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Geschichte: Das Grauen

Sie wollten kämpfen, harte Hunde sein. Aber der Schrecken des Krieges ist stärker. Er setzt sich fest, im Gemüt, im Herzen, auf der Seele. Er weicht nicht, er zeigt den Soldaten immer wieder die gleichen Bilder, immer wieder. Ein Trauma.

Vielleicht ist auch Christian Kurth eine solche Straße hinabgefahren. Die staubigen Felder liegen friedlich in der frühen Sonne, jene Art von Friedlichkeit, die in der Hitze des Tages allenfalls noch zu apathischer Stille wird. Nichts deutet auf Regen, und die Straße zieht sich geteert aus der Ebene in die Berge, entlang unfertiger Wohnhäuser auf steinigem Grund. Es wird viel gebaut seit einigen Jahren, dabei nur manches bis zu Ende. Eine karge Schönheit ist der Kosovo hier bei der alten Stadt Prizren. Hinter dem steilen Bergmassiv liegt Albanien, eines der vielen Armenhäuser Europas. Kinder winken der KFOR-Patrouille, ältere Männer grüßen.

„Ruhig, aber nicht stabil“ hatten die Hauptmänner des Einsatzbataillons ihrem Oberstleutnant Björn Schulz wieder bei der Morgenlage gemeldet. Ruhig, aber nicht stabil heißt, dass ethnisch und religiös verbrämte Gewalt, Schießereien zwischen Banden der organisierten Kriminalität, Rangeleien um Einfluss der Familien zu einer verborgenen Gefahr verschmolzen sind. Allerdings, stellt Schulz fest, kann die stets aufbrechen und einen schäumenden Mob aufwerfen. Ruhig, aber stabil heißt auch, dass der Kommandeur seine Einheiten vor Fahrlässigkeit aus Langeweile und Routine bewahren muss. „Wir müssen immer wieder erklären, was wir hier eigentlich tun“, sagt er.

Als Christian Kurth vor neun Jahren eine dieser Straßen entlangfuhr, war es noch anders. Kurth gehörte zum ersten Kontingent der KFOR-Truppen, er hatte sich für den Einsatz während der Sommermonate entschieden, „ich dachte, Weihnachten zu Hause, ist doch schöner.“ Zu Hause, da hatte er Frau und eine Tochter, noch keine vier Jahre ist sie alt.

An diesem Morgen kommt Kurth zum ersten Mal aus dem Lager, nach gut drei Monaten. Sonst arbeitet er in der Verwaltung, füllt Urlaubsanträge aus, zahlt den Sold. Eigentlich ein ruhiger Job, sagt er, aber ob der Umstände im Kosovo anstrengend und ohne große Abwechslung. Denn die Bedingungen sind prekär, der Krieg ist noch nicht lange aus. Er arbeitet in einer alten BH-Fabrik, sein Feldbett steht auf öligem Boden, die Trennwände aus Pappe seien verseucht gewesen. „Die Bundeswehr war sehr schlecht auf den Einsatz vorbereitet.“ An jenem Morgen sitzt er als Schütze auf dem Radpanzer, begleitet seinen Kommandeur.

Vor neun Jahren war die Straße noch nicht glatt geteert, höchstens geflickt. Auch gab es viele Häuser am Wegesrand noch nicht, allenfalls totes Vieh, ausgebrannte Vehikel und Müll. Die Fahrt ging an Flüchtlingstrecks, an Ruinen vorbei, unruhig und wenig friedlich war die Lage. Aber heiß, daran erinnert er sich. Was jetzt passierte, hat Christian Kurth etliche Male durchlebt, viel häufiger als er wollte. An einem Dorf staut sich der Verkehr, der Bundeswehr-Konvoi zieht vorbei. Ein Unfall. Ein Traktor hat ein kleines Mädchen überfahren, die Leiche liegt in ihrem Blut. Der Kommandeur befiehlt Kurth den Fahrer des Traktors zu bewachen, das Gewehr durchgeladen und entsichert. „Wir wussten, die waren hier alle bei der UCK, die haben alle eine Waffe. Ich hatte Befehl zu schießen, wenn der Fahrer sich gerührt hätte“. Der Fahrer rührt sich nicht, die Situation bleibt gespannt.

Kurth weiß, dass der Krieg auch hier mit bestialischer Gewalt gewütet hat, dass die Region bitterarm ist. Er weiß vielleicht auch, dass es eine patriarchale Gesellschaft ist, in der Mädchen nicht zählen. Nach einer Weile kommt der Vater des toten Mädchens aus dem Dorf. Er spricht etwas Deutsch und Christian Kurth kann noch immer seine Stimme hören: „Nicht so schlimm. Ich habe noch mehr Kinder“, sagt er. Das ist zu viel für Kurth, „da hat mich ein Hass auf diese Menschen gepackt. Auf dieses Volk, für das so was normal ist“. Am Abend ruft er seine Frau an, seine Tochter ist etwa so alt wie das tote Mädchen vom Straßenrand. An diesem Tag wird Christian Kurth krank und es dauert lange, bis jemand Ursache und Folgeerscheinung versteht.

Seit dem Engagement 1992 in Kambodscha waren bislang über 200 000 Bundeswehrsoldaten in Auslandseinsätzen. Politische Entscheidungen haben aus der „Friedensarmee“ der Nachkriegszeit nach der deutschen Einheit zu einer international agierenden Truppe mit Kampfeinsätzen gemacht. Dabei hat sich die Bundeswehr eher langsam an die Gefahren und Belastungen internationaler Einsätze gewöhnen müssen und stückweise ein System entwickelt, mit dem der Stress und die traumatischen Erfahrungen eines Kriegseinsatzes kompensiert und therapiert werden sollen. 2004 hatte das Ministerium sein „Medizinisch-Psychologisches Stresskonzept“ entwickelt. Ein psychosoziales Netzwerk aus Truppenpsychologen, einem Psychiater im Feldlazarett und den Seelsorgen wird seit 2005 etabliert. Aus den unteren Rängen werden speziell Soldaten als „Peers“ in einem Kurzseminar ausgebildet, sie sollen den psychischen Stress ihrer Kameraden bemerken können. Bundeswehrkrankenhäuser in Hamburg und Berlin arbeiten verstärkt mit Traumatisierten. Für manche kam diese Entwicklung spät, für Christian Kurth gerade noch rechtzeitig.

Während der Einsätze im Ausland führen die Trennung von der Familie, hohe Arbeitsbelastung, harsches Klima, fremde Umgebung oder einzelne Extremsituationen zu Schwierigkeiten, die oft erst viel später deutlich werden. Seit einigen Jahren löst die Bundeswehr ihre Kontingente alle vier Monate ab, auch das soll Belastungen verringern und das Wiedereingliedern erleichtern. Insbesondere die posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) sind allerdings ein wachsendes Problem. Dabei wird die Verarbeitung der sinnlichen Eindrücke im Gehirn derart gestört, dass alle Archivfunktionen aussetzen und keine Zeit- und Raumachsen den Erlebnissen zugeordnet werden. Das traumatische Erlebnis bleibt im hoch emotionalen „Mandelkern“ des Gehirns stecken und wird nicht auf der Hirnrinde, die eine Art kognitive Weltkarte der Erinnerung zeichnet, abgelegt. Das Trauma verfestigt sich im ersten Monat nach den Erlebnissen. Aus Schwächegefühlen wird Niedergeschlagenheit und Depression, aus Angstgefühlen werden Panikattacken. Die Betroffenen sind der ursprünglichen Situation durch Bilder, Gerüche oder Geräusche immer wieder ausgesetzt, ohne dass sie diese kontrollieren und verarbeiten können. „Intrusionen“ nennen Psychologen diese Traumafilme, die von Kleinigkeiten initiiert werden – „bei jedem Martinshorn ging es bei mir los“, sagt Christian Kurth. Schlafstörungen, Konzentrationsprobleme und Reizbarkeit waren die Folge. Er sah die Leiche, hörte die Stimme, fühlte die Spannung. Gegen die Bilder begann Kurth zu trinken.

Im Schnitt erkranken zwischen drei und acht Prozent der Soldaten in UN-Friedensmissionen an PTBS, bei besonderen Ereignissen, wie dem Massaker in Srebrenica sind die Zahlen deutlich höher. Insbesondere Kampfhandlungen verstärken Auftreten und Symptome, aus dem Irak kehren zwischen 15,6 und 17,1 Prozent der Soldaten mit PTBS zurück. Die Bundeswehr hat zwischen 1996 und 2007 etwa 800 Soldaten behandeln müssen.

Kriege und Kriseneinsätze wirken wie Schübe auf die Wehrpsychologie, da sie Neurosen und Traumata produzieren. Den Kriegszitterern des ersten Weltkrieges folgten die Magenkranken des zweiten. Die US-Armee brachte aus Korea- und Vietnamkriegen hunderttausende psychisch kranke Menschen zurück. Im Januar warnte die Organisation der „Iraq and Afghanistan Veterans of America“, dass geschätzt eine halbe Millionen traumatisierter Soldaten von der Regierung im Stich gelassen würden, die Zahlen der Suchtkrankheiten und Selbstmorde bei Rückkehrern aus dem Irak und Afghanistan schießen in die Höhe. In Europa haben vor allem die beiden Weltkriege die Disziplin verändert.

Wolfgang Leonhardy ist ein eher konservativer Mensch. Wenn man ihn fragt, seit wann er in der stillen Straße in Berlin-Wilmersdorf wohnt, hält der großgewachsene Mann in seinen raschen Schritten inne und lächelt: „Das kann ich ihnen genau sagen. Vor 85 Jahren. Ich bin in der Wohnung geboren“. Allerdings war er einmal für ein paar Jahre weg und um die geht es in unserem Gespräch. Wolfgang Leonhardy, Jahrgang 1923, war vom Frühjahr 1942 an höchstens auf Urlaubsschein in Wilmersdorf. Bis 1945 war er als Wehrmachtsfunker in Frankreich und Italien, später drei Jahre als Kriegsgefangener wieder in Frankreich. Auch wenn er etwas in seinem Gedächtnis nach Ortsnamen und Wegstrecken suchen muss, an vieles erinnert er sich lebhaft und erzählt Anekdoten, die den Unsinn des Krieges ausmalen. Er wirkt eher nicht traumatisiert.

Leonhardy, der aus einer preußischen Beamtenfamilie kommt, hat die Schlacht von Salerno miterlebt und verteidigte als Obergefreiter „das Vaterland“ auch an der Gustav-Linie, wie er sagt. Den Alliierten sollte in Mittelitalien der Vormarsch nach Rom verbaut werden. Alleine in der Schlacht um das strategisch wichtige Kloster Monte Cassino standen sich fast zweihunderttausend Soldaten gegenüber, 74 000 kamen zu Tode. Die Schlacht zog sich über Monate, wer einen Lagerkoller bekam, „war unten durch.“ Auf einer Höhe nahe der Frontlinie geriet Leonhardys Beobachtungsposten schließlich unter Granatbeschuss. Der Zugführer konnte ausweichen, den Richtkreisoffizier erwischten Granatsplitter schwer, Leonhardy eher leicht. Zum Ende des Krieges musste er noch einmal mit Hitlers letztem Aufgebot ran, ein zusammengewürfeltes Stellungsbataillon sollte das Saarland halten. Leonhardy bat seinen Vorgesetzten, einem Veteranen eine andere Aufgabe zu besorgen. Dieser zitterte und konnte kaum geradeaus schauen. „Fini la guerre“, nickt Leonhardy. Der Mann war einunddreißig.

Wie verarbeitet man diese Dinge, Herr Leonhardy? Die Antwort kommt nach einem Zögern, aber sie ist bestimmt. „Punkt eins war die Gemeinschaft. Ich hatte Glück, in meinem Jahrgang wuchsen wir in den Einheiten noch zusammen. Punkt zwei: Da musst du stur sein. Sonst scheißt du dir in die Hosen. Punkt drei: Wir sind von Kind an darauf hin gedrillt worden. Das war eine Erziehung zum Krieg.“

Die Gemeinschaft spielt bis heute eine wichtige Rolle, auch jetzt, auch heute, auch hier im scheinbar befriedeten Kosovo. Die Bundeswehr ist mittlerweile im 20. Kontingent vor Ort, das Land ist unabhängig und doch eine wichtige Stütze der organisierten Kriminalität; die Menschen bauen Einfamilienhäuser um die Wette und für Oberstleutnant Schulz heißt Gemeinschaft, auch auf die psychische Verfassung des Nebenmannes zu achten. „Wir müssen lernen, diese Dinge früh zu erkennen“, sagt er. Vor kurzem erst mussten sie einen Soldaten nach Hause schicken. Der kam aus einem Afghanistan-Einsatz und konnte im Kosovo nicht weiter. „Das ist furchtbar“, sagt Schulz und schaut am Reporter vorbei, „die Einheit ist so etwas wie die engste Familie“. Als der Soldat auf dem Weg zum Bus war, stand die Einheit Spalier.

„Natürlich geht es darum, die Leute hier einsatzfähig zu halten.“ Im Feldlager Prizren hat Katharina Hain-Daumdounis zu Espresso und Eis geladen. Sie ist die Truppenpsychologin und sitzt in der „Oase“. Die Oase ist ein länglicher Trakt, unterhalb der Kirche des Feldlagers. Eine Betreuungseinrichtung nennt die Bundeswehr so etwas, ein Café mit Terrasse, Blick auf das Beach-Volleyballfeld. Vor der Toilette gibt es einen „Raum der Stille“, mit Blumen, Tischdecke und Wasser. Die Oase ist die Betreuungseinrichtung des psychosozialen Netzwerkes.

Hain-Daumdounis hat eine zivile Ausbildung zur Psychologin und Traumatherapeutin gemacht, seit einem Jahr ist sie bei der Bundeswehr. Ihre Sprache ist noch nicht in der Förmlichkeit des Militärs erstarrt. „Wir sind immer noch nicht komplett integriert“, stellt sie fest, aber die Entwicklung sei positiv. Normalerweise arbeitet sie am größten Bundeswehrstandort der Bundeswehr, im niedersächsischen Munster. Sie ist die erste Truppenpsychologin der Kaserne.

„Am Anfang habe ich natürlich erst einmal alle Klischees zu hören bekommen.“ Und Klischees gibt es sehr viele. Zur Bundeswehr gehen nicht notwendigerweise Linke und emanzipierte Männer. Auf den Stuben der Mannschaften hängen Bilder barbusiger Frauen, Deutschlandfahnen und Autoposter. Die Auslandseinsätze, sagen viele, die schon länger dabei sind, haben eine andere Armee aus der Bundeswehr gemacht. Neben sozialer Sicherheit spielt auch Abenteuerlust eine Rolle. Machos geben in den Mannschaftsrängen gerne kernige Töne vor. Zum Männlichkeitsbild gehört eine sehr einfache Vorstellung von Stärke und Schwäche. Auch in Prizren wird klar, dass der psychosoziale Dienst bei Mannschaftsgraden oft so beliebt ist wie Flecktyphus. Manches hat sich nicht geändert. „Man wollte ein harter Krieger sein“, erinnert sich Kurth an seinen Einsatz, „den Vorgesetzten mal was zeigen. Je gefährlicher desto besser.“ Christian Kurths Stimme kippt etwas ins Verächtliche bei diesem Thema.

„Deshalb hängt vieles an den führenden Personen“, sagt Hein-Damdounis. „Und mittlerweile bin ich wirklich positiv überrascht, wie gut wir von denen eingebunden werden.“ Es gibt Stresstraining zur Vorbereitung, während des Einsatzes versucht der psychosoziale Dienst den Alltag der Truppen mitzuerleben, nach der Rückkehr ist ein Nachbereitungsseminar obligatorisch. „Wir haben verstanden“, signalisieren allenthalben Hauptmänner und Zugführer. Sie geben an, auf ihre Jungs zu achten. „Es ist eine Stärke, Schwächen zugeben zu können und früh dagegenzu- steuern“, meint Oberstleutnant Schulz. Es geht darum, das Stigma des Weicheis abzubauen. „Vielleicht“, hatte Wolfgang Leonhardy gesagt, „vielleicht ist das viel schlimmer heute, weil die Soldaten ja nicht von Kindheit dressiert worden sind.“ Es ist noch ein weiter Weg, sagen viele, vor allem für untere Ränge und die alten Vorstellungen. In der Oase in Prizren aber herrscht Betrieb, die Seelsorger werden frequentiert, grade weil sie außerhalb der Hierarchien stehen.

Im Bundeswehrkrankenhaus in Berlin-Mitte sitzt derweil Christian Kurth, er ist blass und schmal. Draußen lacht die Sonne über ein paar Regierungsgebäuden, dem Invalidenfriedhof und ein paar undeutlichen Baustellen. Das einzige Café mit Bioladen heißt „Am Ende der Welt“. Der Eingang zum Krankenhaus ist ein Glas- und Stahlriegel, ähnlich den Technikzentren oder Flughäfen. Orte, die man schnell wieder verlassen möchte. Christian Kurth aber war froh, dass er irgendwann hergeschickt wurde.

Über die Flure huschen Pfleger in weißen Uniformen, sie wirken mit ihren schwarzen Schulterklappen eher wie Stewards vom Kreuzfahrtschiff. Nur wenige Meter hinter Kurths Zimmer sitzt Oberfeldarzt Peter Zimmermann. Der war das Glück für Christian Kurth. Nach drei Jahren unterschiedlicher Behandlungen kam Zimmermann im Frühjahr 2003 ans Krankenhaus. Nicht der Alkohol sei sein Problem, hatte er Kurth gesagt, sondern ein Trauma. „Das Wort hatte ich bis dahin gar nicht gehört.“ Christian Kurth hat mittlerweile noch einen Sohn. Von dessen Mutter lebt er getrennt, genauso wie von der Mutter seiner Tochter. Zwölf seiner zweiunddreißig Lebensjahre hat Kurth nun in der Bundeswehr verbracht. Als er erzählt, dass sein Arbeitsvertrag im September endet, wirkt er das erste Mal erleichtert.

Lennart Laberenz

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