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Geschichte: Global unsozial

HEINER GEISSLER Warum hat der von Marx verkündete Zusammenbruch des Kapitalismus bisher nicht stattgefunden? Wird er möglicherweise noch kommen?

HEINER GEISSLER

Warum hat der von Marx verkündete Zusammenbruch des Kapitalismus bisher nicht stattgefunden? Wird er möglicherweise noch kommen?

Marx hatte den Zusammenbruch des Kapitalismus vorausgesagt. Er hatte die politische Dynamik der ökonomischen Ungleichheiten erkannt. Diese Bedrohung der damaligen politischen Ordnung zeigte Wirkung, und die Regierungen ergriffen eine Anzahl von Maßnahmen, von der allgemeinen Schulpflicht über die Sozialversicherung bis zur progressiven Einkommensteuer, die verhinderten, dass die Ungleichheiten größer wurden. Der pure Kapitalismus wurde dadurch nicht nur entschärft, sondern durch eine neue Wirtschafts- und Sozialphilosophie ersetzt: die soziale Marktwirtschaft mit einem ethischen Fundament und einem geordneten Wettbewerb, der die von Marx vorhergesagte Monopolisierung der Ökonomie verhindern sollte.

Es hat jedoch den Anschein, als ob im Rahmen der Globalisierung die Zivilisation wieder um 200 Jahre zurückgeworfen werden sollte. Die Ökonomie ist global aufgestellt, die Politik nach wie vor national organisiert. Die globale Wirtschaft ist daher eine Welt der Anarchie geworden, ohne Gesetze, ohne Regeln, ohne soziale Übereinkünfte. Globale Konzerne beuten die Menschen aus, betreiben im Bund mit autoritären Staaten wie China Lohnsklaverei und Zerstörung der Umwelt. Sie erpressen steuerpolitisch die Staaten und spielen sie gegeneinander aus. Der Börsenwert eines Unternehmens samt Aktienkurs wird zum ausschließlichen Kriterium für die Bewertung eines Unternehmens. Er steigt umso höher, je mehr Leute wegrationalisiert werden: Shareholder Value ist global an die Stelle der sozialen Marktwirtschaft getreten. Die Kapitalinteressen dominieren. Finanzkrisen erschüttern inzwischen die Welt. „Was das Schlimmste ist: Das neue Globalsystem stellt Gewinne über Menschen“, sagt der Wirtschaftswissenschaftler Lester Thurow. Nokia, Siemens, BMW geben ihm recht.

„Das Kapital hat die Bevölkerung agglomeriert, die Produktionsmittel zentralisiert und das Eigentum in wenigen Händen konzentriert. Die Arbeiter, die sich stückweise verkaufen müssen, sind eine Ware wie jeder andere Handelsartikel und daher gleichmäßig allen Wechselfällen der Konkurrenz, allen Schwankungen des Marktes ausgesetzt.“

Dieses Zitat stammt aus dem Kommunistischen Manifest 1848 und ist eine hinreichende Beschreibung des jetzigen Weltwirtschafts- und Finanzsystems, das moralisch krank und auf Dauer nicht konsensfähig ist. Im Gegensatz zu damals fehlt heute die politische Macht, um in der Welt- und Finanzwirtschaft für Ordnung zu sorgen. Wenn die westlichen Staatsfrauen und -männer nicht endlich aufwachen, werden sich die Prophezeiungen von Marx und Engels doch noch erfüllen.

Heiner Geißler, 78, ist promovierter Jurist. Er war Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit, Generalsekretär der CDU und Mitglied im Bundesvorstand seiner Partei.

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