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Neoliberalismus: Die Achillesferse des Systems

Vor 70 Jahren wurde der Neoliberalismus erfunden – heute gelten seine Anhänger als profitgeil und kalt. Ein Kampfbegriff schreibt Geschichte - und wandelt sich.

Vor ein paar Wochen wurde Horst Seehofer danach gefragt, wie die Union im nächsten Bundestagswahlkampf wohl bestehen könne. Diese Gelegenheit nutzte der CSU-Politiker und Verbraucherschutzminister dazu, um vor einer der großen Gefahren für die Gesellschaft und somit auch für seine Partei zu warnen: vor den „neoliberalen Radikalreformern“. Große Schlagzeilen waren Horst Seehofer gewiss, denn als erster prominenter Unionspolitiker reihte er sich damit in eine breite Phalanx der Warner, Mahner und Kritiker ein. Das Problem ist nur, dass hier offenbar jeder die Gefahr anderswo vermutet: hinter der Globalisierung, hinter Schäubles Sicherheitsgesetzen oder der Bahn-Privatisierung. Der SPD-Vorsitzende Kurt Beck wittert sie in der CDU, der linke Fraktionschef Gregor Gysi in der SPD, und seit der rot-rote Senat in Berlin regiert, den Haushalt saniert und den Gewerkschaften Paroli bietet, wurde die Gefahr auch schon bei den Linken entdeckt. Kurzum: Der Neoliberalismus lauert überall.

Das war vor 70 Jahren anders. Im August 1938 fand sich in Paris eine Gruppe von 26 Männern, allesamt Gegner des Nationalsozialismus, zu einem internationalen Symposium zusammen und prägte den Begriff „neoliberal“. Die Wirtschaftswissenschaftler und Gesellschaftsphilosophen (unter ihnen der aus Österreich stammende spätere Nobelpreisträger Friedrich August von Hayek) wollten die kapitalistische Gesellschaft auf eine neue Basis stellen. Die Stimmung indes war düster. Man sah, wie nach der großen Wirtschaftskrise die Welt zerfiel und der Krieg heraufzog, wie Kommunisten und Faschisten, Stalinisten und Nationalsozialisten die Macht an sich rissen. Man kritisierte die „staatsfreie Wirtschaft“ und war davon überzeugt, dass der Staat deshalb zur Beute von Ideologen und Interessensgruppen werden konnte, weil er schwach war.

Einen Schuldigen fanden die Pariser Gelehrten im klassischen Liberalismus, der im 19. Jahrhundert unter anderem von Adam Smith geprägt worden war. Sie warfen der klassischen Lehre vor, sie habe die soziale Frage vernachlässigt, und analysierten, eine Wirtschaft, in der die Marktkräfte unreguliert wirken könnten, gefährde den Wettbewerb und befördere die Bildung von Monopolen oder Kartellen wie etwa in Nazi-Deutschland. Gegen diesen Laisser-faire-Liberalismus entwarfen die klugen Köpfe die Idee eines Staates, der dem Wettbewerb klare Regeln setzt, über deren Einhaltung er wacht, und der von Interessensgruppen unbeeinflusst ist. Es war der deutsche Sozialwissenschaftler Alexander Rüstow, der in Paris in diesem Zusammenhang als erster vom Neoliberalismus sprach: „Der neue Liberalismus, den ich mit meinen Freunden vertrete, fordert einen starken Staat, einen Staat oberhalb der Wirtschaft, oberhalb der Interessenten, da, wo er hingehört.“

Starker Staat, soziale Frage, regulierter Markt. Das alles würde Horst Seehofer sofort unterschreiben – und Kurt Beck natürlich auch. Nur Gregor Gysi würde sich vermutlich winden, denn der starke Staat, den von Rüstow sich vorstellte, ist ein anderer als der Wohlfahrtsstaat, den die Linke im Blick hat. Aber weder Gysi noch Beck, geschweige denn Seehofer würde auf die Idee kommen, Ludwig Erhard einen Neoliberalen zu schimpfen. Der Vater des Wirtschaftswunders ist heute so etwas wie ein politischer Säulenheiliger der alten Bundesrepublik, vor 60 Jahren war er ein Anhänger des Neoliberalismus. Nur gefiel Adenauers Wirtschaftsminister und seinen Beratern der Begriff nicht, „tendenziös und nicht zutreffend“ nannte ihn Walter Eucken, der Mitbegründer der Freiburger Schule. Er sprach lieber vom Ordo-Liberalismus und Erhard seinerseits lieber von der „sozialen Marktwirtschaft“.

Egal, ob Neo oder Ordo, die neue Theorie bot sich für die CDU an, um nach dem Zweiten Weltkrieg im Westen Deutschlands einerseits das quasi-sozialistische Ahlener Programm zu beerdigen und an der kapitalistischen Wirtschaftsordnung festzuhalten. Anderseits konnte die CDU diese Wirtschaftsordnung zugleich modernisieren und idealisieren. Der erste westdeutsche Wirtschaftsminister und spätere Kanzler wurde zu einer Ikone, auch wenn sich die wirtschaftspolitische Praxis der Nachkriegszeit bald von Erhard und Eucken abwandte. Stattdessen kam auch in der jungen Bundesrepublik vor allem der Ökonom Keynes zu Zuge. Nicht auf die Regulierung von Markt und Wettbewerb setzte das Wirtschaftswunderland, sondern auf staatliche Investitionen, steigende Löhne und schuldenfinanzierte Konjunkturprogramme.

Geht man also zu den ideengeschichtlichen Wurzeln des Neoliberalismus zurück, stößt man auf die Paradoxie, dass die vielen Kritiker des Neoliberalismus recht eigentlich seine Anhänger sind. Sie fordern das, was einst die deutschen Neoliberalen propagierten: Den interventionsfähigen Staat, der der Wirtschaft einen Ordnungsrahmen setzt – und sie bedienen sich ihrer Argumente.

Doch unter Neoliberalismus versteht man heute etwas anderes als vor 70, 60 oder 50 Jahren. Innerhalb eines halben Jahrhunderts wurde eine wirtschaftspolitische Idee auf den Kopf gestellt. Der Neoliberalismus hat nur noch Gegner, und trotzdem oder vielleicht gerade deshalb hat sich das kleine Wörtchen „neoliberal“ in den letzten Jahrzehnten zu einer politischen Allzweckwaffe, ja zu einem Kampfbegriff entwickelt. Neoliberale gelten als kalt, unsozial und profitgeil. Sie drücken die Löhne, privatisieren den Staat und zerstören das Gemeinwesen. Kurzum: Alle Übel der Welt im Kapitalismus sind irgendwie neoliberal motiviert.

Ohne Milton Friedman, einen der einflussreichsten Ökonomen des 20. Jahrhunderts, wäre das nicht passiert. Ende der sechziger Jahren geraten der amerikanische New Deal und die in der westlichen Welt dominierende keynesianistische Wirtschaftspolitik in die Krise. Der Ölpreis steigt, Arbeitslosigkeit, Sozialausgaben und Staatsverschuldung schießen in die Höhe. Die Theorien von Keynes stoßen an ihre Grenzen, und als Alternative zur politisch gesteuerten Wirtschaft, zur Abschottung der eigenen Märkte und schuldenfinanzierten Konjunkturprogramme plädiert Milton Friedman, der Begründer der Chicagoer Schule, für eine strenge, am Wachstum der Geldmenge ausgerichtete Finanzpolitik, für den Rückzug des Staates aus der Wirtschaft sowie die Selbstheilungskräfte des Marktes.

Aus dem klassischen Liberalismus entwickelt sich so eine völlig neue Denkrichtung. Friedman war zwar dabei, als sich die Pariser Neoliberalisten nach dem Zweiten Weltkrieg in der Mont-Pélerin-Gesellschaft zusammenschlossen, und ursprünglich wurde auch er von den ordo-liberalen Ideen der Freiburger Schule geprägt. Aber er und die Chicagoer Schule lösten sich bald von diesen Wurzeln. Statt des Wettbewerbs, der durch eine aktive Politik geschützt werden muss, rückt Friedman den Markt in den Mittelpunkt seiner Theorien.

Milton Friedman wird zum Monetaristen, zu einem Angebotstheoretiker sowie zum Guru einer ganzen Generation von Wirtschaftswissenschaftlern. Und Milton Friedman liebt die Provokation. Er will die „willkürliche Staatsmacht“ und die Steuern senken, er hält die soziale Verantwortung von Unternehmen für gefährlich und lehnt jede Form sozialstaatlicher Umverteilung ab. Der Wohlfahrtsstaat gehört für ihn zu den größten Feinden der Wirtschaft. Bei Friedmann regelt der Markt alles, und deshalb plädiert er sogar für die Freigabe harter Drogen.

Mit Paris oder Freiburg hat das nicht mehr viel zu tun, denn eigentlich propagiert Friedman wieder einen Laisser- faire-Liberalismus und knüpft dabei an die Ideen von Adam Smith an. An jenen klassischen Liberalismus also, gegen den sich die Begründer des Neoliberalismus 1938 wie auch die deutschen Ordo-Liberalisten abgegrenzt hatten. Friedman fordert nicht den starken Staat, sondern plädiert für einen Minimalstaat. Zudem versteht er sich selbst als Liberaler, nicht als Neoliberaler. Dazu machen ihn erst seine Kritiker. Sie sprechen vom „Terror der Ökonomie“, von der „Diktatur des Marktes“ . In der Auseinandersetzung mit dem Monetarismus, der Chicagoer Schule, mit deren Politik in den Chefetagen von Internationalem Währungsfonds (IWF) und Weltbank prägen sie gewissermaßen den neuen Begriff neoliberal.

Munition liefern Milton Friedman, seine Chicago Boys und die nun in den Wirtschaftswissenschaften dominierenden Monetaristen ihren Kritikern genug. Friedman ist mehr als ein Wirtschaftswissenschaftler, er ist ein konservativer Intellektueller und wird in den achtziger Jahren zum politischen Berater. Er unterstützt den US-Präsidenten Ronald Reagan und seine konservative Revolution. Er berät die britische Premierministerin Margaret Thatcher, die in ihrem Land vehement die Gewerkschaften bekämpft. Nach dem Militärputsch 1973 eilen seine Chicago Boys zudem nach Chile, um unter Diktator Pinochet ihre Ideen quasi in einem marktradikalen Feldversuch umzusetzen. Damit nähren Friedman und seine Freunde den Verdacht, dass ihnen zur Durchsetzung ihrer Heilslehre jedes Mittel recht ist. In seinem Bestseller „Capitalism and Freedom“ hatte Friedman noch verkündet, wirtschaftliche Freiheit sei die Voraussetzung für politische Freiheit. Doch nun werden in Chile – und nicht nur dort – von seinen Schülern politische Freiheiten und Menschenrechte für einen marktwirtschaftlichen Fundamentalismus geopfert.

So richtig populär wird der Neoliberalismus jedoch erst in den neunziger Jahren mit der zunehmenden Kritik an der Globalisierung. Durch Freihandelsabkommen und die Öffnung der Finanzmärkte brechen etwa in Mexiko und in Südostasien die Finanzsysteme zusammen. Ganze Volkswirtschaften werden in die Krise gestürzt und Millionen von Menschen in Armut. Deshalb ist die Globalisierung für ihre Kritiker per se neoliberal. Klingt ja auch schöner als frühere Schlagworte wie spätkapitalistisch oder imperialistisch.

Zunächst allerdings findet das Wort lediglich Einzug in die Debatten von Fachkreisen. Erst als der französische Philosoph Pierre Bourdieu und der amerikanische Intellektuelle Noam Chomsky, erst als auch Vertreter der evangelischen Kirche und Attac den Neoliberalismus geißeln, wird er zum Zeitgeist. Inzwischen füllen Schriften über das „Elend des Neoliberalismus“ oder „die Religion des Marktes“ ganze Regale.

Das Wort neoliberal hat eine neue Bedeutung bekommen, es steht fortan für Deregulierung und Flexibilisierung, Privatisierung und Globalisierung. Auch die antifaschistische Grundhaltung seiner Urväter gerät völlig in Vergessenheit. So wird der Neoliberalismus zur ersten Gesellschaftstheorie, die nicht zunächst von ihren Anhängern als geschlossenes Ideengebäude entwickelt wird, sondern von ihren Gegnern als Patchwork-Theorie. Unter diese lassen sich alle negativen Erscheinungen des modernen Kapitalismus subsumieren. Und es ist nur folgerichtig, dass Hans Jürgen Urbans 2004 erschienenes „ABC zum Neoliberalismus“ diesen als „modernisierte und radikalisierte Variante des klassischen Wirtschaftsliberalismus“ definiert. Weiter heißt es dort: „Neoliberalismus bedeutet in der Praxis Destruktion des Gesellschaftlichen. Für die dabei entstehenden Ungleichheiten, Verwerfungen und Spannungen hat er außer der Option autoritärer Innen- und Außenpolitik kein taugliches Konzept.“

Dabei haben der klassische Monetarismus und die pure Angebotsorientierung ihren Zenit längst überschritten, in den USA greift sogar eine konservative Regierung wieder in den Markt ein, in der Bankenkrise rufen deren Manager nach staatlicher Regulierung, und auch in internationalen Institutionen hat längst eine selbstkritische Debatte begonnen. Der ehemalige Chefökonom der Weltbank Joseph Stiglitz entschuldigte sich gar für den „marktwirtschaftlichen Fundamentalismus“ von IWF und Weltbank, sprach offen über die „Schatten der Globalisierung“, und als Bundespräsident Horst Köhler noch IWF-Direktor war, räumte auch er ein, die Globalisierung bedürfe der „politischen Gestaltung“.

Den Siegeszug der Neoliberalismuskritik konnte das nicht aufhalten, und über die Globalisierung hat sie inzwischen auch die Innenpolitik erreicht. Als Erstes traf es Bundeskanzler Gerhard Schröder und seine Agenda 2010, anschließend die CDU mit ihrem Leipziger Programm-Parteitag und schließlich die große Koalition. In allen politischen und sozialen Auseinandersetzungen ist der Vorwurf, die Politik sei „neoliberal“, mittlerweile schnell zur Stelle.

Noch vor ein paar Jahren sahen die Gewerkschaften im Mindestlohn einen Angriff auf die Tarifautonomie – inzwischen ist dessen Verweigerung durch die Arbeitgeber Ausdruck neoliberaler Politik. Über vieles ließe sich diskutieren. Über die Gesundheitsreform und die Lohnnebenkosten etwa, über die Senkung der Einkommenssteuer und die Mehrwertssteuererhöhung, über Staatsschulden und öffentliche Haushalte. Doch immer häufiger ersetzt das Totschlagargument jede politische Auseinandersetzung.

Dabei macht sich in Deutschland niemand den Begriff des Neoliberalismus zu eigen, nicht die Arbeitgeberverbände, nicht die FDP und nicht einmal die Initiative soziale Marktwirtschaft, die seit ein paar Jahren Lobbyarbeit im Interesse von Unternehmern betreibt. Deshalb haben Gregor Gysi, Kurt Beck und Horst Seehofer ein einfaches Spiel: Der Feind ist zwar gefährlich, bleibt aber unsichtbar.

Nur an den Universitäten tut sich etwas. Erst jetzt, wo die Gegner die Oberhand gewonnen haben und die Neoliberalismuskritik bis in die Union hinein salonfähig geworden ist, beginnen Wirtschaftswissenschaftler damit, den Begriff auch positiv zu besetzen. Aus dem „lamentierenden Zeitgeist“ wollen sie wieder ein „Projekt“ machen. Für Gerhard Willke ist denn auch „die Frage der Verteilung und der Gerechtigkeit“ die „Achillesferse“ des Marktsystems. Und so könnte eine allgemeine Theorie des Neoliberalismus wieder dort ankommen, wo die Teilnehmer des Pariser Kolloquiums einst begonnen haben. Schon sie stellten fest, dass das Privateigentum nur „bei gerechter und allgemeiner Verteilung“ das „Fundament von Freiheit, Unabhängigkeit und Menschenwürde“ sein kann.

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