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Erster Weltkrieg: Offene Rechnung von 1918

Die schlechte Nachricht: Nach 90 Jahren hat Deutschland immer noch Schulden aus dem Ersten Weltkrieg. Die gute Nachricht: Im Herbst 2010 wird die letzte Rate getilgt.

Von Andreas Austilat

Die Meldung war leicht zu übersehen: Am 1. Januar diesen Jahres starb im Alter von 107 Erich Kästner. Nicht der Autor von „Emil und die Detektive“, sondern ein längst pensionierter Richter gleichen Namens aus Hannover. Kästner war Deutschlands letzter lebender Veteran des Ersten Weltkriegs.

Sie werden rar, die Augenzeugen dieser „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ wie der amerikanische Historiker George F. Kennan diesen Krieg nannte. Umso erstaunlicher, wie präsent der Erste Weltkrieg noch heute an gänzlich unerwarteter Stelle ist.

Noch bis zum 3. Oktober 2010 wird das Erbe von 1918 auch das „Bundesamt für zentrale Dienste und offene Vermögensfragen“ beschäftigen. Ein Kapitel, das sich als Fußnote im Bundeshaushaltsplan 2008 unter der Rubrik Schuldendienst versteckt. 85,6 Millionen Euro sind noch offen. In zwei Jahren, fast 92 Jahre nachdem am 11. November 1918 der Waffenstillstand verkündet wurde, wird die letzte Rate getilgt sein. Ein Lehrstück dafür, dass Staatsschulden durchaus ein Thema für die Urenkel werden können.

Der Erste Weltkrieg kostete über zehn Millionen Menschen das Leben, vernichtete Milliardenwerte. Allein 164 Milliarden Reichsmark lieh sich das kaiserliche Deutschland bei seinen Bürgern. Auf Rückzahlung konnten die erst nach einem siegreichen Ende hoffen. Denn das hatte der konservative Abgeordnete Karl Helfferich bereits 1915 im Reichstag klar gesagt: „Das Bleigewicht der Milliarden haben die Anstifter dieses Krieges verdient, sie mögen es durch die Jahrzehnte schleppen.“

Es kam bekanntlich anders. Und den tatsächlichen Siegern war von ihren Regierungen ebenfalls versprochen worden, bezahlen würden die anderen. Die Summe ließ man bis 1921 offen. Dann war neben den erbrachten Naturalleistungen, den abgetretenen Gebieten mit ihren Kohle- und Erzgruben, sowie den Kolonien, der auszuliefernden Handelsflotte und den abzugebenden Luftschiffen von 132 Milliarden Goldmark die Rede, etwa das Dreifache des Bruttosozialproduktes, das ein unversehrtes Deutschland 1913 erwirtschaftet hatte, abzustottern bis 1987.

Der britische Ökonom John Maynard Keynes, Mitglied der britischen Delegation bei den Friedensverhandlungen in Versailles, hatte schriftlich darauf hingewiesen, in einem ruinierten Deutschland werde nicht viel zu holen sein. Schlimmer noch: Fielen die Deutschen als Handelspartner aus, wäre ganz Europa betroffen. Denn, so Keynes, die gegenseitige Abhängigkeit moderner Produktions- und Handelskreisläufe unterscheide nicht zwischen Siegern und Besiegten. Sein Buch wurde ein Bestseller, folgen mochten ihm die Verantwortlichen trotzdem nicht. Franzosen und Briten wollten sich den Konkurrenten ein für alle mal vom Hals halten. Außerdem hatten sie selber Schulden: Sie mussten Kredite zurückzahlen, die ihnen die USA für die Kriegsführung gewährt hatten. Keynes zog sich aus den Verhandlungen zurück.

Es ist seitdem viel darüber diskutiert worden, wie groß der Anteil des Friedensvertrags von Versailles am späteren Erfolg des Nationalsozialismus war und somit auch am Zweiten Weltkrieg. Immerhin trat Hitler erklärtermaßen an, die „Schmach“ zu revidieren.

Die Kriegsschuld blieb Streitthema in der Weimarer Republik. Dabei ist bis heute nicht klar: War die ökonomische Achterbahnfahrt nun Folge der zu leistenden Tribute, oder war sie politisch gewollt, um eben diese loszuwerden? Der Preis war, dass sich das Land bis 1923 in ein Tollhaus verwandelte. „Eine Vorschule des Nihilismus“, wie der Zeitzeuge Sebastian Haffner schrieb, „ein gigantischer karnevalistischer Totentanz, in dem nicht nur das Geld, in dem alle Werte entwertet wurden“.

1914 kostete ein US-Dollar noch 4,20 Mark, im Januar 1920 lag der Dollar-Kurs bei 41,98, im November 1923 bei 4 200 000 000 000 Mark. Damit war Deutschland seine Schulden bei der eigenen Bevölkerung los: Die 164 Milliarden Kriegskredite waren nach der Währungsreform vom November 1923 noch 16,4 Pfennige wert. Niemand, der auf den deutschen Sieg spekuliert hatte, sah seine Ersparnisse wieder. Die Franzosen hatten andere Argumente, sie besetzten das Rheinland, um sich ein Pfand zu sichern.

Bei seinen Bürgern durfte das Reich danach auf keinen Kredit mehr hoffen. Der aber war dringend nötig. 1924 wurde der Dawesplan beschlossen, benannt nach dem amerikanischen Finanzexperten Charles G. Dawes. Sein Plan sollte die Reparationen genannten Kriegsschulden der tatsächlichen Wirtschaftsleistung Deutschlands anpassen. Als Anschubfinanzierung wurde der Weimarer Republik eine Anleihe gewährt, 800 Millionen Goldmark, aufzunehmen in neun Ländern, der größte Brocken kam aus den USA. Und mit neuem Kredit versehen sollte Deutschland Frankreich Entschädigung leisten, das dann seinerseits seine Schulden in den USA tilgen konnte.

Eine Art Perpetuum mobile der Finanzwelt, das die 20er Jahre nun golden zu färben versprach. Die Alten, deren Kriegsanleihen nur noch Papierschnipsel waren, kamen da nicht mehr ganz mit, aber sie konnten nun staunend auf die Jungen gucken, deren Verwahrlosung sie beklagten. Denn die tanzten Onestep, Boston und Charleston, schlossen sich in Cliquen zusammen wie man neuerdings sagte, gingen ins Kino und hörten Jazz. Sebastian Haffner erinnerte sich später, die Jahre von 1924 bis 1929 seien die einzige echte Friedenszeit seiner Generation gewesen.

Schon 1926 kamen erste Zweifel auf, ob Deutschland die bald fällige jährliche Reparationsrate aufbringen würde. Ein neuer Plan wurde erdacht, wieder benannt nach einem amerikanischen Finanzexperten: Owen Young. Danach hätte Deutschland seine Kriegsschuld bis 1988 abzutragen. Wieder wurde ein Anschubkredit gewährt, wieder kam der größte Betrag aus den USA. Im September 1929 trat dieser Plan in Kraft, einen Monat vor dem Schwarzen Freitag mit seinem Börsencrash. Zwei Jahre später waren die deutschen Banken zahlungsunfähig.

Gerade zwei Raten hatte das Reich da beglichen. Doch 1932 kam das Abkommen von Lausanne: Es war das Ende der Reparationen. Deutschland wurde seine Kriegsschuld erlassen. Beinahe wenigstens.

Berlin-Weißensee Ende Oktober 2008. Am DGZ-Ring 12, einem ziegelroten Bürokomplex auf dem Gelände der ehemaligen Schokoladenfabrik Weißensee, hat das „Bundesamt für zentrale Dienste und offene Vermögensfragen“ seinen Hauptsitz. Das Amt ist nicht nur für die Auszahlung von Kindergeld an Bundesbedienstete zuständig, hier wird auch der Nachlass deutscher Geschichte verwaltet. Erbstücke von eher fragwürdigem Wert sind darunter wie Hitlers Schreibtisch vom Obersalzberg oder Kuriosa wie eine Marx-Büste aus Glasperlen. Reguliert werden von hier aber auch die Ansprüche von Verfolgten der Nazizeit oder von jenen, die durch die DDR geschädigt wurden.

Im ersten Stock hat Thomas Dress, Vizepräsident des Bundesamtes, sein Büro. Seinem Schreibtisch gegenüber hängt das Gemälde eines Schiffs in schwerer See, ebenfalls aus dem eigenen Depot. Das Amt ist auch dafür zuständig, Bundesbehörden mit Wandschmuck auszustatten. Vor Dress liegt eine „German External Loan“, eine Dawes-Anleihe von 1924, damals hat sie 1000 Dollar gekostet.

Das dicke Papier fühlt sich an wie ein alter Geldschein, aber die Note ist größer als ein Din-A4-Blatt, ausgefertigt in gravierter Schreibschrift. Am Rand hängen noch die Kupons, die der Eigentümer in den Büros des New Yorker Bankhauses J. P. Morgan vorlegen konnte, um 35 Dollar Zinsen zu kassieren, zweimal im Jahr, jeweils im April und im Oktober. Der letzte Abschnitt, der fehlt, ist der vom Oktober 1941. Im Dezember erklärte Nazideutschland den USA den Krieg. Danach bezahlte niemand mehr für irgendeinen Kupon aus New York, geschweige denn, dass der Eigentümer bei der versprochenen Endfälligkeit im Oktober 1949 seine 1000 Dollar wiedersah.

Schon kurz nach Hitlers Machtantritt hatte sich das nationalsozialistische Regime seinen internationalen Zahlungsverpflichtungen weitgehend entzogen. Mochte auch das Ende der Reparationen in Lausanne beschlossen worden sein, die bereits gewährten Kredite aus der Dawes- und der Young-Anleihe waren zurückzuzahlen. Doch wenn überhaupt wurden von Deutschland nach 1933 nur noch Forderungen aus Ländern beglichen, die den Versailler Vertrag nicht unterzeichnet hatten. Dazu zählten auch die USA.

Die Schuldenfrage sollte der Zweite Weltkrieg ein für alle mal beenden, doch aus diesem ging Deutschland noch ruinierter hervor als aus dem Ersten. Und als 1949 die Bundesrepublik gegründet wurde, waren die alten Forderungen nicht vergessen. Und würden sie nicht beglichen, mahnte der Bankier Hermann Abs als Berater den damaligen Bundeskanzler Adenauer, hätte Deutschland künftig nicht nur jeden Anspruch auf Kredit verloren, es würde auch nicht mehr am Welthandel teilnehmen können.

Deutschland verhandelte geschickt. Abs erkannte, dass es psychologisch unklug wäre, am Nennwert der gewährten Darlehen zu rütteln; wer 1000 Dollar gegeben hatte, sollte auch 1000 Dollar bekommen. Dafür feilschte die deutsche Delegation 1952 bei den Londoner Schuldenverhandlungen bei den aufgelaufenen Zinsen um Nachlass. Und die Sieger waren gnädig. Diesmal erkannten sie: Auf einen der vormals wichtigsten Absatzmärkte der Welt zu verzichten und sich dafür einen Kostgänger auf Dauer einzuhandeln, war keine verlockende Aussicht.

Im Londoner Abkommen von 1953 wurden die gesamten Außenstände Deutschlands auf 14,5 Milliarden DM festgesetzt, gefordert worden war zunächst das Doppelte. Die Summe entsprach immer noch in etwa dem damaligen Jahreshaushalt der Bundesrepublik.

Wer nun eine alte Dawes- oder eine Young-Anleihe vorlegen konnte, bekam dafür einen neues Zertifikat. Das war ebenfalls aufwendig gestaltet. An der einen Seite hingen die Zinsscheine zum Abschneiden, an der anderen ein Talon, der dem Besitzer einen Nachschlag im Falle der Wiedervereinigung garantierte. Schließlich vertrete man nicht die ganze Nation, argumentierte die Bundesregierung damals. Also versprach man, zwar für die Schulden des untergegangenen Reiches aufzukommen. Aber alte Anleihezinsen, die seit 1945 aufgelaufen waren, wollte man erst begleichen, wenn Deutschland wieder vereinigt wäre. Dieser Betrag geisterte fortan als unerledigte „Schattenquote“ durch die Bücher.

Zur Belohnung für das Abkommen wurde die D-Mark binnen fünf Jahren eine frei konvertierbare Währung, Voraussetzung für einen unglaublichen Erfolgszug von Produkten Made in Germany. Bis 1983 konnte die Bundesrepublik so alle Verbindlichkeiten tilgen, auch die aus der Kreuger-Anleihe, die der schwedische Finanz-Magnat Ivar Kreuger dem Reich 1930 gewährt und dafür als Pfand das Zündholzmonopol bekommen hatte. Ältere erinnern sich, dass bis 1983 in der Bundesrepublik nur Streichhölzer der Monopolmarken „Welthölzer“ und „Haushaltsware“ verkauft werden durften.

„Natürlich hatten wir nie damit gerechnet, dass da noch mal was kommt“, erinnert sich Thomas Dress, der 1990 in den Anfangsjahren seiner Karriere in Bad Homburg bei der Bundesschuldenverwaltung arbeitete, einer Vorgängerinstitution seiner heutigen Dienststelle. Doch mit der Einheit am 3. Oktober 1990 wurde die Schattenquote scharf, war sie plötzlich wieder da, die Schuld aus dem Ersten Weltkrieg in Form der Dawes- und Young-Papiere. Wer nun seinen Talon aus dem Jahr 1953 vorlegen konnte, erhielt dafür ein neues Zertifikat.

Ein Prozedere, das sich seine Behörde gern erspart hätte. Längst war es üblich, Anleihen per Schuldbucheintrag zu sichern und keine echten Papiere mehr auszugeben. Doch in anderen Ländern, darunter in den USA, konnten Anleger auf echten Effekten bestehen. Es gab auch Empfehlungen, die Restschuld von 251 Millionen DM auf einen Schlag zu tilgen. Aber dies hätte nicht dem Londoner Schuldenabkommen von 1953 entsprochen. Womöglich wären neue Verhandlungen nötig geworden, die wollte man lieber nicht führen.

Immerhin, die zurückgekauften Zertifikate sind von antiquarischem Interesse, werden einmal im Jahr versteigert. Wenigstens einige. Der Rest wird unter Hochsicherheitsbedingungen vernichtet. Würde man alle alten Papiere auf den Sammlermarkt bringen, wäre der schnell kaputt.

Bald aber soll Schluss sein. Wer jetzt oder nach dem 3. Oktober 2010 noch einen Talon unter dem Teppich findet, ist auf die Gnade des Amtes angewiesen, die Umtauschfristen sind längst abgelaufen. Und Klagen von Eigentümern, die Dawes- und Young-Anleihen seien doch nach dem Goldwert und nicht nach dem 1953 verhandelten Dollarkurs ausgegeben worden, wurden bisher erfolgreich abgewiesen. Die Chancen stehen also nicht schlecht: In zwei Jahren könnte der Erste Weltkrieg wirklich zu Ende gehen.

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