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Deutschland: Adenauers Bombe

West gegen Ost, die USA gegen die Sowjetunion – und Deutschland mittendrin. Der Kanzler holte 1957 die Atombombe in die Bundesrepublik: Er wollte das Land unangreifbar machen und löste einen Sturm von Protesten aus.

Die Teilnehmer am Nato-Gipfel, der genau heute vor 50 Jahren im Palais de Chaillot am Pariser Eiffelturm begann, waren ziemlich nervös. US-Präsident Eisenhower hatte darauf gedrängt, das jährliche Ministertreffen zu einer Konferenz der 15 Regierungschefs aufzuwerten. 1000 Journalisten waren angemeldet. Das jüngste Nato-Mitglied, die 1955 beigetretene Bundesrepublik, wurde durch den 81-jährigen Kanzler Konrad Adenauer vertreten. Der mehrtägige Gesprächsmarathon war gerade für ihn auch eine körperliche Strapaze.

Die Bundesrepublik war zwar Juniorpartner bei dieser Veranstaltung, trotzdem kam ihr eine besondere Rolle zu. Denn wenn es zu einem dritten Weltkrieg käme, dann, und darin waren sich alle einig, würde das geteilte Deutschland wohl im Brennpunkt stehen. Hier würde sich der Konflikt wahrscheinlich entzünden, hier würde er auch zu allererst ausgetragen. Und zwar mit Atomwaffen, denn seit 1954 galt die Nato-Doktrin der „Massiven Vergeltung“: Falls der Westen einem konventionellen Angriff nicht standhielte, würde sofort atomar zurückgeschlagen. Ein Schicksal, dem Adenauer am ehesten unter dem Dach der Nato zu entgehen glaubte.

Den Aufstieg der Bundesrepublik, die mit Wirtschaftswachstum, Vollbeschäftigung und bescheidenem Wohlstand glänzte, sahen die Siegermächte über Hitlerdeutschland durchaus auch mit Unbehagen. „Die Bundesrepublik ist nicht nur bei England, sondern auch bei den übrigen Nato-Staaten fast verhasst, weil man allgemein annimmt, dass sie Reichtümer angesammelt habe, während die anderen große Geldmittel zur Verteidigung verwendet hätten“, notierte Adenauer illusionslos in einem Strategiepapier vor der Pariser Konferenz.

Im Kalten Krieg mit den Warschauer- Pakt-Staaten war die Nato zu diesem Zeitpunkt in die Defensive geraten. Als das Bündnis im Frühjahr 1949 gegründet worden war, sah sich der Westen noch deutlich überlegen. Denn nur die USA besaßen zu diesem Zeitpunkt die Atombombe, ein Gegengewicht zur konventionellen Übermacht. An Letzterer änderte sich in den nächsten Jahren nicht viel. Zwar hatte die Sowjetunion die Truppenstärke der Roten Armee nach dem Zweiten Weltkrieg schrittweise reduziert, trotzdem standen 1957 in Europa etwa 4,7 Millionen Mann auf der Seite des Warschauer Pakts rund zwei Millionen auf der Seite der Nato gegenüber. Das Atom-Monopol hatte der Westen da längst verloren: Bereits ein halbes Jahr nach Gründung der Nato hatte die Sowjetunion ihre erste Atombombe gezündet.

1957 war ein besonders erfolgreiches Jahr für die sowjetischen Techniker: Während die Amerikaner ihre erste Interkontinentalrakete vom Typ Atlas gleich nach dem Start zerstören mussten, konnten die Sowjets den ersten gelungenen Test für sich reklamieren. Mit einem modifizierten Modell der R 7 „Semjorka“ hievten sie anschließend sogar die ersten beiden Satelliten ins All. Alle amerikanischen Städte rückten plötzlich in Reichweite sowjetischer Raketen. Wie glaubwürdig aber wäre die nukleare Drohung durch die USA, fragte sich Adenauer, wenn sie im Gegenzug mit einem Atomschlag auf Washington oder New York rechnen müsste?

Die Pariser Nato-Konferenz endete am 19. Dezember 1957 mit einer Erklärung, in der die Bündnispartner – wie von Adenauer gewünscht – eine engere Abstimmung ihrer Außenpolitik gelobten. Um den Sowjets Paroli zu bieten, beschlossen sie, in Europa Mittelstreckenraketen und Depots von Atomsprengköpfen zu stationieren. Diese Waffen sollten nach Freigabe durch den US-Präsidenten vom Nato-Oberbefehlshaber eingesetzt werden. Als Bündnismitglied wurde die Bundesrepublik indirekt zur Atommacht – und ist es bis heute geblieben, obwohl sie 1969 dem Atomwaffensperrvertrag beitrat und damit auf den Besitz eigener Kernwaffen verzichtete.

Adenauer wollte die Bombe. Nur durch militärische Stärke sei es möglich, „uns gegen den Bolschewismus zu sichern und Sowjetrussland schließlich dahin zu bringen, Bereitschaft zur Verständigung zu zeigen“, heißt es in seinen Erinnerungen an das Jahr 1957. Der Aufbau der Bundeswehr ging zügig voran: 1957 standen bereits rund 120 000 Soldaten unter Waffen, überwiegend Freiwillige, die von reaktivierten Wehrmachtsoffizieren geführt wurden. Eine Wirtschaftsmacht Deutschland mit eigener Atombombe allerdings war auch für die verbündeten Westalliierten eine Horrorvorstellung. Das Prinzip der nuklearen Teilhabe im Rahmen der Nato bot eine Möglichkeit, Adenauers atomaren Ambitionen entgegenzukommen und sie gleichzeitig unter Kontrolle zu halten.

Den Deutschen musste der Kanzler erst beibringen, die Bombe zu lieben. Den ersten Schritt hatte er auf einer Pressekonferenz im Bonner Bundeshaus am 5. April 1957 getan. Beiläufig erklärte Adenauer den bis dato gültigen Atomwaffenverzicht der Bundesrepublik für obsolet. Atomwaffen seien, „im Grunde nichts weiter als die Weiterentwicklung der Artillerie. Selbstverständlich können wir nicht darauf verzichten, dass unsere Truppen auch in der normalen Bewaffnung die neueste Entwicklung mitmachen.“ Mit Widerstand hatte Adenauer gerechnet, doch einen Proteststurm wie in den folgenden eineinhalb Jahren hatte die Bundesrepublik noch nicht gesehen.

Eine Meinungsumfrage im April 1957 ergab, dass 63 Prozent der Bundesbürger die Atombewaffnung der Bundeswehr ablehnten, nur 17 Prozent waren dafür. Gewerkschafter wie der IG-Metall-Vorsitzende Otto Brenner geißelten öffentlich die „militärische Gernegroßpolitik“ der Adenauer-Regierung. Es formierte sich eine breite außerparlamentarische Opposition, zu der sich nicht nur Linke bekannten. Auch Publikumslieblinge wie die Sängerin Lale Andersen („Lili Marleen“), der Filmstar Ruth Leuwerick („Vater braucht eine Frau“) oder der Showmaster Hans- Joachim Kulenkampff („Wer gegen wen?“) unterzeichneten öffentliche Manifeste gegen die Atomrüstung.

Besondere Autorität besaß der Widerstand durch das am 12. April 1957 veröffentlichte „Göttinger Manifest“, in dem 18 führende Atomforscher dem Kanzler vorwarfen, die nukleare Gefahr zu verharmlosen. Darunter Otto Hahn und Fritz Straßmann, die Entdecker der Uranspaltung, und die Nobelpreisträger Werner Heisenberg und Max von Laue. Besonders Hahn fühlte sich seit dem Abwurf der ersten Atombombe schuldig, weil seine Forschungen den Weg geebnet hatten. Heisenberg war in der Nazizeit führend am Atombombenprojekt des Heereswaffenamtes beteiligt gewesen. „Wir leugnen nicht, dass die gegenseitige Angst vor den Wasserstoffbomben heute einen wesentlichen Beitrag zur Erhaltung des Friedens in der ganzen Welt und der Freiheit in einem Teil der Welt leistet. Wir halten aber diese Art, den Frieden und die Freiheit zu sichern, auf die Dauer für unzuverlässig, und wir halten die Gefahr im Falle eines Versagens für tödlich“, schrieben die Forscher an den Kanzler. „Für ein kleines Land wie die Bundesrepublik glauben wir, dass es sich heute noch am besten schützt und den Weltfrieden noch am ehesten fördert, wenn es ausdrücklich und freiwillig auf den Besitz von Atomwaffen jeder Art verzichtet. “

Adenauer bestellte die Atomforscher ins Kanzleramt und ließ ihnen von zwei Bundeswehr-Generälen einen Nachhilfekurs über die militärische Weltlage erteilen. Adolf Heusinger und Hans Speidel hatten schon den Vormarsch der Wehrmacht auf Stalingrad dirigiert, nun erklärten sie, für die einheitliche Führung der Nato-Truppen sei es zwingend notwendig, die Bundeswehr mit den modernsten Waffen auszurüsten. Das Argument kannten die Forscher schon aus Gesprächen mit Adenauers Verteidigungsminister Franz Josef Strauß, der bis Herbst 1956 Atomminister gewesen war: „Ohne Atomwaffen wird Deutschland nur die Bäcker- und Küchenjungen für die Streitkräfte der anderen Alliierten abstellen.“

Die SPD-Opposition im Bundestag sprach sich klar gegen die Atomrüstung aus. Durch eine große Anfrage versuchte sie Adenauer im Mai 1957 als Kriegstreiber bloßzustellen, doch der Kanzler erwies sich als der gewieftere Taktiker. Er erklärte gleich zu Beginn der Debatte, er respektiere die Angst in der Bevölkerung vor Atomwaffen. Mit einer glatten Lüge suchte sein Verteidigungsminister, die Bevölkerung zu beruhigen: „Die Bundesregierung hat die Ausrüstung mit Atomwaffen bisher weder verlangt, noch ist sie ihr angeboten worden“, behauptete Franz Josef Strauß im Parlament und versicherte im gleichen Atemzug: „Zum Schutz der Bevölkerung vor den Auswirkungen von Atomwaffen sind wirksame Maßnahmen geplant.“ Damals glaubten viele noch, ein einfaches Erdloch reiche aus, um sich gegen die Folgen einer Atombombenexplosion zu schützen.

Im Herbst 1957 standen Bundestagswahlen an, aber die SPD schaffte es nicht, die Atomrüstung zur wahlentscheidenden Frage zu machen. Adenauer warf ihr vor, die Ängste der Bevölkerung auszunutzen und Feindpropaganda im eigenen Land zu betreiben. Tatsächlich bot der sowjetische Ministerpräsident Nikolai Bulganin Verhandlungen über die Schaffung einer neutralen, entmilitarisierten Zone in Mitteleuropa an. Das forderten auch die SPD und die Gegner der Atomrüstung. Unter dem Wahlkampfmotto „Keine Experimente“ stellte die Union den Patriarchen Adenauer als Muster an Standhaftigkeit gegen den Kommunismus dar. Sein SPD-Herausforderer Erich Ollenhauer blieb eine blasse Figur. Mit absoluter Mehrheit entschied die Union die Wahlen am 15. September für sich.

Die Proteste gegen die Atomrüstung gingen jedoch weiter, gewannen nach der Nato-Tagung vom Dezember 1957 noch an Intensität. Unter dem Slogan „Kampf dem Atomtod“ bildeten sich überall in den Städten Aktionskomitees, unterstützt von SPD, Gewerkschaften und Teilen der evangelischen Kirche. Doch Adenauers satte Bundestagsmehrheit beeindruckte das nicht: Am 25. März 1958 wurde die Ausrüstung der Bundeswehr „mit den modernsten Waffen“ beschlossen.

„Haben die Regierung und die Parlamentsmehrheit gewusst, wie die Regierung über die Atombewaffnung denkt?“, wetterte der Schriftsteller Erich Kästner im April 1958 auf einer Protestkundgebung im Münchner Zirkus Krone. „Wenn sie es nicht gewusst haben, waren sie keine Politiker. Wenn sie es aber gewusst haben, dann waren sie keine Demokraten.“ Als letztes Mittel versuchte die SPD, einen Volksentscheid herbeizuführen. In Hamburg, wo sie mit absoluter Mehrheit regierte, in Bremen und Frankfurt beschlossen die Stadtparlamente, Volksbefragungen zur Atombewaffnung durchzuführen. Die Bundesregierung klagte dagegen beim Bundesverfassungsgericht. Mit Erfolg. Begründung der Richter: Die Städte mischten sich unzulässig in die Außenpolitik der Bundesregierung ein. Nach dieser Niederlage ebbte der Protest ab. Der Schriftsteller Hans Werner Richter, dessen Münchner Wohnung von der Kripo durchwühlt wurde, weil er Geld für Atomgegner sammelte, schrieb: „Das Volk wird sich mit den Raketen und Atomkanonen abfinden. Die Gewöhnung wird siegen.“

Zu diesem Zeitpunkt hatten die USA ihre Streitkräfte in Deutschland schon atomar ausgerüstet. Nun wurde auch die Bundeswehr darauf trainiert, mit Nuklearwaffen umzugehen. Die Sprengsätze wurden in den USA produziert, von amerikanischen Soldaten gesichert und konnten nur vom amerikanischen Präsidenten – wenn möglich nach Rücksprache mit den Nato-Verbündeten – freigegeben werden. Die Bundeswehr schaffte die passenden Geschütze, Raketen und Flugzeuge an, um die tödliche Fracht ins Ziel zu bringen. Im Osten Deutschlands übten Soldaten der Nationalen Volksarmee seit den 60er Jahren den Umgang mit Atommunition. Das geteilte Deutschland wurde zum größten Atomwaffenlager der Welt.

Mit dem Zerfall des Ostblocks verloren diese Waffen ihre Bedeutung. Die meisten Atomwaffenlager wurden aufgelöst. Wie viele Kernwaffen sich heute noch in Europa und Deutschland befinden, darüber schweigt das US-Militär. Und die Bundesregierung verweigert ebenfalls präzise Auskünfte, bei diesem Thema gelte aus Sicherheitsgründen der „Geheimhaltungsgrundsatz“, ließ sie 2006 die Linksfraktion im Bundestag wissen.

Rüstungsexperten in den USA und Deutschland sind sich ziemlich sicher, dass in jüngster Zeit 130 Nuklearwaffen aus dem größten verbliebenen Depot auf dem US-Stützpunkt Ramstein abgezogen wurden. Regelmäßige Sicherheitsinspektionen von Nuklearanlagen finden dort nicht mehr statt. Nur noch der Fliegerhorst Büchel in der Eifel kommt als Depot für maximal 20 Atombomben infrage. Sie werden von einer amerikanischen Spezialeinheit gewartet und bewacht. Eingesetzt werden könnten sie mit den auf dem Stützpunkt stationierten Tornadoflugzeugen der Bundeswehr.

Ein Gegner für die alternden Bomben ist freilich nicht mehr in Sicht. Das Relikt aus dem Kalten Krieg hat heute vor allem politisch-symbolischen Wert. Es demonstriert, dass das Prinzip der nuklearen Teilhabe der Bundesrepublik, wie es vor 50 Jahren beschlossen wurde, immer noch gilt. Bald allerdings könnte Deutschland vollkommen atomwaffenfrei sein, denn auch Atombomben haben ein Verfallsdatum. Eine Vorentscheidung ist bereits gefallen. Die Eurofighter-Flugzeuge, die ab 2012 die alten Bundeswehr-Tornados in Büchel ersetzen sollen, können alles Mögliche – nur keine Atomwaffen abwerfen.

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