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Flüchtlinge: Zurück im Rudel

Wolfskinder – Flüchtlinge aus Ostpreußen, Waisen und versprengt. Nun traf Gisela ihre Brüder wieder.

Wir fahren nach Sibirien“, hat Gerd Scheffler den Nachbarn im sauerländischen Hemer scherzhaft gesagt. Aber als er das später, nach der langen Fährüberfahrt, am Ziel ihrer Reise, zum Besten gibt, erntet er Schweigen, denn Sibirien ist in Litauen nichts, worüber man Witze macht. Dort wurden sie einem ausgetrieben. Sie haben ein bisschen gegoogelt, aber viel wissen Schefflers nicht über Litauen. Nur, dass Gisela Scheffler dort jetzt zwei Brüder hat. Deshalb sind sie ja da.

Einer von beiden, Heinz Willuweit, 77, wartet schon aufgeregt an der Straße vor dem kleinen gelben Haus in Tauroggen. 64 Jahre hat er diesem Tag entgegengelebt, an den er eigentlich nicht mehr geglaubt hatte. Seitdem er in den Nachkriegswirren elternlos, zusammen mit seinem Bruder aus Königsberg in jenes Land geflohen war, das ihm die deutsche Sprache nahm, die Zukunft und seine Vergangenheit. Willuweit ist einer von etwa 5000 sogenannten Wolfskindern, die so heißen, weil sie, Wölfen gleich, auf der Flucht aus Ostpreußen im Wald hausten, sich von Gras, Baumrinden und Fröschen ernährten. An einem kalten Frühlingstag des Jahres 1946 betritt er barfuß das Landesinnere, er hat Tausende von Erwachsenen überlebt, die umfielen, weil sie den Strapazen nicht gewachsen waren. Die Kinder erweisen sich als zäher. Mit aufgeblähtem Bauch und dünnen Ärmchen schlägt er sich in Litauen durch, wird gefangen genommen von russischen Soldaten und kann entkommen. Überlebt, wie einige Hundert anderer seiner Leidensgenossen, nur deshalb, weil er bei litauischen Bauern Unterschlupf findet.

Diese Vergangenheit holt ihn ein, als er neulich zum ersten Mal mit seiner Schwester telefonierte, die er eigentlich auf der „Wilhelm Gustloff“ untergegangen wähnt, dem Passagierdampfer, der am 30. Januar 1945 von einem sowjetischen U-Boot versenkt wurde und über 9000 Menschen in den Tod riss. Unter Tränen hatte er den Satz gesagt, den er zuvor so lange geübt hatte: „Meine liebe Schwester, hier ist Heinz, dein Bruder“. Danach sagt er nicht mehr viel und bricht zitternd zusammen. Später hat er noch einen Brief geschrieben. Nicht selbst, so einfach ist das nicht, Heinz konnte nur zwei Jahre zur Schule gehen, immerhin ein Jahr mehr als sein Bruder, er hat ihn seiner Enkelin auf litauisch diktiert und dann ihre Klassenlehrerin ins Deutsche übersetzen lassen: „Gott sei Dank, vor dem Sterben werden wir einander noch mal sehen.“

Dass es überhaupt dazu gekommen ist, haben sie Toepfer zu verdanken. Günter Toepfer, ehemaliger CDU-Abgeordneter im Berliner Abgeordnetenhaus, der sich seit zehn Jahren für die „Wolfskinder“ einsetzt, die in Litauen „vokutai“, die kleinen Deutschen, genannt werden. Der deutsche Staat will nichts mehr von ihnen wissen, nachdem Adenauer in den 50er Jahren die offiziell letzten Gefangenen aus Russland heimholt. Die Sowjetunion soll nicht verärgert werden. Doch auch nach der Wiedergeburt Litauens 1992 kümmert sich die Bundesrepublik nicht um ihre verlorenen Kinder. Toepfer hat in vielen Fällen die deutsche Staatsbürgerschaft juristisch erkämpft und will den deutschen Staat auf Zahlung einer bescheidenen Rente für die verbliebenen 85 Wolfskinder verpflichten. „Sie sind doch freiwillig nach Litauen gegangen“, hieß es oft auf den Behörden. „Dafür muss man sich schämen“, sagt Gisela Scheffler. Ihr Bruder Heinz, der sich immer noch als Deutscher fühlt, sagt: „Deutschland, Deutschland über alles, zwei Kartoffeln, das ist alles.“

Die Umarmung vor dem Haus fällt ein wenig heftiger aus, als es seiner Schwester, hinter dem Schutz ihrer Sonnenbrille, eigentlich lieb ist. „Der kann zupacken“, sagt sie und fühlt sich irgendwie verrenkt in der Halsgegend. Aber schon beginnt ihr Bruder, der im Fleischkombinat 20 Jahre lang Rinderhälften schulterte, von früher zu erzählen. Sie habe noch im Kinderwagen gelegen, als er sie das letzte Mal sah. Und dass er sie oft auf dem Rücken getragen habe. „Das ist nett von dir“, sagt Gisela, die nicht genau weiß, wie sie angemessen reagieren soll. Nicht, dass sie sich nicht auf das Treffen gefreut hat, sie hat es schließlich gesucht, aber emotionale Ausbrüche sind nicht ihre Sache und so schaut sie etwas verunsichert, als Heinz jetzt schon wieder mit den Tränen ringt. „Er hat so viel geweint“, sagt Hilda, Heinz Frau, die in diesem Moment hinzutritt, „da hätte man schon drin baden können.“

Hilda trägt getigerte Hauspantoffeln und eine farbenfrohe Kittelschürze. Gisela Scheffler sagt, genauso hätte sie es sich vorgestellt. „Wär doch blöd, wenn die sich jetzt fein gemacht hätte.“ Sie haben ja nicht gewusst, was sie erwarten würde. Gisela hat für alle Fälle Sagrotantücher mitgebracht, eine Vorsichtsmaßnahme, in der sie sich bestätigt sieht, als sie zum ersten Mal zum Plumpsklo am Willuweit’schen Gemüsebeet geführt wird. Ihr Mann hat für die knapp einwöchige Reise aus Sorge vor den Unwägbarkeiten des Wetters vier Paar Schuhe dabei. „Zu viel“, sagt Heinz und weist darauf hin, dass er sich selbst im Wesentlichen an ein einziges Modell hält: „Gummistiefel sind zu jeder Jahreszeit in Mode!“

Sie haben lange überlegt, um nichts Falsches mitzubringen. Konserven, hatte Toepfer gesagt, Ananas und Sauerkraut. Jetzt holen sie aus ihrem silbergrauen Mercedes immer neue blaue Müllsäcke, gefüllt mit Geschenken: Kleidung, teilweise ungetragen, Kosmetika, Kaffee, Süßigkeiten. Wie bloß gerecht verteilen? Zu unübersichtlich die Familie, ständig kommen neue Verwandte an.

Heinz zeigt das Haus, den Kachelofen mit den angemalten Ziegelsteinen, „gibt Wärme den ganzen Tag“, und das Schlafzimmer, das vielleicht etwas bunt ist, aber doch „heimelig“, wie Gisela feststellt. Die Erleichterung, dass sie dieses Haus mit seinen vielen Menschen, die darin wohnen, vor sich selbst gut finden kann, ist ihr anzumerken. Als Enkelin Giedre fragt: „Glaubst du, dass ihr es besser habt, daheim?“, beeilt sich Gisela zu sagen: „Überhaupt nicht, hier ist es so schön!“

Vielleicht hätten sie sich eher sehen können. Ein Brief mit den Adressen der beiden Brüder war von einer anderen, inzwischen verstorbenen Schwester Giselas nicht weitergeleitet worden. Drei Jahre hatte er in der Schublade gelegen. Schefflers haben dann sofort geschrieben, zweimal, aber vergeblich auf Antwort gewartet. „Vermutlich hat der KGB die Briefe abgefangen.“ „Ja, die Russen“, sagt Heinz, der keine vorteilhafte, aber doch klare Meinung von ihnen hat. Und dann zeigt er seine Messernarben am Unterarm.

Als er Partisanen Milch in den Wald bringt, wird er von russischen Soldaten geschnappt und gefoltert. Fällt in Ohnmacht, aber verrät nichts. Gerd möchte auch etwas dazu sagen. „Quer geschnitten ist nicht so schlimm.“ Er hat ja bis zu seiner Pensionierung 25 Jahre als Justizvollzugsbeamter gearbeitet. „Tu’n Handtuch drum und fertig!“, im Knast haben sie es auch immer falsch gemacht. „Lang schneiden, geht nicht mehr zu!“ Heinz guckt irritiert, er hat nicht verstanden, die Dolmetscherin ist gerade nicht da, und vielleicht ist das in diesem Fall gar nicht so schlecht. Gerd versucht, die Kurve zu kriegen, möglicherweise kam er ja eben ein bisschen kühl rüber: „Es ist immer irgendwie unangenehm“ – was im Zusammenhang mit der Folter eines 14-Jährigen natürlich auch kein ganz glücklicher Satz ist, aber es ist ja auch ein schwieriges Parkett, auf das sie sich hier begeben haben.

Die Familienwerdung findet um eine Blümchendecke herum in Anwesenheit eines Serviettenhalters mit dem Konterfei Angela Merkels statt. Noch fremdeln sie, aber bei Tisch kommen sie bald zueinander. Geriebene Kartoffeln, „Zeppelinas“ mit Fleisch- und Quarkfüllung, Schaschlik, Schnitzel und Apfelkuchen sind die Gleitmittel, die die Biographien durchmischen, dem Gespräch die Zähigkeit nehmen. „Ich hatte so schön abgenommen“, sagt Frau Scheffler, aber es klingt nur halb bedauernd. „I Sveikata! Prost“, sagt Heinz und umarmt erneut die wiedergewonnene Schwester. „Ich geh noch mal die Katze gucken“, sagt sie und wendet sich den Tieren zu. Als sie nun lange das weiche Katzenfell streichelt, tritt Heinz hinter sie, schaut in das Rot des Abendhimmels und sagt in plötzlich wiedererwachtem Deutsch: „Alles, was ist, will Liebe.“

Am Nachmittag fahren sie zu dem windschiefen grünen Haus, in dem Heinz 1947, nach langer Odyssee, seine Adoptiveltern fand. Ein verrostetes Hufeisen hängt über der Tür. Der alte Heuwagen ist noch in der Scheune, Heinz findet die Hundehütte mit Wellblechdach, die er damals für Mischlingshund „Meschkes“ gebaut hat und auch die alten Vogelhäuschen. Gefolgt von Gisela und Gerd betritt er das seit 15 Jahren unbewohnte Haus. Der Linoleumboden zerbröckelt, sein eigenes Zimmer ist nicht mehr zugänglich, aber im Raum davor hängen, schwarz gerahmt, Fotos der beiden Menschen, denen er sein Überleben verdankt: „Mamalyte“ und „Papunis“. Hungrig und verlaust war er hier angekommen, sie haben seine Kleider verbrannt und ihn zwei Tage schlafen lassen. Sie hatten nicht viel, aber sie haben es mit ihm geteilt. Heinz sagt: „Das Leben war hart, aber interessant.“

Vielleicht ist der Parkplatz vor dem „Mega“-Supermarkt am Rande von Kaunas kein besonders würdiger Ort für ein lang ersehntes Wiedersehen, aber praktisch, weil man sich kaum verfehlen kann. Hier trifft Gisela Scheffler ihren anderen Bruder, den Hammerschmied. Arno, 75, in Trainingshose mit riesiger Metallbrille, hinter der das linke Auge unter buschigen Brauen größer als das rechte hervorschaut, schließt seine Schwester, die so viel beherrschter ist als er selbst, in die Arme und schlägt die Brücke zu einer Vergangenheit, die aus dem Schleier seiner Erinnerungen hervorbricht. Immer wenn er mit Heinz Brot und Salz gekauft habe, hätten sie es in den Kinderwagen zur Schwester gelegt, weil die Wahrscheinlichkeit so höher war, nicht ausgeraubt zu werden. „Du warst für uns die Teuerste!“

Später sitzen sie in der Wohnung von Arnos Sohn und essen schon wieder zu viel. Fotos werden ausgetauscht und Erinnerungen. Wie die Mutter noch während des Krieges an Typhus gestorben war und ihr Vater, der Schneidermeister, als ihr Haus brennt, mit vorgehaltenem Gewehr in den Luftschutzkeller unter der Kirche getrieben wird. Er sollte nach Sibirien, nähte dann aber Uniformen für die russische Armee. Bis zu seinem Tod lebte er in der DDR, doch weder Gisela noch die Brüder haben ihn je wiedergesehen. Am Ende des Nachmittags fragt Arnos Sohn in Richtung des Besuchs aus Deutschland: „Und wie war euer Leben?“

Und dann erzählt Gisela Scheffler, wie bei ihrer eigenen Flucht aus Königsberg die Großmutter stirbt und sie auf Umwegen bei einer Tante in Hemer landet. Dort lebt sie mit sechs Kindern zusammen und verlebt, widrigen Umständen zum Trotz, eine schöne Jugend. Als sie 16 ist, lernt sie Gerd kennen, vier Jahre später, an ihrem 20. Geburtstag, heiraten sie. Damals arbeitet sie in einer Druckerei, setzt nach der Geburt ihres Sohnes zehn Jahre aus und bedient danach 20 Jahre im britischen Offizierskasino. Anders als bei ihren Brüdern war für sie nach dem Krieg die Zeit der Entbehrungen vorbei, in Deutschland begann das Wirtschaftswunder und alles ging bergauf.

Die litauische Basketballmannschaft hat am Abend gegen Slowenien 58 zu 81 verloren, die Stimmung ist am nächsten Tag somit etwas gedrückt und Hilda, die ein feines Gespür für Stimmungen hat, singt nun dagegen an: „Singen, Tanzen, Springen, Frühling, Frühling, kommt’s aus dem Wald.“ Sie kann nicht zwei Sätze hintereinander auf Deutsch sagen, aber mit dem Singen ist es einfacher. „Waldesruh’, wie einsam schlägt die Brust.“ Heinz möchte ihr nicht nachstehen, ergreift ihre große Hand und stimmt das Lied der Wolfskinder an: „Meinen Vater kenn ich nicht, meine Mutter liebt mich nicht und sterben will ich nicht, ich bin so jung.“

Zusehends entspannt sich auch Gisela Scheffler. Hat sie sich anfangs unter einer Schicht Schminke versteckt, trägt sie nun täglich weniger auf. Natürlich hat sie registriert, dass Heinz das Poloshirt mit dem Baileys-Aufdruck heute bereits den dritten Tag anhat. Dass das Wasser hier aus dem Brunnen kommt und nicht aus dem Hahn. Aber wie sie sich freut, als auch sie unerwartet Geschenke erhält. Selbst gestrickte Socken und ein Bild mit Birken, die Blätter aus Bernstein geformt, dem sie in Gedanken sofort einen Platz in der Bauernküche daheim zuweist. „Herrlich“, schwärmt Gisela, die den schützenden Kokon, in den sie eingewoben schien, vorsichtig, aber doch zunehmend verlässt. Hat sie nicht eine Reihe von wunderbaren Gemeinsamkeiten feststellen können? Auch Heinz liebt saure Gurken, beide schätzen die Volksmusik und telefonieren nicht gern. Und ist es nicht eine Art Fingerzeig, dass Hilde und sie mit „Sturm der Liebe“, dieselbe deutsche Lieblingssendung im Fernsehen haben?

Die Kaffeemaschine wird eingeweiht. Der Kaffee ist stark geraten, weil Hilda, unerfahren mit dem neuen Gerät, zehn Esslöffel hineingetan hat, wo Gisela im Allgemeinen fünf Teelöffel für ausreichend hält. Sie werden nicht schlafen können, aber schlafen können sie auch zu Hause. Hilda sagt, sie habe oft geträumt vom einfachen Leben. „Jetzt ist es, wie es ist.“ Heinz ist zufrieden, dass ihm im Leben, trotz aller Widrigkeiten, doch einiges geglückt sei. Er habe eine gute Familie. Drei Kinder, 20 Enkel, ja, sie haben Wurzeln geschlagen, widerstrebend zunächst, aber doch nachhaltig. „Ich nehme das Leben ruhig an. Worauf noch warten?“

Vor kurzem hat er sich einer Altersstar-Operation unterziehen müssen, jetzt spart er für das zweite Auge. 300 Euro fehlen ihm noch. Gerd Scheffler, der sich längst mit seiner Frau besprochen hat, dass dies kein einmaliger, folgenloser Ausflug ist, und sie diese Menschen, die bis vor kurzem noch Fremde waren, tief in ihr Herz geschlossen haben, hört aufmerksam zu. Er weiß, dass sich ihr Leben in diesen wenigen Tagen vermutlich nachhaltiger geändert hat, als sie es sich selbst bislang eingestehen wollen. Dass ihre Familie nun größer geworden ist. Und als er sagt „Würde es die Sache beschleunigen, wenn du vorher das Geld hättest?“ ist es dem Wolfskind Heinz, der seine Schwester wieder gefunden hat, als würden Sternschnuppen vom Himmel regnen.

Andreas Wenderoth

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