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Reichstag-Geschichte: Der Brand - Wer hat den Reichstag angezündet?

Reichstagsgebäude, große Protokollsaal, erstes Obergeschoss - in diesem Raum tags heute die Föderalismuskommission. 1933 wurde er Schauplatz eines dramatischen Duells. Verhandelt wurde die Frage: Wer hat den Reichstag angezündet?

Berlin, Königsplatz, 30. April 1945. Seit dem frühen Morgen schießen Panzer der Roten Armee das Reichstagsgebäude sturmreif – das dauert, die Ecktürme stehen auf teilweise über drei Meter dicken Mauern. Tausende von Soldaten hat Feldmarschall Georgi Schukow in die Schlacht geschickt, die Eroberung des Reichstags soll dem fürchterlichen Krieg ein Ende setzen, möglichst noch vor dem Maifeiertag, er hat es Stalin versprochen. Gegen 16 Uhr gibt Schukow eine Erfolgsmeldung nach Moskau durch, doch erst am Abend gelingt es, auf der Ruine die rote Fahne zu hissen. Der Krieg aber wird fortgesetzt, ein paar Tage noch.

Warum der Reichstag? Dort saßen weder die Regierung noch ein Parlament. Es gab das Zentralarchiv für Wehrmedizin, in dem die Krankenakten aller Wehrmachtsangehörigen verwaltet wurden, es gab eine Entbindungsstation, in der an die 200 Kinder geboren wurden. Und in einigen Räumen zeugten riesige Stadtmodelle von den maßlosen Visionen Hitlers und seines Architekten Albert Speer. Der Reichstag war das größte Haus weit und breit, mit seinen zugemauerten Fenstern sah er aus wie eine Festung. Aber reicht das als Erklärung für den hohen symbolischen Wert, den das Gebäude nun hatte?

Vielleicht liegt der Schlüssel für die Antwort in jener Zeit von 1933 bis1934, als die Nazis die Macht eroberten.

Vor 75 Jahren, am Abend des 27. Februar 1933, einem Rosenmontag, bricht Feuer aus im Reichstag. Die Polizei nimmt einen jungen Holländer auf frischer Tat fest: Marinus van der Lubbe. Hitler und Goebbels eilen zur Brandstelle; Göring, amtierender Reichstagspräsident und preußischer Innenminister, kommt von seinem Büro Unter den Linden. Für Goebbels ist das Feuer „ein Zeichen vom Himmel“, wie er zu Protokoll gibt; für Göring eine „kommunistische Provokation“. Noch in der Nacht wird eine Verordnung ausgearbeitet und vom Reichspräsidenten Hindenburg unterschrieben, die es der Polizei erlaubt, überall im Reich Kommunisten und andere Oppositionelle zu verhaften. Die Redaktionen linker Zeitungen werden besetzt. Es entstehen sogenannte „Wilde KZs“, zum Beispiel in der General-Pape-Straße und im Columbia- Haus; jene, die das Regime fürchtet, werden festgenommen, geschlagen, gefoltert. Einigen gelingt die Flucht, unter ihnen Prominente wie Billy Wilder oder Willi Münzenberg, Pressezar der KPD. Andere wie Thomas Mann und Albert Einstein sind im Ausland und bleiben lieber dort. Der Fraktionschef der KPD, Ernst Torgler, hört, dass man ihn des Brandes verdächtigt, weil er kurz vor Entdeckung des Feuers im Reichstag gesehen wurde; sich keinerlei Schuld bewusst, stellt er sich und wird verhaftet.

Der Brand fällt mitten in einen Wahlkampf, wie er verbissener nicht sein könnte – seit dem 1. Februar, seit Hitler das Parlament aufgelöst hat und für den 5. März Neuwahlen angesetzt sind. Noch haben die Nazis nicht die Alleinherrschaft. Aber sie werden sie erringen, und sie sind fest entschlossen, die Kommunisten zu vernichten. Der Brand ist willkommener Anlass.

Auch Paul Löbe, Sozialdemokrat und langjähriger Reichstagspräsident, geht davon aus, dass hinter dem Feuer eine große Macht steht. Löbe fährt mit dem nächsten Zug nach Berlin, um sich „vom Tatbestand zu überzeugen“, wie er in seinen Erinnerungen schreibt. „Ich traf den vertrauten Bau äußerlich wenig verändert an (...) nur die Glaskuppel in der Mitte war unter der Glut zerborsten, verräucherte und verbogene Träger wiesen auf die Brandlegung hin. Beim Betreten des Hauses stelle ich zunächst fest, dass der Feuerherd planmäßig auf den Sitzungssaal begrenzt war.“ Die Bibliothek mit ihren 300 000 Bänden, die Archive und die Druckerei, die Zimmer des Präsidenten, die Büros der Verwaltung, die Fraktionszimmer und kleinere Säle findet Löbe unversehrt vor, der Sitzungssaal selbst bietet „ein Bild vollständiger Zerstörung“. Löbe vermutet eine Verschwörung von rechts, während die Nazis eine Verschwörung von links behaupten. In den ersten Schlagzeilen heißt es, van der Lubbe habe ein kommunistisches Parteibuch bei sich. Auf die Frage, warum der 24-Jährige das getan habe, sagt er bei seiner ersten Vernehmung nur „Protest“. Ein Signal zum Aufstand habe er geben wollen. Dass er bis zum Schluss behaupten wird, die Tat allein begangen zu haben, lassen beide Lager nicht gelten.

Zehn Tage nach dem Brand verhaftet die Polizei in der Gaststätte „Bayernhof“ am Potsdamer Platz Georgi Dimitroff zusammen mit zwei weiteren bulgarischen Staatsbürgern und beschuldigt sie, am Brand beteiligt gewesen zu sein. Alle drei halten sich illegal in Deutschland auf und arbeiteten für die Kommunistische Internationale – die KI, die, um es einfach zu sagen, Deutschland für eine Revolution vorbereiten will. Dass die drei Bulgaren zum Zeitpunkt des Brandes nicht in Berlin waren, lässt die Kripo kalt.

Aus dem Ausland wird dagegen der Ruf immer lauter, dass die Nazis selbst den Brand gelegt haben, um sich den Weg zur Macht zu ebnen. Die Kommunisten seien sofort freizulassen. Maßgeblichen Anteil haben die KI und Willi Münzenberg. In Paris gründet er die „Editions Carrefour“, die das „Braunbuch“ herausgibt und an dem unter anderem der Schriftsteller Arthur Koestler mitarbeitet. Das Braunbuch wird zum vielleicht wichtigsten Instrument in der propagandistischen Auseinandersetzung mit den Nazis. Münzenberg kann auch erklären, wie die Nazibrandstifter die Kanister mit der brennbaren Flüssigkeit in den Reichstag gebracht haben sollen: durch einen Tunnel zwischen dem Reichstag, dem Reichstagspräsidentenpalais und einem Heizwerk. Jahre später räumt Koestler ein, dass die Geschichte frei erfunden gewesen sei.

Noch mehr in die Defensive bringt die Nazis das von Münzenberg initiierte „Gegentribunal“ in den Londoner Law Courts. Münzenberg kann renommierte Juristen für dieses Hearing gewinnen, die meisten stehen den Kommunisten nicht einmal besonders nahe. Zeugen werden benannt, die zwar Nazigräuel, nicht aber den Reichstagsbrand erlebt hatten. Gefälschte Memoranden werden verbreitet, viele Zeitungen schenken ihnen Glauben, auch sie werden ein Teil einer Verschwörungstheorie. Und sie lenken die Aufmerksamkeit auf ein Verfahren, das der amerikanische Konsul Ralph Busser auf eine Stufe mit den Prozessen gegen Sokrates, Luther oder Galilei setzt.

Auch die Nazis sind überzeugt, der Gegenseite einen empfindlichen Schlag versetzen zu können. Sie taten es bereits durch physische Gewalt mit ihrer Verhaftungswelle noch in der Nacht auf den 28. Februar. Nun beabsichtigen sie, eine kommunistische Verschwörung in einem Schauprozess nachzuweisen und so dem propagandistischen Druck aus dem Ausland zu begegnen. Monatelange Ermittlungen gehen dem Verfahren voraus, um die These zu belegen, hinter dem Brand stecken die Kommunisten. Das Gericht soll unabhängig wirken – Wilhelm Bünger, Jurist und Mitglied der DVP, wird bestimmt, den Prozess zu führen.

Goebbels glaubt, den Prozess für die Propaganda nutzen zu können. Dem Ausland soll die Rechtsstaatlichkeit Deutschlands vorgespielt werden. Das Gericht lässt über 80 ausländische Zeitungsvertreter zu; sie erhalten moderne technische Mittel, um ihre Berichte so schnell wie möglich an ihre Redaktionen zu übermitteln. Jedes gesprochene Wort soll auch auf Schallplatte aufgenommen werden; es ist sogar vorgesehen, die Verhandlung auf die Straße vor dem Gericht zu übertragen und im Rundfunk auszustrahlen.

Am 21. September beginnt der Prozess gegen Marinus van der Lubbe, Ernst Torgler, Georgi Dimitroff und zwei weitere Bulgaren im Großen Saal des Reichsgerichts in Leipzig. Dimitroff fällt von Beginn an durch beherztes Auftreten auf.

In Leipzig setzt man alles daran, die Thesen von Münzenbergs Braunbuch, SA-Männer hätten den Reichstag angesteckt, absurd erscheinen zu lassen. Es hilft aber nichts: Man muss den Tatort in Augenschein nehmen und wichtige Zeugen vernehmen. Die Verhandlung wird in Berlin fortgesetzt. Am 10. Oktober beginnt eine Reihe von Prozesstagen im Reichstagsgebäude selbst. Dort hatte, wie die Bibliothek und die Registratur, auch der große Saal des Haushaltsausschusses den Brand unbeschadet überstanden.

Es handelt sich um den mit fast 400 Quadratmetern zweitgrößten Raum des Hauses im ersten Obergeschoss über dem Kaiserportal auf der Ostseite, aus den drei großen Fenstern blickt man auf das Reichstagspräsidentenpalais. Der Raum ist mit Kiefernholz getäfelt. An der Stirnwand hängen drei große Gemälde des Münchner Sezessionisten Angelo Jank, unter anderem „Kaiser Wilhelm I. reitet nach der Schlacht von Sedan über das Schlachtfeld“. Für den Prozess wird davor die Richterbank aufgestellt, vor dem Bild hängen große Grundrisse des Reichstags.

Heute ist der Raum nur in seinen Ausmaßen mit den drei Fenstern erhalten – verschwunden sind die Malerei und die Täfelung. An der Südwand hängt ein großes, gelbes „Kissenbild“ des Malers Gotthard Graubner. Regelmäßig tagt hier die Föderalismuskommission, verhandelt Fragen des Länderfinanzausgleichs.

Höhepunkt der Berliner Verhandlungstage damals ist der 4. November 1933. Dimitroff hat die von Gericht ernannten Verteidiger abgelehnt und vertritt sich selbst. Er dominiert den Prozess von Beginn an so sehr, dass Bünger in einem Moment der Frustration zu ihm sagt: „Im Ausland ist man schon der Meinung, dass nicht ich, sondern Sie die Verhandlung leiten!“

An diesem Tag wird Göring in den Zeugenstand gerufen. Dimitroff wendet sich direkt an den Mann, der die Hauptrolle bei der Zerschlagung der kommunistischen Opposition spielte: „Ist dem Herrn Ministerpräsidenten bekannt, dass diese Partei, die ,man vernichten muss‘, den sechsten Teil der Erde regiert, nämlich die Sowjetunion, dass diese Sowjetunion diplomatische, politische und wirtschaftliche Beziehungen mit Deutschland unterhält und dass ihre wirtschaftlichen Bestellungen Hunderttausenden von deutschen Arbeitern zugutekommen?“ Der Richter versucht, Dimitroff das Wort zu entziehen, aber der setzt seinen Vortrag fort, worauf Göring die Nerven verliert und losbrüllt: „Sie sind in meinen Augen ein Gauner, der direkt an den Galgen gehört.“

In diesem Ton geht es zwischen Dimitroff, dem Richter und Göring weiter, bis Letzterer mit den Worten schließt: „Warten Sie nur, bis wir Sie außerhalb der Rechtsmacht dieses Gerichtshofs haben werden! Sie Schuft, Sie!“ In den nächsten Tagen sind die Zeitungen voll von Beschreibungen dieser Ausbrüche ... für Dimitroff ein Punktsieg, für die Nazis eine große Niederlage. Von der ursprünglich vorgesehenen Rundfunkübertragung ist da schon lange keine Rede mehr.

Einen Tag vor Heiligabend, am 23. Dezember 1933, werden in Leipzig die Urteile verkündet: Van der Lubbe wird schuldig gesprochen und zum Tod durch Enthauptung verurteilt; Rechtsbruch wie die Bundesanwaltschaft erst vor einigen Wochen festgestellt hat. Zum Zeitpunkt der Tat war die Todesstrafe für Brandstiftung nicht vorgesehen. Van der Lubbe wird am 10. Januar 1934 hingerichtet.

Die drei Bulgaren werden ebenso wie Torgler freigesprochen und bleiben dennoch im Gefängnis, Schutzhaft wie es heißt. Für die Nazis bedeutet das Urteil eine schwere, für Göring eine persönliche Niederlage. Andere Gerichte müssen her. Am 24. April 1934 werden die sogenannten Volksgerichtshöfe eingerichtet.

In Moskau sind Dimitroff und seine Landsleute Helden. Von dort, aber auch aus Frankreich und Großbritannien wird ihre Freilassung gefordert. Erst Ende Februar 1934 ist es so weit. Die drei, inzwischen von Stalin zu sowjetischen Staatsbürgern erklärt, sollen ausreisen dürfen.

Um diese Freilassung kreisen noch heute Gerüchte, nicht eindeutig geklärt ist, ob es sich um einen Austausch handelte. Sicher ist, dass Göring einen großen Empfang vermeiden wollte. Auch das ging schief. Tausende von Russen begrüßten Dimitroff und seine Genossen in Moskau. Gefragt, ob er je wieder Deutschland besuchen würde, antwortete Dimitroff: „Vielleicht, eines schönen Tages, als bulgarischer Botschafter.“

Dimitroff war der „Held von Leipzig“. Nach ihm wurden ein Schiff sowie mehrere Städte im Ostblock benannt. Und mit ihm wurde auch in der Sowjetunion das Gebäude bekannt, in dem er Göring die Stirn geboten hatte. Gut möglich, dass der Reichstag vielen Rotarmisten bekannt war, als sie 1945 zum Sturm ansetzten, nach dem Sieg bis heute sichtbar dort ihre Namen in die Wände ritzten.

Dimitroff wurde 1935 einstimmig zum Generalsekretär der KI gewählt, ein Posten, den er bis zu deren Auflösung 1943 behielt. Er war ein getreuer Stalinist während der Schauprozesse 1937 – manche machen ihn für den Tod vieler KI-Mitglieder verantwortlich – und 1946 wurde er Ministerpräsident von Bulgarien. Nach seinem Tod 1949 wurde sein einbalsamierter Leichnam in ein eilig dafür errichtetes Mausoleum geschafft.

In der DDR hat man nach dem Krieg Straßen und Brücken nach Dimitroff benannt. Das Leipziger Reichsgericht trug ebenfalls seinen Namen, seinem Auftreten im Prozess wurde eine Dauerausstellung mit Tonbeispielen gewidmet. Aber: Der wichtigste Teil des Prozesses spielte sich im Berliner Reichstag ab.

Im Verbindungstrakt zwischen dem Reichstag und dem Jakob-Kaiser-Haus steht heute ein Segment jenes Tunnels, durch den die Nazibrandstifter gegangen sein sollen, wenn es sie denn überhaupt gegeben hat. An der Wand dahinter nimmt eine Tafel Bezug auf diese Einschleusung, die bis heute Gegenstand eines Historikerstreits ist. Noch immer stehen Anhänger der These von den Nazibrandstiftern jenen unversöhnlich gegenüber, die überzeugt sind, dass es keinen verschwörerischen Masterplan gab. Denn es spricht heute alles dafür: Marinus van der Lubbe hat tatsächlich allein den Reichstag angesteckt, den Nazis ungewollt in die Hände gespielt.

Ein Hinweis auf den Saal, in dem Dimitroff Göring eine Niederlage beibrachte, in dem sich also zweifelsfrei bedeutende Geschichte abgespielt hat, fehlt.

Der Autor hat mehrere Bücher über den Reichstag verfasst, zuletzt „Der Reichstag – Parlament, Denkmal, Symbol“ (Bebra).

Michael S. Cullen

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