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Geschichte: Der Rechtsraum in Nürnberg

Wenn in Saal 600 Verhandlungen stattfinden, geht immer wieder die Tür auf, und Touristen kommen herein. Denn das ist der bekannteste Gerichtssaal der Welt. Vor 65 Jahren begannen hier die Nürnberger Prozesse gegen die Nazi-Verbrecher.

Auf der Anklagebank sinkt ein Familienvater in sich zusammen. Hermann H., schütteres Haar, Strickjacke, wollte nicht, dass seine Frau sich scheiden lässt. Er betrank sich, nahm ein Klappmesser und ging auf sie los. Jetzt steht er vor Gericht und duckt sich hinter seinem Verteidiger weg. Polizisten, Zeugen und Gutachter betreten den Saal, werden vom Richter belehrt, sagen aus. Eine typische Beziehungstat, ein typischer Tag in der deutschen Justiz.

Ungewöhnlich ist der Ort, der Saal 600 des Nürnberger Justizgebäudes. Es ist der bekannteste Gerichtssaal der Welt. Dort, wo Hermann H. seit Stunden zu Boden starrt, saßen einst die höchstrangigen Vertreter des NS-Regimes. In zwei Reihen, bewacht von Uniformierten. Einige mit Sonnenbrillen, weil das Licht im Saal wegen der Kameralampen so grell war. Es war der 20. November 1945, der Beginn der Nürnberger Prozesse. 65 Jahre später soll die historische Bedeutung des Schwurgerichtsaals nun auch offiziell werden. Die Stadt Nürnberg würde ihn gerne als Weltkulturerbe sehen und plant einen Antrag bei der Unesco. Weil der Saal für eine Idee stehe, ein modernes Völkerstrafrecht.

Saal 600 ist kleiner, als man denken würde bei damals 21 anwesenden Angeklagten, ihren Verteidigern, acht Richtern, vier Anklägern, 240 Presseleuten und den vielen juristischen Mitarbeitern, Dolmetschern und Sekretärinnen. Die Wände sind mit dunklem Holz getäfelt, ein Relief zeigt Adam und Eva mit der Schlange. Im Zuschauerraum sitzen die beiden Töchter von Hermann H.. Eine war zufällig nach Hause gekommen, als ihr Vater in der Waschküche des Hauses auf die Mutter losging. Hermann H. ergriff die Flucht, seine Frau überlebte schwer verletzt.

Worte wie „dissoziatives Verhalten“ und „Affekthandlung“ erfüllen den Raum. Es geht um H.s Alkoholprobleme und die kaputte Ehe. Seine Frau wollte weg, Unternehmerin mit einem eigenen Lkw sein. Hermann H. wollte, dass alles so bleibt, wie es ist. „Das ist nicht nur eine Beziehungstat, sondern auch ein Familiendrama“, sagt der Richter. Immer wieder klappt die schwere Holztür auf und jemand steckt den Kopf in den Saal. Amerikanische Studenten, Leute auf World-War-II-Tour, japanische Reisegruppen. Sie kommen zu jeder Tageszeit, erst unlängst stand wieder abends ein Grüppchen Russen vor dem Gericht und wollte in den Saal. Die Richter haben sich daran gewöhnt. Die Touristen gehören zum Saal 600 wie die Mordprozesse, die hier regelmäßig stattfinden.

Gerda-Marie Reizenstein weiß alles über den Saal. Sie ist eine elegante Richterin im grauen Hosenanzug, eigentlich zuständig für Fiskalsachen. Zu ihr kommen die Leute, die den Saal besuchen wollen, Bundestagsabgeordnete, Botschafter, ausländische Minister. Und außerdem die 20 000 Menschen, die jedes Jahr eine Führung machen, Studenten, Juristen, Schulklassen. In den 70er Jahren ging das los, erst kamen die Fernsehteams, dann so viele Besucher, dass man den Saal an den Wochenenden aufsperren musste.

Was interessiert die Leute an dem Saal? Erst einmal die Angeklagten, sagt Reizenstein. Ihre Taten, ihr Verhalten während des Prozesses. Heß, der den Unzurechnungsfähigen mimte. Jodl, der unter der Bank Romane las. Göring, immer links vorne, der auf die Gerichtsreporter von damals wirkte wie ein abgetakelter Operettenstar. Vor allem aber fasziniere die Leute das, wofür der Saal steht und weswegen er Weltkulturerbe werden soll. Dass hier ein internationales Gericht zusammenkam, um Angriffskrieg und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu bestrafen. Manche Besucher wollen auch nur sehen, wo „Das Urteil von Nürnberg“ spielt, der Film mit Marlene Dietrich. Die saß immer wieder mal auf der Zuschauerbank, in amerikanischer Uniform.

Arno Hamburger will nicht in den Saal, er kennt ihn. Als junger Mann hat er die Nürnberger Prozesse beobachtet, später bei den sogenannten Ärzteprozessen gedolmetscht. Hamburger, 87 Jahre alt, empfängt Besucher in dem Altersheim, in dem er lebt. Er sitzt im blauen Jackett an einem langen Konferenztisch, vor sich ein Telefon, das ständig klingelt. Hamburger hat viel zu tun, er ist Nürnberger Stadtrat für die SPD und Erster Vorsitzender der Israelitischen Kultusgemeinde in Nürnberg. Zehn Jahre war er, als die Nazis an die Macht kamen, mit 16 floh er nach Palästina. Seine Eltern mussten in Nürnberg bleiben. Hamburger ging zur britischen Armee, nach dem Krieg kam er als Soldat zurück. Bei den Nürnberger Prozessen brauchte man Leute wie ihn. Er war einer der wenigen, die Sütterlin-Schrift lesen konnten.

Hamburger erinnert sich vor allem an Julius Streicher. Wie der im Prozess dasaß und von nichts gewusst haben wollte. Hamburger hatte ihn noch mit Stiefeln und Reitpeitsche erlebt, beim Abbruch der Synagoge in Nürnberg. „Wenn man diese Leute gekannt hatte in ihrer Pracht, dann sah man erst, wie jämmerlich die waren.“ Und dann die Lügen der Angeklagten. „So wie ich die vorher gesehen hatte, dachte ich eigentlich, dass diese Herrenmenschen die Wahrheit hätten sagen müssen“, sagt Hamburger. Er hat eine leise Stimme, und je bitterer er wird, desto leiser spricht er.

Hat das Gericht an den 218 Verhandlungstagen die Wahrheit gefunden? „Das war leicht, es war ja alles da.“ Das habe es für ihn auch so schwer erträglich gemacht, an den Prozessen teilzunehmen. Dass alles „ohne Fehl und Tadel“ dokumentiert war. „Man hatte nicht nur die Toten als Beweis, sondern auch die Beschreibung davon.“ Einen Teil davon hat er selbst ins Englische übersetzt. Die Aufzeichnungen von KZ-Ärzten über ihre Experimente. Da gab es einen Doktor Rascher, der die Körpertemperatur von Häftlingen auf 26 Grad abkühlen ließ und sie dann mit „animalischer Wärme“ wiederbeleben wollte. Dafür mussten sich Frauen aus dem Konzentrationslager Ravensbrück nackt zwischen die Erfrorenen legen.

Die Arbeit vor Gericht habe ihn an seine körperlichen Grenzen gebracht, sagt Hamburger. Nicht weil das Dolmetschen so anstrengend war, die Nürnberger Prozesse waren die ersten, bei denen simultan gedolmetscht wurde. Sondern dass er als Übersetzer gewissermaßen zum Speicher des Bösen wurde. Hamburger kann bis heute die Dokumente wiedergeben, die er übersetzte. Den Brief etwa, in dem der Arzt Rascher darum ansuchte, seine Versuche von Dachau nach Auschwitz verlegen zu dürfen, weil das Areal dort größer sei und die Schreie der Erfrierenden verhallen würden. „Die Versuchspersonen brüllen, wenn sie sehr frieren“, zitiert Hamburger. Er spricht jetzt ganz leise. So, als könnte er das Gespeicherte dadurch löschen.

Hamburger konnte sich nicht einmal unter die anderen Prozessbeteiligten mischen, die nach den Verhandlungstagen ins Nürnberger Grand Hotel gingen, wo sie bei Alkohol und Musik versuchten zu vergessen. Hamburger musste sich um seine Eltern kümmern. Sie hatten den Holocaust in Nürnberg überlebt, weil Hamburgers Vater als Gleisbauarbeiter gebraucht wurde. Seine Großeltern hatten weniger Glück. Sie wurden nach Sobibor deportiert. Ob er beim Prozess ein wenig Genugtuung verspürt habe? „Das Ausmaß war so unbegreiflich, da kann es keine Genugtuung geben“, sagt Hamburger.

Richterin Gerda-Marie Reizenstein ist wieder mal auf dem Weg zum Saal 600. Aus einem Fenster sieht man auf die Reste des wuchtigen Gefängnisbaus, in dem die Angeklagten untergebracht waren. Dass die Prozesse in Nürnberg stattfanden, hatte nichts mit der Stadt zu tun, die für die Rassengesetze und Parteitage der Nationalsozialisten stand. Das Nürnberger Justizgebäude war das einzige, das nach 1945 noch stand und groß genug war. Der erste Verhandlungstag fand noch in Berlin statt. Im Kammergericht wurde im Oktober 1945 die Anklage übergeben.

Reizenstein geht eine schmale Treppe hoch zum Dachgeschoss. Über dem Saal 600 wird zum 65. Jahrestag des Prozessbeginns eine Ausstellung eröffnet, das sogenannte Memorium. An den schrägen Wänden hängen Schautafeln, auch Teile der originalen Anklagebank sind zu sehen. Die standen erst im Keller des Gerichts, dann waren sie im Deutschen Historischen Museum in Berlin und im Haus der Geschichte in Bonn. Am Sonntag wird die neue Dauerausstellung eröffnet werden. Außenminister Guido Westerwelle und Staatsminister Bernd Neumann werden Reden halten.

Durch kleine Fensterchen sieht man vom Memorium hinunter in den Saal 600. Auf den Zuschauerraum, der damals größer war, und wo Leute wie Erika Mann, Erich Kästner, Willy Brandt oder Markus Wolf saßen. Die Richter betreten den Saal, um das Urteil gegen den Familienvater Hermann H. zu verlesen. Er wird wegen versuchten Totschlags zu fünfeinhalb Jahren Haft verurteilt. Hermann H. wird abgeführt, der Saal leert sich. Ein typischer Tag der deutschen Justiz geht zu Ende. Der Saal wird in Betrieb bleiben, trotz Memorium, trotz Weltkulturerbe. An dem Ort, der Rechtsgeschichte schrieb, soll auch weiter Recht gesprochen werden.

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