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Streichquartette: Vierer-Bande in Clubs und Lounges

Altväterlich? Elitär? Heute treten Spitzen-Streichquartette in Clubs und Lounges auf – und formulieren den Anspruch der Generation 30 +

Die Luft im Watergate ist heiß und trocken. Die Klimaanlage hat offenbar längst vor der eng gedrängten Menschenmasse in dem kleinen Kreuzberger Club kapituliert. Das Strawinsky-Divertimento jedenfalls, das den üblichen Mix aus Bierflaschengeklingel und Konversationsfetzen untermalt, klingt, als sei es zu Brei passiert worden.

Das Watergate ist nicht gerade der Ort, den sich klassische Musiker für ihre Konzerte erträumen, erst recht nicht für Streichquartette: Wo kein samtiger Konzertsaalhall den Ton veredelt, wo jeder Bogenstrich erst einmal nach harter Arbeit klingt, sind Beethoven und Bartók eine echte Herausforderung. Außerdem muss man hier gegen die großartige Aussicht auf die nachtdunkle Spree anspielen, wo vom anderen Ufer die imposante Leuchtreklame des CD-Konzerns Universal herüberleuchtet und die letzten leeren Ausflugsschiffe wie emsige Insekten stromaufwärts nach Hause steuern.

Erschwerte Bedingungen also. Vor ziemlich genau 200 Jahren wurde in Deutschland das erste Streichquartett gegründet. Die Gattung hat viel erlebt. Wird sie auch weiter überleben?

Oliver Wille und seine drei Kollegen vom Kuss-Quartett wirken an besagtem Abend im Watergate hochzufrieden. Unlängst sind sie aus dem legendären Café Moskau hier an die Nahtstelle von Kreuzberg und Friedrichshain gezogen, dahin, wo Berlin derzeit am hippsten ist. Und inzwischen kommen zur „Kulturradio Klassik-Lounge“ Leute, die vermutlich nie auf den Gedanken kämen, einen Quartettabend in der Philharmonie zu besuchen. Die gemeinsam mit dem RBB betriebene Reihe sei ihr Lieblingskind, schwärmt Wille: Hier könne man Programme machen, für die einen herkömmliche Konzertveranstalter glatt für verrückt erklären würden. „Es gibt keine Hemmschwelle, und während Haydn, nun ja, goutiert wird, ist die Reaktion auf Ligeti und Lachenmann enthusiastisch.“

Prompt wurde Bartóks drittes Quartett wohl noch nie so gespielt wie an diesem Abend. Immer wieder spalten die vier Musiker sich zwischen den drei Sätzen auf: Mal spielen die beiden Geiger mitten aus dem Publikum eins von Bartóks folkloristischen Violinduos, mal teilen sich Cellist und Bratschist eine Bach-Bourée – und die Quartettformation ist mit einem Mal keine monolithische Selbstverständlichkeit mehr, sondern ein Zusammentreffen von vier Charakteren und Energien auf gleicher Ebene.

Das dialogische Potenzial war schon Goethe als das Entscheidende an der Kunstform Streichquartett aufgefallen. Sein oft zitierter Satz, er „höre hier vier vernünftige Leute sich miteinander unterhalten“, muss allerdings mehr als Forderung verstanden werden, die Grenzen klassischer Sittsamkeit nicht zu überschreiten. Denn in Wirklichkeit hatte der Viererdiskurs schon zur Goethe-Zeit die Grenzen artiger Konversation gesprengt. Das Quartett war zum Experimentierlabor der Musik geworden und damit zum Vorposten eines Kunstbegriffs, der von jedem entstehenden Werk nicht die Bestätigung der geltenden Regeln erwartete, sondern tatsächlich etwas Neues.

Waren es zuvor die musikliebenden Fürsten gewesen, die die junge Gattung protegiert hatten, wurde das hierarchiefreie Streichquartett nun zur Sache des deutschen Bürgertums – und damit zum Ausweichspielfeld für den Geist, dem die politische Betätigung im Deutschland des 19. Jahrhunderts weithin versagt blieb. Während in Frankreich seit jeher mehr das Wort zählte und in Italien die Entwicklung eines Nationalgefühls eng an die Oper geknüpft war, wurde das Streichquartett zur deutschen Kunstform. Einzig in Osteuropa erlebte es eine ähnliche Blüte, vor allem in Tschechien, wo sowohl das Musikverständnis als auch die politischen Verhältnisse vergleichbar waren.

Spätestens mit Beethovens 1808 veröffentlichten „Rasumowsky“-Quartetten war allerdings auch der Punkt erreicht, an dem die intime, vorrangig von ambitionierten Amateuren betriebene Kunst des Quartettspiels zu einer öffentlichen Angelegenheit wurde. Die Quartette Beethovens waren musikalisch und technisch eindeutig ein Fall für Profis, die nunmehr für ein – zahlendes – Publikum spielten.

Es ist deshalb kein Zufall, dass in Leipzig, wo Bürgersinn und Musikbegeisterung stets besonders eng verbunden waren, schon im selben Jahr mit dem Gewandhaus-Quartett eines der ersten Streichquartette auf deutschem Boden entstand. Bis heute erneuert sich das Quartett immer wieder aus dem Führungspersonal des Gewandhaus-Orchesters, die Väter des ersten Geigers und des Cellisten spielten schon hier – als wäre das Quartettspiel ein städtisches Ehrenamt, das sich von Generation zu Generation vererben ließe. Wie ein trotziges Manifest der Überlebensfähigkeit bürgerlicher Kultur wirkt die Geschichte der Formation, die Claudius Böhm gerade in einem fundierten Buch dokumentiert hat (Das Gewandhaus-Quartett, Kamprad 2008). Eine Tradition, an der Künstler wie Felix Mendelssohn, Robert Schumann und Johannes Brahms mitgebaut haben und die ihre Wertbeständigkeit auch durch das „Dritte Reich“ und den Arbeiter-und-Bauern-Staat der DDR hindurch bewahrt hat.

Einerseits liegt das sicher daran, dass seine Intimität das Streichquartett für repräsentative Zwecke herzlich unbrauchbar macht. Die beeindruckende Auflistung der Leipziger Konzertprogramme von 1840 zeugt von einem strengen, ja puritanischen Kunstbewusstsein, das sich in den anderen Musikgattungen erst langsam durchsetzen sollte: Während die sinfonischen Programme im 19. Jahrhundert meist noch buntscheckig waren und in der Oper ohnehin erst langsam von einem autonomen Werkbegriff die Rede sein konnte, boten die Quartettabende in der Regel drei vollständige Stücke. Hier stand das „Nackende der Tonkunst“, wie es Carl Maria von Weber formulierte, im Mittelpunkt. Die Hörer des Quartettabends vom 14. Februar 1853 etwa wurden nach einem Haydn-Quartett einem Opus des Neutöners Robert Schumann und einem späten Beethoven-Quartett ausgesetzt, und noch am 28. Januar 1888 standen neben dem obligatorischen Haydn-Werk selbstverständlich neue Stücke von Johannes Brahms und Ferruccio Busoni auf dem Programm.

Natürlich blieb das Quartett unter diesen Voraussetzungen die Musik für Kenner und Liebhaber. Angesichts des relativ begrenzten Publikums reichte es aus, wenn die Stimmführer der jeweiligen städtischen Orchester diese Aufgabe quasi im Nebenberuf absolvierten oder berühmte Geiger wie Joseph Joachim und der Belgier Eugene Ysaye Gelegenheitsformationen bildeten. Die große Stunde der Gattung schlug erst, als das Vertrauen in die anderen Darreichungsformen klassischer Musik erschöpft war. Nachdem der Musikmissbrauch durch die Nazis selbst auf einem Werk wie Beethovens „Neunter“ einen Makel hinterlassen hatte – von Identifikationsobjekten wie Wagners „Ring“ gar nicht zu reden –, blieb das Streichquartett der letzte Fluchtpunkt für ein anderes, besseres Deutschland, mit dem selbst die Emigranten noch leben konnten.

In den ersten drei Nachkriegsjahren gründeten sich folgerichtig jene drei Formationen, die das Quartettspiel in die Zukunft führen sollten. Es ist bezeichnend, dass dabei vor allem Musiker eine Rolle spielten, die von ihren Wurzeln abgeschnitten worden waren: So lag die Keimzelle des Amadeus-Quartetts in einem britischen Internierungslager für „befreundete feindliche Ausländer“, wo der erste Geiger Norbert Brainin und der Bratschist Peter Schidlof aufeinandertrafen. Und auch das 1946 gegründete LaSalle- Quartett versammelte mit dem Primarius Walter Levin, einem gebürtigen Berliner, dem zweiten Geiger Henry Meyer und dem Bratschisten Peter Kamnitzer Interpreten, die aus Deutschland vertrieben worden waren oder knapp das Konzentrationslager überlebt hatten.

Diese Ensembles verschrieben sich dem professionellen Quartettspiel ganz allein. Ihr Ziel: sich ästhetisch auf den unzerstörbaren humanistischen Kern der deutschen Musikkultur zu konzentrieren. Genau diese Tradition suchte auch Sonia Simmenauer, als sie zu Beginn der achtziger Jahren nach Hamburg kam, wo die Familie ihres Vaters bis zur Emigration gelebt hatte. Simmenauer gründete 1989 Deutschlands einzige Agentur, die sich exklusiv um Streichquartette kümmerte. In ihrem vor kurzem veröffentlichten Buch „Muss es sein? Leben im Quartett“ (Berenberg Verlag) beschreibt sie, wie für sie die Begriffe „deutsch“ und „Quartettspiel“ seit jeher zusammengehörten. Ihr Vater, der sich als Kinderarzt in Paris niedergelassen hatte, habe mit den Musikern Deutsch gesprochen, mit denen er in seiner Freizeit Quartett spielte. Die deutsche Sprache und das Streichquartett seien für sie die Brücke zur Welt ihrer väterlichen Familie gewesen und damit zu ihren eigenen Wurzeln im deutschen Judentum.

Auch Sonia Simmenauer ist allerdings schon mit dem neuen Leitbild groß geworden, das die Quartette Amadeus und LaSalle sowie das ebenfalls 1946 von vier jungen US-Amerikanern gegründete Juilliard-Quartett prägten: Statt deutschen Raunens und wienerischer Gemütlichkeit herrschten dynamischer Zugriff und analytische Klarheit sowie ein bis dahin unerhört hohes technisches Niveau. Mit weitreichenden Folgen: Das Quartett inszenierte sich als dynamischer Think- Tank und wurde aus einer deutschen Affäre zu einer internationalen Angelegenheit – mit ungeahnter Breiten- und Flächenwirkung: Die Langspielplatte sorgte dafür, dass die Kammermusik ins Wohnzimmer kam, außerdem mussten die Musiker permanent reisen und gastieren, da sie ja vom Quartettspiel lebten.

Und mit einer weiteren Tradition räumten die Neuen auf: Waren die bisherigen Formationen oft vom ersten Geiger dominiert und nach diesem benannt, signalisierten Namen wie Amadeus oder Juilliard zumindest den Anspruch eines gleichberechtigten Musizierens. Ein Anspruch, wie ihn Belá Bartók bereits drei Dekaden zuvor mit seinem 1918 veröffentlichten zweiten Streichquartett formuliert hatte. Das Streichquartett als Klang gewordene Demokratie – welche Musik hätte besser in die amerikanisch-westeuropäische Hemisphäre der fünfziger und sechziger Jahre gepasst?

In den USA konzentrierte sich der Quartettboom auf Metropolen und Universitäten. In Frankreich wurde die neu formulierte demokratisch-musikalische Leitkultur nur am Rande zur Kenntnis genommen. In Deutschland aber fiel das Ganze auf fruchtbaren Boden. Kammermusikvereinigungen von Itzehoe bis Sonthofen sogen das Angebot geradezu begierig auf, ihre Tradition einerseits fortsetzen zu können, sie andererseits aber auch mit dem Flair von Internationalität und neuer Vielfalt umgeben zu können. Gerade in kleineren Städten waren die oft hochrangig bestückten Quartettabende in den sechziger und siebziger Jahren zentrale Orte bürgerlicher Selbstvergewisserung, meist getragen vom Engagement einer kleinen, aber regen intellektuellen Schicht.

Gerade diese enge soziale Bindung war es freilich auch, die der ruhmreichen Quartettkultur in Deutschland fast zum Verhängnis wurde: Weil die nachrückende 68er-Generation nicht mehr bürgerlich sein wollte und deshalb auch keine bürgerliche Musik mehr hörte, ging es Ende der achtziger Jahre bergab. Ein Konzertzyklus nach dem anderen siechte vor sich hin und verschwand.

Bis vor fünf Jahren, erklärt Sonia Simmenauer, habe es tatsächlich düster ausgesehen, doch seither wende sich das Blatt wieder. Die Generation, die zu Beginn des 21. Jahrhunderts langsam das Konzertsaalalter erreicht hatte, brauchte sich nicht mehr gegen bürgerliche Konventionen abzugrenzen. „Streichquartettabende haben ein ähnliches Revival erlebt wie Abi-Bälle und lange Kleider“, sagt Simmenauer süffisant – und dass die Konzertagentin im vergangenen Jahr nebenbei noch Hamburgs erstes jüdisches Caféhaus aufgemacht hat, passt sicher gut zu diesem Lebensgefühl.

Längst hat auch die Betriebseinheit Streichquartett auf diese neue Nachfrage reagiert und die klassische Viererkonstellation so umdefiniert, dass sie erstaunlich gut zum Selbstverständnis der Generation 30 + passt. Das Streichquartett der Gegenwart ist jung und in seiner Zusammensetzung oft durch die unterschiedlichsten Migrationshintergründe geprägt. Es steht für den Versuch, ohne ideologische oder nationale Vorprägungen einen Zugang zu den humanistischen Werten der Musik zu finden. Wie schon nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich das Quartettspiel auch diesmal also neu erfunden, ohne an seiner Substanz irgendetwas verändern zu müssen.

Viele der 16 Quartette in Simmenauers Kartei erfüllen inzwischen dieses role model, das vor rund fünf Jahren hauptsächlich vom Berliner Artemis- Quartett mit geprägt wurde: Auf Plakaten und CD-Covern präsentierten sich die vier in der Kulisse der Berliner U-Bahn oder auf Mitte-Dachterrassen als eine Art dynamische Großstadt-WG. Diese Musiker sind keine Hohepriester der Kammerkunst, sondern eher ein mobiler Spezialistentrupp, der gemeinsam mit den Hörern nach Antworten auf die Grundfragen des Lebens sucht. Der hierarchiefreie Diskurs, ein Markenzeichen des Quartettspiels von Anfang an, hat sich gewissermaßen um den Zuhörer erweitert. Interpreten wie die des Artemis-Quartetts seien heute viel stärker bereit, sich ihrem Publikum zuzuwenden, bekräftigt Simmenauer. „Es ist jetzt eine Bereitschaft da, etwas über die Musik zu erzählen. Die Musiker haben gemerkt, dass ihr Publikum gefordert werden will, aber auch viel mehr zu akzeptieren bereit ist, wenn man es ernst nimmt.“

Im Watergate funktioniert dieser Kontakt ohne große Worte. Wo es keine Bühne mehr gibt, kein Podium, das sagt, wir hier oben, Ihr da unten, scheint sich die Konzentration der vier Kuss-Musiker ganz direkt auf die Clubbesucher zu übertragen. Und Bartóks Musik hat plötzlich ein Echo, das physisch spürbar ist: Es besteht aus Neugierde, Offenheit und ehrfürchtigem Respekt. Und fast wirkt es, als sei das Streichquartett erst heute, jetzt, in diesem Augenblick ganz bei sich selbst angelangt.

Jörg Königsdorf

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