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Geschichte: Ungeklärte Schuldfrage

Walter Linse, Jurist und ein halbes Jahrhundert als aufrechter Demokrat geehrt. Nun kommen Zweifel an der Aufrichtigkeit auf

Charmant war er, ein gebildeter Mann.“ Die alte Dame muss überlegen. „Und mit sächsischem Akzent hat er gesprochen.“ Das ist das Bild von Walter Linse, das 56 Jahre nach seiner Entführung im Kopf seiner Nachbarin Brigitte Winter geblieben ist. 22 Jahre alt war sie, als der Rechtsanwalt von der Stasi aus West-Berlin entführt, nach Hohenschönhausen verschleppt und später in Moskau hingerichtet wurde – wegen Spionage und antisowjetischer Propaganda. Als Andenken an Linse hat Winter noch eine zerfledderte Tagesspiegel-Titelseite vom 9. Juli 1952. „Entführungen müssen ein Ende haben“, steht da in großen Lettern.

Die Gerichtsstraße in Lichterfelde, in der Linse wohnte, wurde 1961 in Walter- Linse-Straße umbenannt. „W. Linse. Jurist. 1903–1952. Zwangsverschleppt.“ steht über dem Straßenschild. Sonst erinnert nichts an ihn. Nicht einmal eine Plakette an seinem Haus.

Viel zu wenig, befand im Sommer 2007 der Förderverein der Gedenkstätte Hohenschönhausen und schrieb den „Walter-Linse-Preis“ aus. Wer wäre besser als Namensgeber für einen Preis geeignet, den man für Menschen ausgeschrieben hatte, die sich „in herausragender Weise mit der kommunistischen Diktatur auseinandergesetzt haben“?

55 Jahre lang galt Walter Linse als Opfer: 1949 war er aus der Sowjetzone geflohen, seit 1. Januar 1951 hatte er beim Untersuchungsausschuss Freiheitlicher Juristen (UFJ) für die Rechte der Unterdrückten gekämpft. Und war dafür von den Kommunisten ermordet worden. Besonders zu den Jahrestagen der Entführung erinnerten Medien und Politik an seinen Fall – als Beispiel für die menschenverachtende Praxis der DDR. Wie der 1903 in Chemnitz geborene Linse die ersten 47 Jahre seines Lebens verbracht hatte, interessierte offenbar niemand. Bis zum Frühjahr 2007: Da veröffentlichte – weitgehend unbeachtet – der Politologe Benno Kirsch eine Biografie, in der er zum ersten Mal einen Walter Linse beschrieb, der nicht nur nicht immer auf der aufrechten Seite gestanden hatte. Linse war NSDAP- Mitglied. Und er hat ab 1938 bei der Industrie- und Handelskammer (IHK) Chemnitz jüdische Unternehmen arisiert.

Öffentlich wurde das, als der Berliner Landesbeauftragte für die Stasiunterlagen, Martin Gutzeit, in einem Brief an den Förderverein auf diese Seite Linses hinwies. Seiner Forderung, die Namensgebung zurückzunehmen, schlossen sich die Linkspartei und die Historische Kommission der SPD an. Der Förderverein wies die Vorwürfe zurück, lavierte lange herum, Anfang Dezember fiel dann die Entscheidung: Der Preis wird nicht den Namen Walter Linses tragen.

Die Gedenkstätte Hohenschönhausen ist bekannt dafür, dass sie gegen ein Verblassen des DDR-Unrechts gegenüber den Naziverbrechen kämpft. Deshalb der Preis, deshalb die Suche nach einer moralisch integren Lichtgestalt als Namensgeber. Aber die Bundesrepublik bezieht ihre historische Identität zu ihrem größten Teil aus der Beschäftigung mit den Verbrechen der Nationalsozialisten, und die Grundregel lautet: „Wer in der NS-Diktatur Schuld auf sich geladen hat, kann nicht Namensgeber für einen Preis sein, der die Aufarbeitung der kommunistischen Diktatur würdigen soll.“ So lautet eine Stellungnahme des Fördervereins Hohenschönhausen. Eindeutig, eigentlich. Nur eben die Beurteilung, ob Linse Schuld auf sich geladen hat, die ist es nicht. Zwei Tage nach seiner Entführung durch die Stasi war sie es noch. Da war Linse ein Märtyrer im Kampf gegen den Kommunismus. 25 000 Menschen gingen auf die Straße und forderten zusammen mit dem Regierenden Bürgermeister Ernst Reuter seine Freilassung.

Heute gehen die Meinungen der Historiker auseinander. Der Vereinsvorsitzende Kürschner gab zu bedenken, Linse sei „wie viele andere reines Parteimitglied“ gewesen. Außerdem sei er lediglich „als Sachbearbeiter in einem Referat tätig“ gewesen, in dieser Funktion habe er sogar jüdischen Bürgern geholfen. Alles frei erfunden, konterte das Gutzeit-Lager. Was Linse vor 1945 tat, ist in den IHK- Akten des Chemnitzer Staatsarchivs nachzulesen. Ein Beispiel: die Arisierung der „Tricotagenfabrik Leyser“. Am 29. März 1939 erreicht Fabrikdirektor Martin Leyser ein Brief von der IHK Chemnitz. „Wir ersuchen Sie, bei unserem Sachbearbeiter Dr. Linse alsbald einmal vorzusprechen“, steht darin. Leyser schwant Böses: Der Verkaufsvertrag seiner Firma wartet schon Monate auf die Genehmigung des Regierungspräsidiums. Was will Linse von ihm? Leyser spricht am nächsten Tag in Linses Büro in der Bahnhofsstraße vor.

Dr. Walter Linse, 35 Jahre alt und Leiter des Referats IIIe in der IHK Chemnitz, ist ihm bekannt: Seit Herbst 1938 ist er für jeden Juden im Regierungsbezirk Chemnitz, der sein Gewerbe verkauft, die erste Anlaufstelle. Grundlage für seine Tätigkeit sind Verordnungen des Jahres 1938, die die Zwangsveräußerung oder Zwangsliquidierung von jüdischen Gewerbebetrieben regeln. Die Nazis entziehen den Juden die wirtschaftliche Grundlage.

Leysers Fabrik ist ein typisches Beispiel für die vielen kleinen und mittleren Textilunternehmen in Chemnitz. In seinem Verkaufsexposé heißt es: „Der Grund des Verkaufes ist, weil der Inhaber nichtarisch ist.“ Andere Gründe gibt es nicht. Über Linse findet sich schnell ein arischer Käufer. Am 29. November genehmigt Linse den Vertrag. In dem von ihm beauftragten Gutachten ist die Rede von einem Kaufpreis ohne Grundstück „zwischen 7500 und 8000 Mark.“ Der Preis ist niedrig. Denn selbst nach Abzug des Grundstückswertes beträgt der eigentliche Wert nach Leysers eigener Schätzung 17 750 Mark. Linse notiert einen „angemessenen Kaufpreis.“

Warum lädt Linse ihn nun erneut vor? Wegen eines Sachverhalts, der mit dem Verkauf der Firma eigentlich nichts zu tun hat: „Der Jude Leyser hat offenbar in seinem Besitz noch einen Schuldtitel über RM 750,00 gegen einen Helmut Zimmermann.“ Das weiß Linse vom Kreiswirtschaftsberater der NSDAP. Es geht offenbar um Mietschulden eines Ariers beim „Juden Leyser“. Linse soll „Maßnahmen“ treffen, „um den Z. davor zu bewahren, die RM 750,00 an den Juden zu bezahlen.“ Linse trifft diese Maßnahmen.

Aus Linses Aktennotiz ist nicht erkennbar, wie er ihn überzeugt, aber am Ende erklärt Leyser, er besitze zwar einen „rechtskräftigen Schuldtitel“, habe die Forderung aber abgeschrieben und werde nicht mehr gegen Z. vorgehen. In derselben Aktennotiz bringt Linse zum Ausdruck, „daß es grundsätzlich unmöglich ist, Juden, die Ariern gegenüber ausgeklagte oder unstreitige Forderungen besitzen, zu bewegen, auf diese Ansprüche zu verzichten.“ Am 11.4.1939 genehmigt der Regierungspräsident den Verkauf, am 15. Juni trägt Linse die „Fa. Martin Leyser & Co.“ in die IHK-Judenkartei ein. Leyser emigriert nach Großbritannien, dort verliert sich seine Spur. Und Walter Linse? „Einfaches Parteimitglied“, was er zu diesem Zeitpunkt noch nicht war, „Sachbearbeiter“ oder doch Täter?

13 Jahre später, Berlin. Der Tag, der Linse zum berühmtesten Opfer der Stasi macht. Es ist ein Mittwoch im Juli 1952, kurz nach sieben Uhr. Der 48-jährige Linse tritt aus seinem Haus in der Gerichtsstraße. Er ist auf dem Weg zum UFJ, hier sammelt er Rechtsverstöße aus der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ). Ein Mann spricht ihn an: „Haben Sie Feuer?“ Linse öffnet seine Aktentasche, sucht. Dann treffen ihn Faustschläge. Ein zweiter Mann packt Linse, zerrt ihn in den bereitstehenden Opel. Passanten schreien um Hilfe, ein Lieferwagen versucht, das Entführerauto zu rammen – vergeblich. Der Wagen braust über die nahe Sektorengrenze. Die Falle ist zugeschnappt, Linse ist in der Hand der Stasi. Der Vorwurf: Spionage.

Der UFJ ist neben der „Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit“ das große Feindobjekt für die Stasi. Die meisten Mitarbeiter waren in der SBZ als Juristen tätig gewesen, gerieten dann aber in Widerspruch zum System und flohen in den Westen. Die UFJ-Gelder kamen zum Teil von US-Geheimdiensten, die sich für die Dossiers des UFJ interessierten.

Linse sammelt Daten über den Zustand der Wirtschaft in der SBZ. Er tritt öffentlich auf, kurz vor der Entführung stellt er in Berlin eine Studie über die „Rüstungsindustrie des Sowjetischen Sektors“ vor. Aber er dokumentiert auch Enteignungen und berät die Betroffenen juristisch.

Warum die Stasi gerade Linse entführt, lässt sich bis heute nicht eindeutig beantworten. Die Thesen reichen von der Entführung Linses als Ersatz für den UFJ-Vorsitzenden bis zu dem Plan, Linse für einen großen Schauprozess zu benutzen. Nur eins ist klar: Die Entführung hat nichts mit Linses IHK-Tätigkeit im „Dritten Reich“ zu tun. Denn in den Akten des Spionageprozesses taucht davon nichts auf.

Monatelang wird Linse in Hohenschönhausen verhört: Er soll Namen von UFJ- Agenten nennen. Doch die Verhöre sind wenig ergiebig. Ende 1952 verlegt man ihn ins Gefängnis der sowjetischen Staatssicherheit nach Berlin-Karlshorst. Wieder wird er verhört, dann legt der Militärstaatsanwalt die Anklage vor: Spionage und antisowjetische Propaganda. Überzeugt von der Ausweglosigkeit seiner Lage, gesteht Linse, gleichzeitig bittet er um gnädige Richter – vergeblich. Er wird zum Tode verurteilt, mit dem Zug nach Moskau geschafft und am 15. Dezember 1953 im Butyrka-Gefängnis hingerichtet.

54 Jahre später: Der Förderverein Hohenschönhausen will dem „aufrechten Demokraten“ Linse ein „bleibendes Denkmal“ setzen. Die Verantwortlichen haben Kirschs Linse-Biografie offenbar nur selektiv gelesen: Denn der fordert zwar, „anzuerkennen, dass er sich dem Regime zu entziehen versucht hat, so gut es ging“, kommt aber auch zu dem Schluss, durch den Eintritt in die IHK sei Linse „zum Mittäter bei der Verfolgung der Chemnitzer Juden“ geworden. Dort steht auch, dass seine Abteilung mit Entjudungsverfahren befasst war.

Klaus Bästlein, Historiker und langjähriger Mitarbeiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, hat sich mit den Akten zum Fall Linse beschäftigt und kommt zu einem deutlicheren Urteil: „Linse war ein NS-Täter.“ Er sei derjenige gewesen, „der eine jahrzehnte- oder jahrhundertelange Tradition der Textilproduktion und des Textilhandels in Sachsen beseitigt hat.“

Im Frühjahr 1938 enthält eine IHK-Liste für die Stadt Chemnitz noch 158 „jüdische oder als jüdisch anzusehende Gewerbebetriebe“. Linses Arbeitsalltag besteht bis 1941 in der Liquidierung oder der Arisierung dieser Unternehmen. Wie überall im Reich sind die Preise, die die Juden für ihre Betriebe bekommen, zu niedrig. Denn die Juden handeln nicht aus freien Stücken: In der „Reichspogromnacht“ brennt auch in Chemnitz die Synagoge, 189 Juden kommen nach Buchenwald.

Doch was ist von Linses Bemühen zu halten, Juden zu retten und sich dem NS-Regime zu entziehen, mit dem Kirsch und der Förderverein ihn verteidigen? Bästlein hat dafür keine Belege gefunden. So soll Linse einem jüdischen Unternehmer durch seine schützende Hand das Leben gerettet haben. Doch dieser war mit einer Arierin verheiratet, die bis zu seinem Tod 1944 zu ihm hielt. Wolf Gruner, Experte für die Geschichte der Judenverfolgung, bestätigt, dass „eine bestehende Mischehe im Dritten Reich bis Februar 1945 Schutz vor Deportation bot.“ Linse soll auch Mitglied in der Widerstandsorganisation „Ciphero“ gewesen sein. Doch auch das ist fraglich: Laut Bästlein hat „Ciphero“ in der Widerstandsforschung keine Spuren hinterlassen. Viel weise darauf hin, dass sie eine der Organisationen sei, deren Existenz nach Kriegsende allenthalben behauptet worden sei, um sich und anderen bei der Entnazifizierung hilfreich zu sein.

Eine genauere Untersuchung erfordert dagegen der „Fall Ascher“, den der Journalist Benedict Maria Mülder zur Verteidigung Linses anführt: Er beruft sich auf einen Brief aus den USA, der im November 1952 Bundeskanzler Adenauer erreicht. Der Briefautor, ehemaliger Chemnitzer, behauptet, mit Linses Unterstützung sei es gelungen, „meinen Freund Ascher aus dem KZ-Lager herauszuholen.“ Alfred Ascher war als Jude ins KZ verschleppt worden. Durch Linse, so der Brief, sei Aschers Leben gerettet und seine Ausreise aus Deutschland sichergestellt worden. Allerdings stimmt misstrauisch, dass Ascher den Brief weder selbst verfasst noch unterschreibt: Denn laut Brief lebt der Autor „heute mit meinem Freunde Ascher hier in Manchester zusammen.“

Im Bundesarchiv findet sich Linses NSDAP-Ausweis mit der Nummer 8336675. Danach trat Linse am 1. Oktober 1940 in die Partei ein. Der späte Zeitpunkt könnte andeuten, dass Linse kein glühender Nazi der ersten Stunde war, sondern eher aus Karrieregründen in die Partei eintrat. Ende 1941 hält er vor der Sozialen Fachschule Chemnitz einen Vortrag, in dessen Resümee Linses Dienstverständnis als fleißiger deutscher Bürokrat im „Dritten Reich“ deutlich wird: „Von der Einstellung des Einzelnen zu den großen Dingen hängt seine Bewährung im Kampf des Alltages ab, und in diesem Daseinskampf kommt es auf jeden Einzelnen und seine Einstellung an, ob er im Stollen unter Tage, in Hütten- und Walzwerken, in Fabriken und Verkehrsbetrieben, in Büros und Ämtern oder auf dem Lande wie dort der Bauer im ewigen Wechsel von Aussaat und Ernte sein Tagwerk verrichtet. Wenn jeder stets dieses Bewußtsein in sich trägt, dann wächst aus den Millionen Schaffenden die ungeheuere Kraft, die Höchstes vollbringt, sich allen Gewalten zum Trotz durchsetzt und uns in diesem großen Kampf das höchste verheißt: den Endsieg!“

Linse hat keine Juden misshandelt und keine antisemitischen Reden gehalten. Aber er war mehr als ein Rädchen in der Vernichtungsmaschine. Linse machte unter den Nazis Karriere, weil er wie tausende andere deutsche Bürokraten Aufträge ausführte. Linse erhielt den Auftrag, die Chemnitzer Wirtschaft zu entjuden. Diesen Auftrag hat er gewissenhaft ausgeführt. Das ist die eine Geschichte. Die andere ist die des Unrechts, das an Walter Linse im Jahr 1952 verübt wurde.

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