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Geschichte: Ein feiner Zug

Die Bahn. Sie war einmal nur Transportmittel und benahm sich auch so. Nicht gerade freundlich und zuvorkommend. Dabei geht es doch auch anders.

Kann mal jemand die Bahn loben? Doch, ja, die Bahn ist gemeint, die Eisenbahn, die Deutsche Bahn, jenes Ding, das immer zu spät kommt, das Anschlüsse versaut, viel zu teuer ist, und überhaupt, diese Mitarbeiter, gute Güte, Inkompetenz, dein Name sei Schaffner. Das sagt sich schnell.

Die Bahn loben? Wie soll das gehen? Da wird berichtet, dass die Deutsche Bahn einer Bürgerinitiative, die mit einem „Zug der Erinnerung“ auf Kinderdeportationen in NS-Vernichtungslager im „Dritten Reich“ aufmerksam machen will, die Einfahrt in den Berliner Hauptbahnhof verweigere. Ist das nicht ein Grund für Empörung? Andererseits, stünde dieser Zug gegen das Vergessen für zwei Tage auf einem Gleis des Berliner Hauptbahnhofs, käme es, so versichert Bahn-Sprecher Rainhard Boeckh, zu „massiven verkehrlichen Folgen mit Verspätungen, die bis Hamburg und Frankfurt reichen“. Verspätungen wären dann ein Grund für viele Empörungen.

Was also tun? Sich ein Bild machen. Zug fahren.

Neulich erst wieder. Im ICE von Berlin tief rein nach Westdeutschland. Keine Platzreservierung, gefühlt sind ICEs ohnehin immer ausgebucht. Statistisch stimmt das nicht ganz, statistisch sind die Waggons des Fernverkehrs zu 43 Prozent ausgelastet, aber wenn man selber fährt, steht man eben immer im Peak der Statistik. Oder man orientiert sich am Wagenstandsanzeiger, vertraut ihm, man kann ihm vertrauen, der gesuchte Waggon hält, wo er halten soll, man steigt ein an der richtigen Türe und sitzt im Bordrestaurant. Hell, sauber, man hat einen eigenen Stuhl. Der Zug fährt los, rollt los, sanft, er gleitet. Die Bedienung bringt ein Hefeweizen. „Darf’s auch etwas zu essen sein?“

Kindheitserinnerung. Mit den Eltern im Zug in den sommerlichen Schwarzwald. Das Bordrestaurant hieß noch Speisewagen und der war ein ferner und im Grunde verbotener Ort, den zu betreten einer Sünde gleichkam. Zumindest benahm sich die Mutter so, vielleicht fasste sie einen Besuch des Speisewagens auch als Affront gegen ihre Kunst des Butterbrotschmierens auf. Aber irgendwann waren diese Brote eben hart oder durchgeweicht, es geht beides, irgendwann waren alle Spiele gespielt und der Blick aus dem Fenster ohne Reiz. Irgendwann musste ein Abenteuer her. Und wenn der Vater den Streit mit der Mutter gewonnen hatte, dann war der Weg dafür frei.

Durch den engen Gang zum Ende des Waggons und dann hinüber in den nächsten. Diese Übertritte alleine machten den Speisewagen zu einem fast mystischem Ziel, weil man die Übergänge bewältigen musste, um es zu erreichen. Durchgänge voller kreischenden, brüllenden Lärms mit einem Schritt auf diese Eisenplatten, die sich bewegten wie Mahlsteine, finster, drohend. Es waren viele Übergänge, weil der Speisewagen am anderen Ende des Zuges rollte, gleich hinter dem Waggon der 1. Klasse, und die war weit weg. Und wenn er dann erreicht war – dann war er eine Enttäuschung.

Nie, nie, hat der Speisewagen die Ängste des Anmarsches aufgewogen. Der Kartoffelsalat, er war eklig. Das Würstchen, es war zu kalt. Die größeren Speisen, sie kamen preislich nicht in Frage. Und die Limonade schwappte bei der wackeligen Fahrt aus dem Glas, ergoß sich über die kurze Hose, auf die Beine, klebte, und auf dem Rückmarsch warteten wieder zwischen den Waggons diese dunklen, gierigen Mäuler des Zuges. Das war in den 60er-Jahren, und auch in den 70ern, 80ern und 90ern waren Zugreisende nicht mehr als Beförderungsfälle.

Zum Hefeweizen jetzt eine Zigarette, das wäre nicht schlecht. Aber die ist ja nun verboten in den heutigen ICEs, man kann das als Raucher nicht oft genug beklagen. Aber lässt sich das Rauchverbot gegen die Bahn verwenden? Konsequenterweise müsste man sich dann auch gegen den Rest der Welt auflehnen. Ein Kreuzzug im Namen der Ungesundheit? Schwierig, also Freispruch für die Bahn und lieber essen statt rauchen. Es gab an diesem Tag neulich eine Erbsensuppe aus den Ardennen, kreiert von Maître Jean-Pierre Bruneau, einem Brüsseler Spitzenkoch. Man hätte auch ein Cassoulet wählen können oder ein Coq à la Brune de Chimay, also Huhn in belgischem Altbier mit kleinen Salzkartoffeln. Dergleichen gab es früher nicht mal im Flugzeug, vielleicht in der 1. Klasse, aber wer kann das schon bezeugen.

Und dann kommt ein Gedanke erstmals auf: Hat sich da etwas verlagert, ist Ambiente, Exterieur, Ausstrahlung abgewandert aus dem Flugbetrieb und hat sich den Zügen zugewandt. So wie in alten Zeiten, als Züge noch Salonwagen betrieben. Und ist umgekehrt all das Billige und etwas Schäbige der alten Bahn in die Luft gegangen?

Die Erbsensuppe mit Eisbein und geräuchertem Schweinebauch war vorzüglich. Dann kam der Schaffner vorbei, Zugbegleiter heißt er, wünschte guten Appetit, sagte, „jetzt essen Sie erst mal auf, dann zeigen Sie mir später Ihre Fahrkarte.“ Da bleibt einem doch glatt der Schweinebauch im Hals stecken. „Da nehme ich doch noch ein Hefeweizen.“

Der Zug rast jetzt. Aber Rasen ist ein zu aggressives Wort, er saust, er säuselt, das Bier schwimmt ruhig und still wie der See in seinem Glas. Und der Zugbegleiter entschuldigt sich, weil kurz vor Braunschweig Gleisbauarbeiten den Zug ein wenig aufgehalten haben, „wir haben jetzt zehn Minuten Verspätung, alle Anschlusszüge werden warten, wenn wir die Verspätung nicht ohnehin aufholen“. Ob’s geschmeckt hat, will er noch wissen.

Andreas Fuhrmann ist auch ein Bahnsprecher, zuständig für den Personenverkehr. „Beförderungsfall“, das ist eine Wortschöpfung von ihm und bezieht sich auf die Zeit vor 1994, als sich die vormalige Bundesbahn und die vormalige Reichsbahn zur Bahn AG reformierten. „Und ab da“, sagt Fuhrmann, „haben wir große Schritte unternommen zur Schulung des Personals.“

Noch eine Kindheitserinnerung. Die Fahrt ging von Düsseldorf nach Westheim ins Sauerland zu einer Verwandten. Und der Knabe, elf Jahre alt, reiste allein. Die Mutter hatte ihm eingeschärft, dass er in Wuppertal umsteigen müsse, auf dem gleichen Bahnsteig gegenüber stünde der Zug nach Brilon. Und dort müsse er dann, der Knabe, auf Gleis 2 zum Schienenbus nach Nieder-Marsberg, wo Tante Christel ihn für den Rest der Reise empfangen würde. Nur hatte der Zug von Düsseldorf nach Wuppertal schon Verspätung und der nach Brilon war längst weg. Freundliche Schaffner oder Bahnhofsvorsteher? Die müssen an dem Tag gerade frei gehabt haben. Es war eine fremde Frau, die hilfreich war, sonst würde der Bub wohl noch heute durchs Bergische Land irren und nicht im Intercity sitzen und die Zugtraumata der Kindheit aufarbeiten.

Später dann, als der Bub kein Bub mehr war, sondern selbstbestimmt reiste, da haben ihn manche Verspätungen durch halb Europa geschickt, weil das InterrailTicket, mit dem man zum Einheitspreis reisen konnte, Verspätungen auch nicht verhindern konnte. Aber wenn man dann am Gare du Nord in Paris den Anschluss nach Marseille verpasst hatte, fuhr man eben nach Barcelona oder was gerade verfügbar war. Rom, Avignon, Lissabon und zurück.

Die Verspätungen, sie sind misslich, sie sind ärgerlich, es hängen Termine daran, Verabredungen, das Interrail-Ticket ist leider irgendwann alters- und berufsbedingt abgelaufen, Verspätungen sind dann wieder ein leidiges Thema. Sie sind wahrscheinlich unausweichlich bei einem so eng geknüpften Schienennetz, auf dem der Fernzug nicht wie in Japan der berühmte Shinkansen auf einem eigenen Gleis fahren kann, sondern Rücksicht nehmen muss auf die langsameren Intercitys, den Regionalexpress und die Regionalzüge. 230 000 Mitarbeiter hat die Bahn, man kann sich vorstellen, dass in einer so großen Menge Fehler gemacht werden, die zu kleinen Verzögerungen führen, die zu größeren Verzögerungn sich ausweiten, die zu Verspätungen führen.

Man muss aber ehrlicherweise auch sagen, dass die Verspätungen ebenfalls ein ein gefühltes Ärgernis sind. Denn sie sind, ja, man glaubt es kaum, selten. Die Stiftung Warentest hat nämlich für 2007 herausgefunden, dass – die Streiktage natürlich ausgenommen – zwischen dem 23. September und dem 31. Oktober von 23 261 Fernzügen 46 Prozent eine Minute zu spät an ihrem Endbahnhof ankamen, 16 Prozent zwei bis drei Minuten, zehn Prozent vier bis fünf Minuten und vier Prozent mehr als 30 Minuten. Die Deutsche Bahn war mit den Ergebnissen aber gar nicht zufrieden und spricht von einer Gesamtpünktlichkeit von „deutlich über 90 Prozent“, nun ja. Man hat es ja auch zu oft schon selber erlebt, und das ist vielleicht auch eine Erklärung für die allgemeine Bahnverdrossenheit: Täglich transportiert die Bahn fünf Millionen Menschen. Wenn davon ein Promille betroffen ist von Verspätungen, die eine Kuh auf dem Gleis auslösen kann oder ein herabstürzender Ast, dann kommen 5000 Menschen zu Hause oder in der Arbeit an und sagen „Oh, diese Bahn, kein Verlass, nie ist Verlass auf die Bahn!“ Die 4 995 000 Menschen, die die Kuh auf dem Gleis nicht tangierte, die sagen: nichts. Warum soll man auch die Selbstverständlichkeit kommentieren? Züge haben pünktlich abzufahren und pünktlich anzukommen.

Nun ist die Welt auch eines ICEs eine begrenzte. Und man kann ja nicht ewig im Bordrestaurant sitzen, das geht ins Geld, das heißt, man kann schon, wohl gibt es einen Verzehrzwang, von Vertreibungen wegen zu geringen oder zu langsamen Konsums ist nichts bekannt. Und dann schlendert man durch den Zug, einmal rauf, einmal runter, das geht recht gut, selbst bei Höchstgeschwindigkeit. Die Übergänge von einem Waggon zum anderen, wunderbar, man kann dort verweilen, da schreit nichts, nichts kreischt mehr, Teppiche liegen, wo einst Eisenplatten mahlten. Es herrscht eine entspannte Atmospähre, manchmal eine geschäftliche mit den vielen aufgeklappten Laptops.

Noch eine Erinnerung, keine aus der Kindheit, aus den Achtziger-, Neunzigerjahren, als die Züge noch laut waren und eng, verwinkelt, unübersichtlich und vorwiegend in Abteile aufgeteilt waren, mit teilweise noch speckigen Kunstlederbänken oder versifften aus Polster. Es war dann, besonders an Wochenenden, oft recht laut, wenn sich ein Trupp Wehrpflichtiger in den Abteilen zumützte und sie sich dann ihre erfundenen Heldentaten zubrüllten, „ey, dem Stuffz. hab’ ich vielleicht den Arsch aufgerissen“, und das konnte mitunter sehr unangenehm werden. Oder wenn Schalke beim FC Köln spielte und die Fußballfans dem ganzen Zug gröhlend mitteilen wollten, dass für sie die Kölner nur „die Scheiße vom Dom“ sind. Kegelausflüge, ja, die auch konnten sehr nervend für Mitreisende sein, egal ob männliche Kegelausflüge oder weibliche.

Liegt das nur an den Preisen, dass dergleichen Szenen sehr selten geworden sind? Die Soldaten fahren weiterhin umsonst, die Fußballfans lassen sich auch nicht abschrecken, zumal die Bahn mit ihrem umfassenden Preisangebot nicht mehr wirklich unerschwinglich ist, und man bei rechtzeitiger Anmeldung für 29 Euro durch ganz Deutschland kommt. Liegt es möglicherweise an der Architektur der Züge, an ihrer Transparenz, an der Vergrößerung der reisenden Gruppe im Großraumwagen? Und auch beim Spaziergang durch die ICE-Atmosphäre der Gedanke: Ist der Ballermann, der früher auch im Zug beheimatet war in die Billigflieger umgestiegen?

An den Bahnhöfen wird der Wandel augenscheinlich. Noch vor wenigen Jahren waren die meisten Bahnhöfe wirklich nur Stationen, an denen Züge halten und Züge wieder abfahren. Ein paar Zeitungen konnte man kaufen, Rauchwaren für den Zug, ach, waren das Zeiten. In den sechziger Jahren waren sie Treff- und Sammelpunkte der Gastarbeiter, wohl auch, weil sie Sehnsuchtsorte waren. Stets waren sie Aufenthaltsort der Gestrauchelten, der Junkies, der Obdachlosen, die einen warmen Platz suchten und ein Dach über dem Kopf. Selten einmal war so ein Bahnhof ein heimeliger Ort, es waren Schmuddeltreffs mit Pornokinos, schlechten Imbissen, dunklen Ecken. Kann man sich im neuen Berliner Hauptbahnhof die Kinder vom Bahnhof Zoo vorstellen? Es sind Erlebnisparks geworden, diese Großstadtbahnhöfe, mit Shopping-Malls in Berlin, Hamburg, München, Düsseldorf, Köln, man kann sie besuchen und nutzen, auch wenn man nicht auf Reisen will. Die Bahnhöfe sind den Zügen gefolgt, sind sauber geworden, aufwendig, gläsern, wie die Schalter- und Abfertigungshallen auf den großen Flughäfen der Welt. Beklommenheit war noch vor wenigen Jahren ein Gefühl, dass nicht nur ängstliche Menschen am späten Abend auf Bahnhöfen beschlich. Und von denen, die damals durch die Nacht rattern mussten, allein in einem Sechserabteil, werden auch nicht alle einen ruhigen Schlaf gefunden haben.

Zurück im Bordrestaurant nervt da aber jetzt etwas. Man muss es der Bahn anlasten, unbedingt. Ein junger Kreativer, so einer mit Vollglatze, muss noch irgendeine Power-Point-Präsentation vorbereiten. Das heißt, er lässt sie vorbereiten, und zwar von seinem Gesprächspartner am anderen Ende des Handynetzes und von den Mitreisenden, auch denen am anderen Ende des Waggons. Also Deutsche Bahn, Mehdorn, wer immer dafür zuständig ist: So geht es nicht! Das muss gestoppt werden, die Quasseler dieser Welt müssen doch ungestört von Essern, Trinkern, Genießern reden können. Himmel, Herrgott noch mal. Diese Bahn. Tut endlich etwas.

Früher, in Zeiten,als Passagiere noch Beförderungsfälle waren, hielten die Züge nie da, wo sie sollten. Der Wagenstandsanzeiger war ein ungefährer Hinweis mit der Botschaft, doch ja, dieser Zug wird hier an diesem Bahnhof halten, möglicherweise sogar auf diesem Gleis. Das führte dann dazu, dass der Abholer an dem einen Ende des Bahnsteigs stand. Die Reisende stieg am anderen Ende aus. Und wenn sie sich dann sahen, konnten sie wie im Film mit weit geöffneten Armen auf einander zufallen, bis sie sich in der Mitte des Bahnsteigs endlich hatten. Heute kann man sich per Handy verständigen, das, liebe Kreative, geht tatsächlich auch leise.

„Ich sitze im Bordrestaurant.“ „Schön.“ „Ich bin bald da.“ „Schön.“

Der ICE säuselt aus. Man kann das nicht bremsen nennen, auf jeden Fall nicht so ein Bremsen, wie man es von alten Zeiten kennt, bei dem der Kartoffelsalat und das Würstchen einen Ausbruchsversuch starteten. Er quietscht auch nicht, früher kreischten die Bremesen eines einfahrenden Zuges den ganzen Bahnhof zusammen, er gleitet aus. Die Türen öffnen sich, der Zug steht da, wo er soll und sich angekündigt hat. Die beiden haben sich sofort. Sie können nicht mehr aufeinander zulaufen. Unmöglich, die Bahn.

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