zum Hauptinhalt

Geschichte: Fuchs, du hast den Müll gestohlen

Landleben war einmal. Familie Reineke und anderes einst wildes Getier sind urban geworden

Nehmen wir zum Beispiel mal das Rotkäppchen. Ein Kind, das mit nämlichem rotem Käppchen in einem irgendwie urbanen, jedenfalls aber zivilisierten Kontext vor sich hin spielt, auf Du und Du mit Hühnern und Butterblumen, und eines Tages damit beauftragt wird, seiner Oma, der es dem Vernehmen nach schon besser gegangen ist, ein paar Schrippen und eine Flasche Wein vorbeizubringen. So arglos bewegt sich das Kind in seiner Welt, zu der ja auch der dunkle Wald gehört, dass es im bösen Wolf zunächst einen wohlwollenden Spielgefährten, später mittels bemühter Negligé-Camouflage sogar seine eigene Großmutter vermutet. Landluft macht einfältig.

Spätestens an diesem Punkt der Geschichte wird nämlich deutlich, dass es manchmal gar nicht so schlecht ist, wenn sich die Zeiten ändern. Kinder der Gegenwart jedenfalls wären selbst als geborene Städter in der Lage, den bösen Wolf als a) Rex, b) Alf, c) Samson, d) jedenfalls kein Mensch zu identifizieren oder das Publikum zu befragen. Andererseits verlangen sie bei Landpartien wie die pawlowschen Hunde nach einer Tafel Schokolade, sobald sie einer Kuh ansichtig werden. Zusammenfassend lässt sich sagen: Das Verhältnis zwischen Mensch und Tier ist gestört, und das nicht erst seit gestern.

Nimm das Pferdchen, das den Wagen lenkt,

oder die Biene, die uns Honig schenkt,

Kühe und Schafe und den Hund bei uns zu Haus,

ich red' von Tieren, wie sie jeder kennt,

sie leben um uns, doch sie sind uns fremd,

so wie der Storch, die Schnecke und die Fledermaus, sie sehen so anders aus,

das sind die Tiere um uns, leben ihr Leben,

unzählige Arten sehen Dich an,

Tiere um uns, was wären wir ohne sie?

Tiere um uns auf dem blauen Planeten

leben in ihrer eigenen Welt,

Tiere um uns, was wären wir ohne sie?

(Blumfeld, Verbotene Früchte)

Die gute Nachricht ist: Wir müssen nicht ohne Tiere sein. Die noch bessere lautet: Und zwar immer weniger. Hamster, Hasen und Hauskatzen waren gestern. Seit Jahren lässt sich in den Metropolen der Welt bei wilden Tieren ein Phänomen beobachten, dass wir sonst nur von Menschen aus Ländern mit schwach entwickelter Binneninfrastruktur und von Stalkern kennen: Sie wissen, wo wir wohnen, und sie folgen uns, in die Städte.

Die Ursache für die große Landflucht der Tiere ist unerfreulich, weshalb es vielen schwer fällt, sich mit dem Resultat anzufreunden. Dass Tiere, die ehemals als wild galten, sich mittlerweile massenhaft in Großstädten ansiedeln – Füchse in England, Waschbären in Kanada, Turmfalken in Israel, aber eigentlich alle überall –, hat in erster Linie damit zu tun, dass ihr natürlicher Lebensraum im Laufe des vergangenen Jahrhunderts zunehmend eingeschränkt worden ist. Intensive Landwirtschaft hat dazu geführt, dass die erwünschten Monokulturen immer weniger Raum für Hecken, naturbelassene Waldränder oder wilde Flussläufe lassen, exzessive Düngung sorgt dafür, dass Wildpflanzen verschwinden und mit ihnen die Insekten, von denen sich zahlreiche Vögel ernähren, Heilkräuter, mit denen Tiere ihre Krankheiten kurieren. Das Leben in der freien Natur ist damit für viele Tiere inzwischen in etwa so attraktiv, als würde man einen Menschen dazu zwingen, sein Dasein in der Schublade einer Einbauküche zu fristen, in die sich hin und wieder ein Zwiebelring verirrt.

Städte, die gemeinhin und vor allem bei Naturfreunden eher als artifizielle graue Betonwüsten verschrien sind, bieten nun vielen dieser Tiere eine Zuflucht. Weil es in den meisten Haushaltsetats düster aussieht, werden die Grünflächen kaum noch gedüngt, Mülltonnen und -kippen bescheren den Tieren eine ebenso sichere wie üppige Futterquelle und wärmer ist es sowieso. Viele deutsche Stare haben es deshalb längst aufgegeben, im Winter nach Süden zu fliegen.

Cord Riechelmann, Biologe und Journalist, der der tierischen Wanderbewegung mit seinem Buch „Wilde Tiere in der Großstadt“ ein Denkmal gesetzt hat, macht auf die unterschiedlichen Klimazonen aufmerksam, die eine Stadt Mensch und Tier zu bieten weiß. So ähneln die Zentren unserer Städte dem Klima in Steppen und Halbwüsten, was den alltäglichen Weg zur Arbeit gleich ein bisschen aufregender macht und außerdem die Ansiedlung von Haubenlerchen in Mitteleuropa erklärt, die früher nur in der Sahelzone vorkamen. Baustellen, so Riechelmann, glichen hingegen steinigen Tundren und Steppen. Globalisierung mal anders.

Feldlerchen siedeln auf dem Tegeler Flughafen, Heckenbraunellen singen im Quartier Latin in Paris und die Kröten vermehren sich in Pfützen, ohne sich um Mensch oder Verkehr zu scheren. Natürlich wissen wir längst, was wir an unseren Städten haben. Den Studien des Botanikers Wolfram Kunick aber verdanken wir eine Antwort auf die Frage, warum auch manchem Tier das Leben in der Großstadt weit aufregender erscheint als dröges ländliches Idyll. Die Dichte der Pflanzenarten im Zentrum der Hauptstadt übersteigt die in der freien Natur um ein Vielfaches. Auf 424 Arten kam der Biologe in Gebieten mit aufgelockerter Bebauung, wo am Stadtrand gerade mal 357 Arten gezählt wurden.

Nun gestaltet sich das Zusammenleben von Mensch und Tier nicht immer konfliktfrei. Jeder Kleintierbesitzer wird das bestätigen können und womöglich eine Vorstellung davon entwickeln, was es heißt, seinen Garten nicht nur mit einer Katze, sondern außerdem mit einer Wildschweinfamilie teilen zu müssen. Das Gute an Wildschweinen ist, dass sie sehr niedlich sind, wenn sie klein sind und Streifen auf dem Rücken tragen. Nicht so gut ist, dass ihre Eltern das auch finden und nichts weniger leiden können, als wenn ein Fremder die gestreiften Rücken ihrer Jungen betatscht. Die Suche nach Nahrung treibt Wildschweine in die Städte. Und wo sie einmal Nahrung gefunden haben, kommen die Wildschweine gerne und immer wieder – man kennt das von alleinstehenden Bekannten. In der freien Wildbahn ist der Raum für sie eng geworden, weil sich ihr Bestand trotz intensiver Jagd im Laufe des vergangenen Jahrhunderts allein in Deutschland mehr als versechsunddreißigfacht hat. Riechelmann führt diesen Umstand darauf zurück, dass Jäger bei der Jagd bevorzugt auf die fetteste Sau im Verband, die so genannte Leitbache, halten, die allerdings, wie der Wildschweinforscher Heinz Meynhardt erkundet hat, qua chemischer Signale die Geburtenrate ihrer Sippe in Schach hält, je nach Bedarf wahlweise stimuliert oder hemmt. Wird die Leitsau erschossen, kennen die jüngeren Säue kein Halten mehr.

Weil die Wildschweine so hartnäckig an den einmal ausgemachten Futtergründen festhalten, weil das aufgrund ihrer scharfen Eckzähne bei Konfrontationen mit Menschen durchaus gefährlich werden kann, vor allem für letztere, und weil man mittlerweile weiß, dass es effektiver ist, mit dem Gewehr auf Frischlinge zu halten als auf die Muttersau, rückte im Jahr 2003 im Berliner Stadtteil Schmargendorf ein Försterkommando mit städtischem Auftrag an, die kleinen Gestreiften einer in Vorgärten marodierenden Horde zu erlegen. Zwölf Schweinchen ließen unter seinem Beschuss ihr Leben. Was die offenbar tierliebenden Anwohner nicht ungesühnt lassen wollten, dem Förster die Autoreifen aufschlitzten und auch nicht vor körperlichen Vergeltungsmaßnahmen zurückschreckten. In den „befriedeten Bezirken“ der Wohngebiete dürfen sie ohnehin nicht gejagt werden, nur die Fütterung steht unter Strafe. Obelix würde sagen: Die spinnen, die Berliner.

Ähnlich sturmfreie Bude haben Waschbären in der Hauptstadt. Während in Brandenburg Jäger seit 1997 die Pflicht haben, jeden Kleinbären, der ihnen vor den Lauf läuft, zu erschießen, schont man das Waschbärenleben in Berlin. Dort leben sie vor allem im Grunewald und lungern auf ihren Schlafbäumen herum. Ein Teil von ihnen stammt von zwei Gründungspopulationen ab, die 1938 in der Nähe von Kassel ausgesetzt wurden, um sie dort anzusiedeln. Eine radikalere Fraktion entstammt einer Art Raushole im sowjetischen Straußberg, wo einige Tiere im Chaos der letzten Kriegstage 1945 aus einer Pelzfarm entkommen konnten.

Das Tolle an Waschbären ist, dass sie auf der unbehaarten Innenseite ihrer affenähnlichen Hände mehr Gefühl haben als mancher Mensch im Herz. Weil sie dafür vergleichsweise schlecht sehen – die Natur ist hart, aber gerecht – müssen sie das, was sie verspeisen wollen, vorher penibel abtasten, drehen und wenden. Diese missverstandene Geste hat ihnen auch zu ihrem Namen verholfen. Wenn Waschbären gerade nichts zum Abtasten haben, reiben sie die Hände einfach so aneinander, und es ist ihnen völlig wurst, was die anderen Tiere davon halten. Waschbären sind außerdem sehr gut zueinander. Hat einer von ihnen eine Nahrungsquelle aufgetan, lässt er es seine Kumpels wissen, und tags darauf stehen sie zu zwanzigst im Garten. Vielleicht hat es mit ihrer Gutmütigkeit zu tun, dass Waschbären ungefähr so arglos sind wie Rotkäppchen. Wer versucht sie zu fangen, stößt auf wenig Gegenwehr und überhaupt gar keinen Groll. Junge, die mit Menschen in Kontakt kommen, werden anschließend einfach trotzdem wieder in den Verband aufgenommen. Ein Waschbär ist ein Freund fürs Leben.

Steinmarder hingegen, die es einmal in eine menschliche Behausung verschlagen hat, haben es meistens schwer mit der Wiederaufnahme in der Gruppe. Den meisten von ihnen gelingt es anschließend nicht mehr sich fortzupflanzen. Sie unternehmen glücklose Kopulationsversuche – auch dieser Vorgang ist vielen von uns vertraut, nicht nur von alleinstehenden Bekannten.

Marder kennen wir vor allem aus der Auto-Motor-Sport-Welt. Wer sich jemals beim Versuch, sein Auto nach einem Marderbesuch am Morgen zu starten, gefragt hat, warum die Scheißviecher sich ausgerechnet von Kabeln ernähren müssen, dem können wir an dieser Stelle mitteilen: Die wollen nur spielen. In der Tat interessieren sich Marder gar nicht so sehr für Autos im engeren Sinne, obwohl sie im warmen Motorraum gerne schlafen, ausruhen oder ein bisschen an dem herumzuppeln, was gerade herumhängt. Damit hätte sich die Sache dann auch meistens erledigt, hätte nicht zuvor ein anderer Marder den Motorraum zu eben diesem Zweck genutzt und wäre nicht gerade Paarungszeit. Dann nämlich reagieren die Marder extrem aggressiv auf Konkurrenz, auch auf deren Geruch, und lassen sich dazu verleiten, in einer Art Voodoo-Akt die Stätte des rivalisierenden Marders zu zerstören. Wer zu Zynismus neigt, mag ein Stück ausgleichender Gerechtigkeit darin erkennen, dass die häufigste Todesursache für Marder in den Städten darin besteht, dass sie unter Autoreifen geraten.

Ein Text über wilde Tiere in der Großstadt darf nicht enden, ohne auf die Füchse eingegangen zu sein. Lange Zeit wurden sie verfolgt, was damit zu tun hat, dass man sie mit der Übertragung der in den sechziger und siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts gefürchteten Tollwut in Verbindung brachte. Ganze Populationen wurden getötet – was dem Bestand insgesamt aber kaum schaden konnte, weil Füchse mittels eines fein austarierten Systems einfach mehr Welpen werfen, wenn die Dichte abnimmt. Und wenn es ganz besonders eng wird, verzichten die schwächeren Weibchen einfach darauf, selbst Junge auszutragen, und unterstützen stattdessen ihre Geschwister bei Aufzucht und Pflege.

In den Städten allerdings geraten Füchse hin und wieder in die verführerische Nähe von zoologischen Gärten, wo der Jagdinstinkt mit ihnen durchgeht. So hatte der Berliner Zoo eine Zeit lang mit erheblichen fuchsbedingten Einbußen an Pinguinen, Entenküken und Hühnern zu kämpfen. Auch unter den Flamingos kam es zu Opfern. Andererseits wurde unlängst aus dem Frankfurter Zoo bekannt, dass Unbekannte nächtens aus nicht wirklich nachvollziehbaren Gründen mehrere Flamingos enthauptet haben. Da gönnt man es doch mehr den Füchsen. Sie fressen Müll, Regenwürmer, Aas, gerne auch verendete Tauben, um die sich andernfalls die Stadtreinigung kümmern müsste. Das einzige, was man den Füchsen politisch übel nehmen könnte ist, dass sie sich bevorzugt da aufhalten, wo die wohlhabende, konservative Oberschicht lebt. Die hat nämlich traditionell größere Gärten und dichtere Hecken. Manchmal trägt sie aber auch Pelze um den Hals. Wenn die Füchse das sehen, ist die Oberschicht bei ihnen unten durch. Vielleicht auch ein Grund, warum sie sich nun auch um den Alexanderplatz tummeln.

Tiere um uns sind keine besseren Menschen,

in ihrer Welt gilt des Stärkeren Recht,

Tiere um uns, was wären wir ohne sie?

Tiere um uns haben natürliche Feinde,

das was sie bräuchten, wäre ein Freund,

Tiere um uns, gib ihnen eine Chance.

(Blumfeld, Verbotene Früchte)

Zur Startseite