein abgerungenes Ja. Es komme auch vor, dass das Gespräch gar nicht begonnen werde, wenn klar ist, dass die Angehörigen nicht in der Lage sind, die Geschehnisse zu verarbeiten. Man glaubt ihm das. Die Anteilnahme klingt aufrichtig.

Auch dass ein Fall wie der der Fockes heute dank gestiegener Sensibilität so nicht mehr vorkommen könne, behauptet Conrad nicht. Im Gegenteil. Der Druck auf den Intensivstationen wachse ständig. Außerdem gebe es für Ärzte kaum Schulungen, wie Angehörigengespräche zu führen seien. Trotzdem werden die DSO-Koordinatoren nur in rund 15 bis 20 Prozent aller möglichen Gespräche gerufen. Conrad wünscht, es wäre häufiger.

Seine Kollegen und er werden unterrichtet, bekommen Schulungen, proben mit Schauspielern. Ein Leitfaden erläutert den idealen Aufbau eines Gesprächs. Allerdings stammt auch der Satz „Ihr Angehöriger war doch sicher ein sozialer Mensch“, der Renate Focke bis heute aufregt, aus den Empfehlungen der DSO.

Conrad benutzt den Satz nicht. Wegen seines erpresserischen Potenzials. Er beginnt seine Gespräche meist mit einer Zusammenfassung dessen, was passiert ist. Wenn die Regeln der Intensivstation es zulassen, trägt er dabei private Kleidung, um seine Distanz zum Krankenhaus zu unterstreichen. Er halte nichts von Druck. Auch Mitleid erzeugen für die, die ein Organ brauchen, funktioniere nicht. Idealerweise gelinge es ihm, dem Tod noch einen Sinn zu geben.

Zeit hat er dafür, so viel er will. Er habe auch schon acht Stunden mit Eltern zusammengesessen, die gerade ihre kleine Tochter verloren hatten. Irgendwann habe auch er dann geheult.

„Einer der größten Fehler ist, wenn die Betroffenen das Gefühl bekommen, dass ein Ja ihren Angehörigen zum Tod verdammt“, sagt er. „Dass sie glauben, hätten sie abgelehnt, könne er noch leben.“ Die Angehörigen müssten verstehen, dass sie sich entscheiden können, wie sie wollen. Aber egal, welche Wahl sie treffen, ihr Angehöriger ist tot. Eine Spende könnte jedoch anderen Menschen das Leben retten.

Aber Renate Focke findet keinen Trost in der Vorstellung, dass ihr Sohn anderen das Weiterleben ermöglicht hat. Man könne das Leid eines Menschen nicht gegen das Wohl eines anderen aufwiegen, sagt sie. Für sie ist der Hirntod nicht das Ende des Lebens, sondern nur eine Stufe im Sterbeprozess, weil die Körperfunktionen bis zur Organentnahme maschinell aufrechterhalten werden müssen. Darüber würden die Ärzte nicht sprechen. Deshalb tut sie es. Bald ist sie wieder auf einem Kongress.

Astrid Burkhardt hat vor ein paar Wochen eine Talkshow gesehen, in der über die Definition und die Verlässlichkeit des Hirntods diskutiert wurde. Das habe sie jedoch nicht verunsichert. Sie habe genug Informationen gehabt. „Mein Sohn war tot“, sagt sie. „Die Spende war eine Möglichkeit, etwas am Leben zu halten und zu helfen.“ Sie findet Trost in dem Wissen, dass Jacobs Herz weiterschlägt – wenn auch nicht in seinem Körper.

Vor einer Woche hat sich auch Astrid Burkhardt einen Organspendeausweis besorgt. Seitdem liegt er auf ihrem Schreibtisch. Unterschrieben hat sie noch nicht. Etwas in ihr sträube sich noch.

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