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© Ullstein

Manchester: Schwarz zu silber

„A City of firsts“, eine Stadt der Erstmaligkeiten – so wirbt Manchester für sich. Zu Besuch in einer besonderen Metropole.

Von Markus Hesselmann

Die Maschinen laufen weiter. „Auch wenn es ein Problem gibt“, sagt Jim Garretts. „Zeit ist Geld.“ Der schmächtige Herr mit den wenigen silbernen Haaren macht sich noch kleiner, noch dünner. Als ob er sich in ein Rohr zwängen wollte. „Die Kinder mussten unter die riesigen Apparaturen kriechen und hineinfassen. Sie konnten das am besten mit ihren kleinen Körpern und ihren kleinen Händen.“ Ihre Aufgabe war, heruntergefallene oder stecken gebliebene Fasern aus den Maschinen für die Baumwollproduktion herauszuholen. Bei laufendem Betrieb. Jim Garretts Arme rotieren. „Immer wieder sind Kinder hineingezogen worden in die Maschinen. Dann konnte man die Knochen brechen hören. Überall war Blut.“ Garretts fasst die Grausamkeit jener Zeit plastisch in Worte und Gesten. Als Kurator betreut er die Sammlung des „People’s History Museum“ von Manchester. Jim Garretts kennt alle Dokumente des Elends in der nordenglischen Industriestadt. Die Zustände in der Textilproduktion in Manchester waren modellhaft für Karl Marx und Friedrich Engels bei ihrer Analyse der Arbeiterklasse im 19. Jahrhundert. „Manchester-Kapitalismus“ ist bis heute der Inbegriff für Ausbeutung und Profitgier – die reine Marktwirtschaft, frei von sozialen Hemmnissen. Hier in Manchester begann die industrielle Revolution. Aber hier begann auch der revolutionäre Kampf gegen die herrschenden Verhältnisse. „A City of firsts“, eine Stadt der Erstmaligkeiten – so wirbt Manchester heute für sich.

Karl Marx, dessen Todestag sich jetzt zum 125. Mal jährt, war vor der deutschen Obrigkeit ins liberale London geflohen und besuchte seinen Freund und Koautor häufig in Manchester. Engels war ein bekehrter Kapitalist. Er war im Management der Baumwollfabrik seines Vaters Friedrich und dessen britischen Kompagnons Peter Ermen tätig. „Wir haben noch eine Originalgarnrolle mit der Aufschrift ‚Ermen & Engels‘“, sagt Garretts mit dem Stolz des Sammlers. Auch eine frühe englische Übersetzung der „Lage der Arbeiterklasse in England“ gehört zu den Exponaten des „People’s History Museum“. In dem Buch benennt Engels das Elend der Menschen von Manchester.

"Little Ireland" gestern und heute

„Die Cottages sind alt, schmutzig und von der kleinsten Sorte“, schreibt Engels über „Little Ireland“ am Medlock-Fluss. „die Straßen uneben, holperig und zum Teil ungepflastert und ohne Abflüsse; eine Unmasse Unrat, Abfall und ekelhafter Kot liegt zwischen stehenden Lachen überall herum, die Atmosphäre ist durch die Ausdünstungen derselben verpestet und durch den Rauch von einem Dutzend Fabrikschornsteinen verfinstert und schwer gemacht – eine Menge zerlumpter Kinder und Weiber treibt sich hier umher, ebenso schmutzig wie die Schweine, die sich auf den Aschenhaufen und in den Pfützen wohl sein lassen.“

Der Ort, den Engels beschreibt, gehört heute zum Studentenviertel von Manchester. Ein roter Stern wirbt für „Revolution“ – eine Restaurantkette. Die Aufschrift unter dem Stern verspricht „Vodka & Food“. Aus den Baumwollfabriken, den Lagerhäusern, den Unterkünften der Arbeiter sind Apartments, Restaurants, Büros und Geschäfte geworden. Baulärm – Bohren, Hämmern, Sägen – liefert den Soundtrack für das neue Manchester. Alles ist Aufbau, Ausbau, Modernisierung. Alles ist „state of the art“ und „contemporary“, auf dem neuesten Stand, zeitgemäß. Zumindest versprechen das die bunten Poster und Schilder, die an jeder Ecke um Käufer und Mieter werben. In einigen heruntergekommenen Seitenstraßen aber ist inmitten zersplitterter Fensterscheiben, eingefallener Dächer und bröckeliger, verschimmelter Mauern noch zu erahnen, wie die Menschen hier einst gehaust haben.

Das rote und das silberne Manchester

Wer aber hinauffährt in das imposanteste neuere Gebäude, den gläsernen Turm des Hilton-Hotels, der blickt aus der „Skybar“ im 23. Stock auf ein urban-glamouröses Ensemble aus Backstein und Stahl. Das alte, rot schimmernde Manchester und das neue, silbern glänzende haben sich ineinander verzahnt. Die Kellner in der Skybar sind Osteuropäer wie überall in britischen Städten. Eine neue Dienstleisterklasse hat sich aus dem Postsozialismus auf der Suche nach einem besseren Leben nach England abgesetzt. In das Land, in dem einst jene Theorien ausgearbeitet wurden, deren Praxistest die jungen Osteuropäer und ihre Eltern um Jahrzehnte zurückwarf.

Die Cocktails in der Skybar kosten zwölf Euro, mehr als der britische Mindeststundenlohn. Sie heißen „Cottonopolis“ oder „Alexandra Park“. Manchester steht zu seiner Geschichte, der älteren wie der neueren. Der Geschichte seiner Baumwollfabriken und der Geschichte seiner Problemviertel. Der Alexandra Park liegt im Süden der Stadt, in Moss Side. In dem Viertel wohnen hauptsächlich Einwandererfamilien: Auf der Suche nach Arbeit kamen zuerst die Iren. Dann Inder, Jamaikaner und andere aus dem auseinanderfallenden Empire. Schließlich die Flüchtlinge aus Afrika und arabischen Ländern.

Moss Side soll bürgerlicher werden

Moss Side steht wie Brixton in London oder Toxteth in Liverpool als Chiffre für die Rassenunruhen der Achtzigerjahre sowie für die Schießereien und Messerstechereien zwischen Jugendgangs in den vergangenen beiden Jahrzehnten. Aufgeschreckt durch die Gewalt, hat die Politik etwas gegen die Verslumung unternommen. Neue Häuser wurden gebaut, die alten saniert, die Straßen und Gehwege repariert. Derzeit wühlen sich Bagger durch eine riesige Brache in Moss Side. Arbeiter legen erste Fundamente. Auf dem Gelände des alten Fußballstadions von Manchester City, wo der deutsche Torwart Bernd Trautmann in den fünfziger Jahren die Massen begeisterte, entsteht zwischen alten Arbeiterhäuschen ein Apartmentkomplex. Das Projekt will etwas besser gestellte Käufer und Mieter anziehen.

Moss Side soll bürgerlicher werden, kein Ghetto mehr sein, kein Herd der Kriminalität. Wie sonst im Landesschnitt geht die Verbrechensrate in Manchester zurück. Das Problem schwerer Gewalttaten bis hin zum Mord, vor allem durch Jugendgangs, aber ist in Manchester wie in anderen britischen Großstädten eher größer geworden.

No London Calling

Längst nicht alle Einwanderer sind im Ghetto gestrandet. Eine Familie setzt sogar auf ihre Weise die Tradition der Textilindustrie fort. „Als mein Vater aus Indien kam, hatte er buchstäblich nichts“, sagt Sandeep Malhotra. Er führt das Textilunternehmen fort, das sein Vater vor 25 Jahren gründete – als Stand auf dem Markt und als Koffer voller Hemden, mit dem Malhotra senior einige Zeit nach seiner Ankunft von Tür zu Tür zog. Malhotra junior hat kürzlich sein eigenes Designlabel aufgelegt und verkauft unter der Marke „Unique Boutique“ 100.000 Kleidungsstücke pro Jahr. „In weniger als zwei Jahren hat Unique Boutique eine bedeutende Fangemeinde für seine sexy Partykleider gewonnen“, schreibt das Branchenmagazin „Drapers“.

In seinem Showroom in einer Seitenstraße an Piccadilly Gardens hängen Bilder von Stars, die Paparazzi in „Unique Boutique“ fotografierten. Das Model Kate Moss, Bollywood-Star Shilpa Shetty und Victoria Beckham wurden schon in Malhotras Kleidern gesehen. Das Spice Girl, auch Ehefrau David Beckhams, einst Manchester Uniteds Fußballheld, ist für ihn eine wichtige Bezugsgröße. „Alle Mädchen wollen wie Popstars und wie die Frauen der Fußballer sein“, sagt Sandeep Malhotra. Oder wie die mögliche Frau eines künftigen Königs. Auch ein Bild von Kate Middleton, der Immer-mal-wieder-Freundin von Prinz William, Nummer zwei in der Thronfolge, hängt bei „Unique Boutique“ als Referenz an der Wand.

Sandeep Malhotra kommt nicht in den Sinn, von Manchester in die Modemetropole London zu wechseln. „In Zeiten des Internets ist es nicht mehr so wichtig, wo eine Firma ist. Außerdem haben wir unsere Agenten in London.“ Seine Mode passt aber auch zur Arbeiterstadt Manchester. „Unique Boutique“ steht für einen Working-Class-Chic der Fußballerfrauen, Girl-Group-Sängerinnen und Big-Brother-Kandidatinnen. Dass Malhotra junior selbst aussieht wie ein Bollywood-Star, dürfte bei seinen Recherchestreifzügen durch die VIP-Szene Manchesters kein Nachteil sein.

"Die Bombe hat uns vorangebracht"

Das neue Geld für Manchester und seine 450 000 Einwohner kommt aus Branchen wie Unterhaltung, neue Medien, Hightech-Entwicklung oder Finanzdienstleistungen. Der Boom ist allerdings gefährdet, denn auf der Insel geht die Angst um vor einer Rezession. „Ohnehin sind wir immer noch eine der ärmsten Regionen in Großbritannien“, sagt Peter Babb. „Das darf man nicht vergessen.“ Der Chef der Stadtplanung im Rathaus von Manchester weiß, dass schönere Häuser und Straßen allein weder Sicherheit noch Wohlstand bringen. Aber sie schaffen das Umfeld für einen Aufbruch und helfen den Menschen, nicht zu resignieren oder ein Alles-egal-Gefühl zu entwickeln. Und so ist Babb schon stolz darauf, wie Manchesters Stadtbild sich verändert hat. Vor allem nach 1996. Am 15. Juni, während der Fußball-EM in England, zündeten Terroristen der Irisch Republikanischen Armee eine Bombe in der Innenstadt von Manchester. Niemand starb, die Täter hatten kurz vorher gewarnt. Aber mehr als 200 Menschen wurden verletzt. Die Schäden an den Gebäuden waren so groß, dass die Stadtplaner den Entschluss zu Abriss und Neuaufbau fassten.

„Die Bombe hat uns vorangebracht“, sagt Peter Babb. „Man muss es so sagen.“ Plötzlich stand Manchester im Blickpunkt der Nation. Alle wollten etwas tun für die Stadt: die Wirtschaft, die konservative Regierung in London, der Rat der Stadt Manchester, wie eh und je von der Labour-Partei dominiert – sie alle arbeiteten zusammen, um aus dem Schock einen Start zu machen. Die Chance war da, Bausünden der Nachkriegsjahre wiedergutzumachen – graue Plattenbauten, Peter Babb spricht von „Monströsitäten“.

Und dem Wasser zugewandt

Gläserne Bürogebäude entstanden, geräumige Einkaufszentren, erste Abschnitte einer Promenade am Fluss Irwell. Die Stadt erschloss ihre Kanäle, die sie einst industriell genutzt hatte, und lockte Restaurants, kleine Läden und kreative Firmen dorthin. „Die Viktorianer haben dem Wasser den Rücken gekehrt“, sagt Peter Babb. Die Fabrikanten und leitenden Angestellten, Profiteure des industriellen Booms, wollten die Armut an den Flussufern nicht sehen. In seinem Englandbuch beschreibt Engels, wie Mauern und Ladenfronten den Blick auf die Elendsquartiere verdeckten. „Wir wenden uns dem Wasser wieder zu“, sagt Peter Babb. „Heute muss jeder Bauherr zwei Eingänge planen. Einen zur Promenade und einen zur Straße. Das ist eine Vorgabe von uns.“

Den Job von der Luftwaffe übernommen

Ein Bombenterror ganz anderen Ausmaßes hat die baulichen Monströsitäten der Nachkriegsjahrzehnte überhaupt erst ermöglicht. „Die Stadtplaner haben ihren Job von der Luftwaffe übernommen“, sagt Peter Babb, lacht und zuckt kurz zurück. „Oh bitte, schreiben Sie das nicht!“ Es braucht einen Moment, ihn davon zu überzeugen, dass man vor deutschen Zeitungslesern den Krieg ruhig erwähnen darf.

Peter Babb sucht alte Bilder und eine Karte heraus. Ein Foto aus der Mitte des vergangenen Jahrhunderts zeigt das Rathaus, rundum von Ruß geschwärzt. Heute ist es wieder ein sauberer Sandsteinbau. „Es gab sogar zwischenzeitlich die Idee, das Rathaus abzureißen“, sagt Peter Babb und schaut drein, als wäre dieser barbarische Akt auch heute noch eine reale Bedrohung . „Zum Glück war das zu teuer, man ist zur Einsicht gekommen.“

Den Ozean in die Stadt geholt

Babbs Karte, der „strategische Plan“, teilt das heutige Manchester in mehrere farbige Abschnitte auf. In der Mitte, zart fliederfarben, der „Einzelhandelskern“. Hier ging die Bombe hoch, hier ist jetzt alles friedliche Fußgängerzone. Im Südwesten, knallrot, der Bezirk Castlefield. Hier liegt Manchesters Ursprung, ein römisches Fort. Und von hier aus schob sich die Industrie in die Stadt. Bahngleise und Kanäle drangen ein. „Sie wollten den Ozean nach Manchester holen“, sagt Peter Babb. „Deshalb der Schifffahrtskanal.“ Die Küstenstadt Liverpool, ewige Konkurrentin im Nordwesten Englands, sollte ausgestochen werden. Manchester wollte die Industriestadt Nummer eins sein, mit allen Vorteilen des Gütertransports auf dem Wasser.

Nordöstlich neben Castlefield liegt Peter’s Fields, ein Abschnitt in Orange auf Babbs Karte . Das heutige Hotel- und Konferenzzentrum war einst Schauplatz einer blutigen Auseinandersetzung, die als Peterloo-Massaker in die britische Geschichte einging, ein sarkastisches Wortspiel, das einen Zusammenhang mit der Schlacht von Waterloo andeutet. Britische Soldaten, die siegreich gegen Napoleon gekämpft hatten, töteten und verletzten an jenem Tag ihre eigenen Landsleute. Die einstigen Peter’s Fields sind längst bebaut. Am Luxushotel Radisson in der Peter Street hängt eine Plakette, die mit einer Inschrift an das Massaker erinnert: „Am 16. August 1819 versammelten sich 60.000 Reformer, die für mehr Demokratie kämpften, Männer, Frauen und Kinder. Sie wurden von bewaffneter Kavallerie attackiert. 15 starben, 600 wurden verletzt.“

Reform statt Revolution

Das „People’s History Museum“ besitzt ein Bild aus jener Zeit. Soldaten in bunten Uniformen metzeln mit ihren Säbeln die Menschenmenge nieder. Auf der Bühne stehen verschreckte Redner. Sie setzten sich unter anderem für ein Wahlrecht ein, in dem nicht nur die besitzende Klasse abstimmen darf. Das Peterloo-Massaker gilt als wichtiges Ereignis im Kampf um Reformen. Zur Revolution hat es in Großbritannien ebenso wenig geführt wie die Schriften von Marx und Engels.

In Manchester erinnert heute nicht mehr allzu viel an die beiden. In der Chetham-Bibliothek ist der Tisch markiert, an dem sie lasen. Dort, wo sie tranken und diskutierten, im Pub „The Crescent“ auf der anderen Seite des Irwell, erinnert nichts an die beiden Revolutionstheoretiker. „Das interessiert die Einheimischen nicht“, sagt der Wirt mit einem freundlichen Lächeln, das durchblicken lässt, dass er diese Frage des Öfteren gestellt bekommt. Der Mann vom „People’s History Museum“ fasst die Beziehung zwischen Marx und Manchester so zusammen: „Für die Menschen hier hat er etwas mit Russland zu tun“, sagt Jim Garretts. „Aber nichts mit England.“

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