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Hebbel am Ufer

© Doris Spiekermann-Klaas

Theaterhaus: Luftschloss aus Stein

Am 29. Januar wird das Hebbel-Theater in Berlin-Kreuzberg 100 Jahre alt. Das schönste Haus der Republik liebt das Überleben. Ein Schnelldurchlauf.

Das Haus ist voll. Das heißt, im „Hebbel am Ufer“ in Kreuzberg – kurz: HAU – sind die Menschen zwischen den drei Bühnen dies- und jenseits des Landwehrkanals viel unterwegs. Mit dem Programm in der Hand stehen sie an der Ampel, in abgedunkelten Foyers oder in Treppenhäusern und versuchen sich einen Überblick über das reichhaltige Angebot zu verschaffen. Das HAU 3 zeigt eine simulierte Podiumsdiskussion, bei der Amerikaner die Umerziehung des deutschen Nachkriegscharakters diskutieren. 200 Meter Luftlinie entfernt sitzen vier libanesische Schauspieler im HAU 2 auf einem Sofa und erzählen vom Leben und Sterben im Bürgerkrieg, während draußen in der Lounge eine Vietnam-Doku über den Bildschirm flimmert. In den verschlungenen Gängen des Hebbel-Theaters schließlich kann man an einer Performance teilnehmen, bei der stumme, streng dreinblickende Damen einem die Fingernägel lackieren und einen zwingen wollen, eklige grüne Süßigkeiten zu essen.

Ohne Programmheft hätte man keine Ahnung, was der ganze Hokuspokus soll. Mit Programm weiß man zumindest, dass der Veranstaltungsmarathon „Re- Education“ heißt und vom Thema Umerziehung handelt, womit Matthias Lilienthal, der Intendant des Hauses, den anstehenden 100. Geburtstag des Hebbel- Theaters vorfeiert. Dabei bezieht er sich vage auf die Nachkriegszeit, als die Amerikaner via Bühne die Deutschen demokratisieren wollten. Ein bisschen angewandte Geschichtsstunde, ein bisschen Entdeckung fremd-bekannter Welten, ein bisschen Kindergeburtstag. Lilienthals Assoziationsraum ist immens, und die Bögen, die er schlägt, sind mitunter so kühn, dass sie sich in Luft auflösen. Er selbst streunt übrigens mit zuvorkommender Schluffigkeit zwischen den Besuchern herum und schaut dabei so gutgelaunt, als sei er selbst der neugierigste Gast in seiner Anspielungsgeisterbahn.

Wo heute die Metropolenjugend abgeklärt nach Sinn stochert (untermalt von den Schrammelklängen der New Yorker Jon Spencer’s Heavy Trash Band), da befand sich vor knapp 100 Jahren noch das Gelände des Fuhrherrn Bölike. Und nur ein junger Mann namens Eugen Robert wusste, dass hier bald ein Theater stehen würde, das mit seinem mahagonigetäfelten Jugendstilzuschauerraum und der über dem Foyer sich wölbenden Pantheonkuppel bis heute zu den schönsten Deutschlands gehört. Der Mann war Ungar, 28 Jahre alt, studierter Jurist, hatte vorwiegend als Korrespondent für Budapester Zeitungen geschrieben – und 1905 ein Drama über die englische Königin Elisabeth verfasst, das sein Leben verändern sollte.

Aus dem Journalisten wurde ein Dramatiker, der sich alsbald auch als Dramaturg bei dem Reinhardt-Schauspieler Carl Meinhard versuchte – erfolglos. „Wenn ich nicht Dramaturg in Berlin werden kann, so werde ich eben Theaterdirektor in Berlin!“, schreibt Robert in seinen Erinnerungen. Die Geburt des Hebbel-Theaters verdankt sich also einer Trotzreaktion, einem spätpubertären Jetzt-erst-recht-Größenwahn! Wunderbar. Eugen Robert indes, der für die Gründung seines Theaters immerhin 30 000 Mark zusammengekratzt hatte, ist längst vergessen, das Hebbel-Theater aber wurde unter Matthias Lilienthal 2004 zum Theater des Jahres gekürt.

Die Geschichte des Hauses ist wechselvoll. Schließungen. Konkurse. Meist steht es im Aufmerksamkeitsschatten seiner großen Konkurrenten Deutsches Theater, Schillertheater und Volksbühne. Dafür beherrscht das Hebbel eine Technik, von der andere nur träumen können. Es erfindet sich immer wieder neu: als Bühne der Stars in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Als Theater der „krachledernen Dorfgeschichten“ unter den Nazis. Als Überlebenstheater nach dem Krieg, das mit Karl-Heinz Martin 1945 den Spielbetrieb wieder aufnimmt. Als Gespenster-Theater, das in den siebziger Jahren leer steht und nur dank des Denkmalschutzes nicht abgerissen wird. Als erstes Netzwerk- Theater unter Nele Hertling in den Neunzigern. Und schließlich als politisches Diskurstheater unter Lilienthal. Im Gegensatz zu den Großen bleibt am Hebbel der Spielbetrieb meist prekär – die Kreuzberger Randlage, die ungünstige Verkehrsanbindung. Noch 1958 heißt es in der „Stimme der Arbeit aus Berlin“, dass der Besucher, vom Bahnhof Möckernbrücke kommend, „500 Meter über freies Feld“ laufen und „sich durch einen Hauseingang und über einen Mietskasernenhof schlängeln“ müsse, „bevor er auf die Hinterfront des Theaters triff“.

Doch zurück zu Eugen Robert. Die Kunsthistorikerin Carola Jüllig hat die Geschichte des Hauses rekonstruiert, und bei ihr liest sich die halsbrecherische Umsetzung von Roberts Plänen wie eine Posse aus dem Hochstaplermilieu. Den Architekten findet er, weil ihm einfällt, „dass ich in einer Ausstellung bei Wertheim ein überaus begabtes Schlafzimmer von einem ungarischen Architekten gesehen hatte“. Dieser heißt Oskar Kaufmann und erklärt sich erstens dazu bereit, das Theater zu bauen, und zweitens, sein Honorar von 25 000 Mark in den Bau zu investieren. Am selben Tag trifft Robert im Café Monopol den Schauspieler und Regisseur Adolf Edgar Licho und stellt ihn als Direktionsstellvertreter ein. Jetzt hat er einen Architekten, einen Stellvertreter und 55 000 Mark. Fehlt nur noch die restliche Million. Später wird man ihn fragen, warum er kein vorhandenes Theater gepachtet habe (Berlin verfügte damals über 51 Bühnen). „Ganz einfach“, antwortet Robert, „wenn man ein Theater pachten will, muss man eine Kaution hinterlegen ... Aber ich hatte weder Geld noch Kredit. Das Einzige, was ich auf Kredit bekommen habe, sind diese Steine.“

Bis über beide Ohren verschuldet, eröffnet Eugen Robert sein Haus schließlich am 29. Januar 1908 mit einer Inszenierung von Hebbels „Maria Magdalena“. Die Kritik moniert ungelenke Schauspielerführung, ist insgesamt aber wohlwollend. Trotzdem reicht es nicht. Die Besucherströme lassen sich nicht dauerhaft in die Königgrätzer Straße locken, wie die Stresemannstraße damals heißt. Nur zwei Jahre nach seiner Eröffnung meldet das Theater Konkurs an. „Für dieses Theater war von Anfang an kein Bedürfnis vorhanden“, kommentiert das Magazin „Schaubühne“.

Da irrte das Organ allerdings. Als Erstes feiert Oskar Kaufmann seinen Durchbruch. Er wird zu einem bekannten Theaterarchitekten und entwirft in Berlin unter anderem die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz (1914), das Theater am Kurfürstendamm (1921) und das Renaissance-Theater (1926). Das Hebbel-Theater, das seit 1911 „Theater in der Königgrätzer Straße“ heißt, erlebt derweil seine erste Hochzeit. Derselbe Carl Meinhard, der Robert einst hatte auflaufen lassen, übernimmt das Haus zusammen mit dem Schauspieler und Regisseur Rudolf Bernauer. Das neue Haus soll anspruchsvoll sein und Ibsen, Shakespeare und Wedekind geben, was die beiden billiger kommt als ihren Vorgänger, weil sie dabei auf das Ensemble des „Berliner Theaters“ zurückgreifen können, das sie bereits leiten.

Bernauer will aber nicht nur finanziellen Erfolg, sondern auch seinen ewigen Konkurrenten Max Reinhardt ausstechen. Den Höhepunkt seiner Arbeit bildet die deutsche Erstaufführung von Strindbergs „Kronbraut“ im November 1913, über die der Kritiker Paul Schlenther schreibt: „Man darf hingehen wie zu einer Andacht.“ Bernauer hat sich damit neben Reinhardt etablier. Die mystischen Stücke Strindbergs werden in den folgenden Kriegsjahren das tägliche geistige Brot der Berliner Theatergänger.

1925 übernimmt Victor Barnowsky, ein Routinier des literarischen Regietheaters, das Haus, und treibt das Starwesen auf die Spitze: Hans Albers, Fritz Kortner, Paul Hörbiger, Werner Krauss, Ernst Deutsch, Curt Bois und Erwin Piscator gehen hier ein und aus. Es ist zweifellos die glanzvollste Zeit des Hauses. Beim Gedanken daran wird Matthias Lilienthal heute noch „ganz anders“. Starkult ist Lilienthals Sache nicht. Deswegen hat er sich mit seinen Gedenkveranstaltungen ganz auf die Wiedereröffnung nach dem Zweiten Weltkrieg konzentriert.

Im Mai 1945, als Berlin in Trümmern liegt, ist Karl-Heinz Martin, der die „Tribüne“ zur führenden Bühne für Expressionismus gemacht hatte, ein kraftvoller Demokratiekatalysator. In seinen ersten Inszenierungen zeigt er Brecht, Zuckmayer und andere ehedem verbotene Autoren. Bei den Nazis hatte das zum „Theater an der Saarlandstraße“ umbenannte Haus dem Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda unterstanden und folgte – wie alle Bühnen – einem streng reglementierten Spielplan: seichte Unterhaltung statt „feindlicher Autoren“ – bis Goebbels alle Theater zum 1. September 1944 schließen lässt.

Jetzt ist das Hebbel-Theater, das alsbald wieder „Theater an der Stresemannstraße“ heißt, das einzige bespielbare Haus im amerikanischen Sektor. Das Dach ist kaputt, die Heizung geht nicht, aber die kulturell ausgehungerten Menschen kommen in Strömen. Die erste Kontroverse entzündet sich an dem Brecht-Refrain „Erst kommt das Fressen und dann die Moral.“ Hans Jendretzky schreibt in der Deutschen Volkszeitung: „Diese Dreigroschenoper, heute vor Menschen gespielt, die sich inmitten der Trümmerstätten unverdrossen an den Wiederaufbau begeben und mit abertausend Schwierigkeiten aus einer Zeit des zwölfjährigen geistigen Tiefstandes fertig werden – denen kann und darf von den Brettern herunter nicht zugeschrien werden: Erst kommt das Fressen und dann die Moral.“ Die Inszenierung ist ein Publikumserfolg, wie auch Stücke von Zuckmayer und Günther Weisenborn. Das Umerziehungsprogramm der Amerikaner zieht weniger, auch wenn es Thornton Wilders „Wir sind noch einmal davongekommen“ beinhaltet.

Dass sich das Klima zwischen Ost und West in Berlin schnell ändert, zeigt sich im Januar 1948, als Jürgen Fehling am Hebbel Sartres „Fliegen“ mit Ioana Maria Gorvin und Kurt Meisel inszeniert – nur wenige Wochen, nachdem Gründgens das Stück in Düsseldorf gezeigt hatte. Die Aufführung ist ein gesellschaftliches Ereignis, auf dem Schwarzmarkt kosten die Karten bis zu 700 Mark. Der Existenzialismus füllt die Zeitungsseiten. Die Inszenierung selbst wird so frenetisch bejubelt, dass die Schauspieler über 50 Mal vor den Vorhang müssen. Und sie löst eine scharf geführte Kritikerdebatte aus. Gründgens hatte das Stück in kühler Verhaltenheit inszeniert, Fehling setzt auf Emotion. „Alles steht unter Hochdruck, alles wird hinaufgepresst, jeder Satz als schwere Barlach-Plastik herausmodelliert“, stellt Paul Rilla in der „Berliner Zeitung“ angewidert fest. Walter Karsch hält im Tagesspiegel scharf dagegen: „Eines allerdings verdient besondere Beachtung: die wütenden, sich bis zur Verunglimpfung als Faschismus steigernden Angriffe der Marxisten gegen Sartres Philosophie. Sie beweisen, dass der Marxismus seine Existenz von jeder Philosophie bedroht fühlt, die ... die Freiheit des Individuums in den Mittelpunkt ... ihrer Denkergebnisse stellt.“

Kurze Zeit später ist es mit der Kunst am Hebbel-Theater fürs Erste vorbei. Als 1951 das Schillertheater wiedereröffnet und subventioniert wird, verliert das Haus in Kreuzberg schlagartig an Bedeutung – und mit dem Bau der Mauer 1961 von einem Tag auf den anderen 80 Prozent seiner Zuschauer. Nele Hertling küsst das Haus 1988 nach einem jahrzehntelangen Dämmerschlaf wieder wach – nach einem Boulevard-Intermezzo in den Sechzigern steht es lange leer. Als bräuchte das Haus die Umbruchszeit, um richtig auf Touren zu kommen. Die Intendantin erfindet mit spektakulärem Erfolg eine neue Spiel- und Produktionsform: das Netzwerktheater. Ohne festes Ensemble, dafür aber mit Koproduzenten in vielen Ländern, holt sie Produktionen vor allem aus den Sparten Tanz und zeitgenössische Musik ins Haus und schickt im Gegenzug selbst entwickelte Arbeiten um die halbe Welt. Alles, was unter „Avantgarde“ läuft, ist früher oder später an der Stresemannstraße zu besichtigen: The Wooster Group, Jan Fabre, Jo Fabian, Jan Lauwers, Steve Reich, Laury Anderson, Heiner Goebbels, Mauricio Kagel, Alain Platel und, natürlich, Robert Wilson. In eindrücklicher Erinnerung sind auch die Kleist-Abende von Edith Clever und Hans-Jürgen Syberberg. Mit Globalisierung hatte Hertlings Internationalismus freilich nichts zu tun. Er ruht noch fest im kuscheligen West- Berliner Inselmilieu.

Das ändert sich schlagartig, als Matthias Lilienthal das Ruder 2003 übernimmt. Seitdem rast die Zeit. Was nicht nur daran liegt, dass das HAU jetzt mit dem Hebbel-Theater, dem ehemaligen Theater am Halleschen Ufer und dem Theater am Ufer gleich drei Bühnen umfasst. Lilienthal hat das Haus auch im Zeitraffer ins neue Jahrtausend geführt und Kreuzberg mal eben auf den Reflexionsstand von Berlin-Mitte gebracht. Mehr als Kunst interessiert ihn der Diskurs. Mehr als Ereignisse sieht er im Theater Knotenpunkte, Pannels, an denen man über das Naheliegende (Migrationsprobleme im Kiez), das Allumfassende (Medien) und die Fragen der eigenen Position (Linkssein heute?) nachdenkt.

Das Dokumentartheater der Gruppe Rimini Protokoll trifft auf Inszenierungen asiatischer Regisseure; hier probt eine amerikanische Heavy-Band; im Nachbarraum gibt es Kurse für Ausländerkinder; beglückt kommt man aus den historischen Recherchen, die Hans Werner Kroesinger regelmäßig veranstaltet. Das Disparate, die Überforderung, das Zuviel ist dabei Programm. Lilienthal ist kein Moderator, sondern – trotz seiner äußeren Gelassenheit – ein gewiefter Erregungs- und Verwirrungshersteller. Ob das alles ernst gemeint ist, weiß man nie so genau. Die Undurchsichtigkeit hat er von Castorfs Volksbühne mitgebracht, wo er viele Jahre das Programm mitgestaltete. Und mit Castorf teilt er den Glauben, dass immer derjenige das beste Theater macht, der es am meisten hasst. Zur Eröffnung des Hauses ließ er einen Boxring in den Zuschauerraum bauen.

Kurz gesagt: Bei Lilienthal geht die Hebbel-Geschichte schneller. Am Abend lässt er das Theater wie einen Schnellkochtopf explodieren. Am nächsten Morgen schließt er es mit dem Lächeln eines Guerillakämpfers wieder auf.

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