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© dpa

Zeiten: Vom Schwimmen in Flüssen und Seen

Für den guten Vorsatz zum Jahresbeginn: Schon die Antike wusste es, Bert Brecht wusste es, und unsere Autorin weiß es auch – das Bad heilt.

Im Krieg und in der Liebe, sagt man, ist alles erlaubt. Ich möchte hinzufügen: im Kampf um den Serotoninspiegel ebenso. Jeder depressive Mensch hat ein genaues Gespür dafür – für den Pegel der Verzweiflung, den Mangel an Appetit, die Flüchtigkeit des Schlafs. Für ein paar Moleküle Neurotransmitter mehr tut man alles: man holt auf den Rat der Ärzte die Laufschuhe aus dem Keller, die alberne Wollmütze oder einen lange nicht getragenen Badeanzug.

Man sieht sich. Besonders an Samstagen, da die Schwimmhalle immer erst um zwölf Uhr öffnet und Zeit genug ist, dass sich eine lange Schlange bildet. Wie immer ist er der Erste. Er sitzt auf dem Fußboden an der Tür zur Kasse. Ich warte gewöhnlich einen Platz hinter ihm. Die Schuhe zieht er sofort aus. „Aus Gründen der Zeitersparnis“, sagt er, die nackten Füße sparen eine knappe Minute auf dem Weg ins Wasser. So schnell wie möglich will er es erreichen. „Vor dem Rest“, murmelt der Stammgast abfällig und meint uns, die wir alle hinter ihm stehen. Er warte seit halb. Jetzt ist es fünf vor zwölf. Die Dame an der Kasse beißt demonstrativ noch einmal ins Frühstücksbrötchen, und der Stammgast quittiert es kopfschüttelnd. Er erhebt sich, zieht die Dauerkarte aus dem Portemonnaie. Der Sicherheitsbeamte gibt den Weg frei, und der Stammgast, ein schlanker, fast hagerer Mann Mitte 30, stürzt nach vorn wie Verdurstende zu einer sprudelnden Quelle.

„Sie müssen das Antidepressivum nicht nehmen“, hatte die Psychiaterin gesagt, „aber ich empfehle es Ihnen dringend.“ Sie hatte nicht nach Gründen für meinen traurig-aufgelösten Zustand gefragt. Bloß sehr milde und liebevoll gelächelt hatte sie, und über Depressionen gesprochen wie über einen ungezogenen, allseits bekannten Gast, den man loswerden kann, wenn man nur raffiniert und geduldig genug ist. Das Medikament, ein selektiver Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, schluckte ich zum Abendbrot.

Das war Anfang September 2008. Zwei Wochen später genoss ich zum ersten Mal seit Monaten etwas Ähnliches wie gesunden Schlaf. Gerade als die Welt im Begriff war, völlig aus den Fugen zu geraten und eine Freundin mich anrief und sagte, dass der Mann im Nachbarhaus sein ganzes Sparkonto in Gold anlegen wolle und dass bald Staatsbankrott sei. In diesem Augenblick stifteten die Tabletten einen ersten, kleinen Frieden in meinem Kopf. Wer weiß, möglicherweise war es schlicht die Tatsache, sich überhaupt wieder für etwas interessieren zu können, zuhören, zum Beispiel einer Nachrichtensendung folgen zu können, ohne durch die eigenen Gedanken an Küchenmesser oder Schlaftabletten abgelenkt zu sein. Ich beschloss, dankbar zu sein. „Treiben Sie Sport!“, hatte die Ärztin geraten. Die Energie dazu musste ich sammeln wie Centstücke, und im Herbst hatte ich sie endlich zusammen.

Als Kind bin ich mit meinem Vater in einem Bergsee zum ersten Mal geschwommen – „wenn schon Sport“, dachte ich, „dann ein Sport, den ich mal geliebt habe.“ Es war, wie nach langer Pause zurück in die Schule zu kommen. Schwach und wacklig auf den Beinen, aber man weiß, was zu tun ist: Umziehen, Klamotten einschließen, unter eine Dusche springen, deren Strahl entweder brühend heiß oder eiskalt auf einen niederprasselt. Das erste Bild von schwimmenden Menschen seit Jahren: Wie friedlich das aussieht! Auf einer der Steinbänke in der Schwimmhalle hockt ein dicker, älterer Mann in Trainingshose und notiert die Zeiten einer Schwimmklasse. Schwimmlehrer ähneln einander. „Los!“, hatte mein alter Schwimmlehrer geschrien, „24 Bahnen einschwimmen!“ Mit einem Klassenkameraden habe ich unter dem hohen Beckenrand des Stadtbades mindestens die Hälfte der Bahnen geschwänzt. Wie Klammeräffchen haben wir uns an der Wasserrinne festgekrallt, haben nach Luft gejapst und gelacht. Jetzt konnte ich mir die Versteckspiele nicht mehr leisten. „Move your ass, your brain will follow“, so hatte es mir ein sehr netter Arzt mal erklärt.

Ich habe mich lange gegen solch ein Rezept, das mir zu simpel schien, gewehrt. Sollte es nützen, das eigene, depressive Gehirn als eine Art unwilligen Tanzpartner zu verstehen, den man ziehen und zerren muss, der mit all seiner Traurigkeit einen Tritt in den Hintern verdient? Der Deal ist fair: Kein Einschwimmen, keine Trillerpfeife, keine Vier minus auf 100 Meter Lagen. Einfach eine halbe Stunde durchhalten. Erst dann können die Stresshormone sinken, das Cortisol und Corticosteron in den Keller fahren, und die neuronalen Gegenspieler Dopamin und Serotin in die wundersame Vermehrung treiben. Die Atmung wird sich vertiefen, die Sauerstoffkonzentration sich erhöhen, die gesamte parasympathische Aktivität. Jener schwindelerregender Gedankenwirbel, der sich manchmal wie Chaos und manchmal wie Leere anfühlt, wird Platz machen für ruhige Gefühle, für ein bisschen Vertrauen. Der Weg dahin führt durch zentnerschweres Grau.

Der Weg, die Leute, der Regen. Noch wenige Meter vor dem Ziel fürchte ich oft, niemals anzukommen, denn alles und jedes auf dem Weg in diese strenge, sich unter die S-Bahn-Linie schmiegende und dem französischen Architekten Dominique Perrault zu verdankende Schwimm- und Sprunghalle im Berliner Nordwesten ist ein Hindernis, eine Entmutigung. Alles, außer dieser Hund.

Ein Irish-Setter, der im Erdgeschoss wohnt. Sein Herrchen ist nie zu sehen, dafür schimmern ein schwarzes Sofa und das laufende Fernsehprogramm durch die von Zigarettenrauch vergilbten Gardinen. Der Irish-Setter schaut, während er bei schönem Wetter auf der Fensterbank liegt und die Gardine ihm wie eine verrutschte Krone auf dem Kopf hängt, freundlich lächelnd auf die vorbeihuschenden Passanten. Er könnte hinaus, ins Freie springen, ich hoffe es jedes Mal wenn ich, still grüßend, auf dem Weg in die Schwimmhalle an ihm vorübergehe. Das Fenster ist offen. Eine seltsame Treue hindert ihn. Eingesperrt in einer kleinen Wohnung, aus dem Fenster lehnend wie ein alter Mann, seine Schönheit, seinen Stolz verleugnend. Warum wirkt er so heiter? Man könnte sich schämen vor diesem Irish-Setter, sich schämen, dass man nicht halb so tapfer ist wie er.

Das Tor der Schwimmhalle gleicht dem Eingang zu einem Safe. Wie die meisten benutze ich den automatischen Türöffner, und mit einem Sirren zieht sich die silberne Doppeltür auf wie das Portal zu einer Trabantenstadt. Dahinter wird es leichter. Die Wärme in der großen Eingangshalle riecht nach Chlor. Frisch geduschte Gestalten mit Wollmützen und hochgestellten Mantelkrägen taumeln in Richtung Ausgang. Das Wasser hat sie verschönt, hat ihnen die Anspannung, die stumme Wut aus den Gesichtern gewaschen. Wasser verwandelt.

Und es erzählt, wie in Märchen, von einer Sehnsucht. Mag sein, dass Sehnsucht zuletzt überhaupt die Sehnsucht nach dem Wasser ist. Bei Alexander Kluge kann man darüber lesen: dass wir nämlich „die Sehnsucht nach den Urmeeren“ in uns tragen. „Die Niere hat den Salzgehalt dieser Urmeere. Wir haben eine lange Erinnerungsfähigkeit“, schreibt Kluge, „das sind wirklich die Gefühle. Das sind Erinnerungsträger, Quanten der alten Welt, für die also ein glücklicher Zustand vor 14 Millionen Jahren Gegenwart ist.“

Gehen wir also deshalb schwimmen? Weil wir uns erinnern wollen? Weil wir im wässrigen Element einer alten Heimat am nächsten sind? Sich hier drinnen, im Wasser, und nicht dort draußen, dort oben in der Stadt und auf Land bewegen zu müssen, kann einer durchschnittlich depressiven Patientin immerhin einen gewissen Schutz bedeuten, und die kostbare Chance, sich praktischen Problemen zu widmen.

Die Schwimmbrille verrutscht. Eine Kleinigkeit, könnte man meinen, nichts als eine komische Szene mit strampelnder Schwimmerin. Auch so kann Erstarrung sich lösen, und wirklich: Das Leben, durch eine schiefe Schwimmbrille betrachtet, entspannt sich. Es patzt, verheddert sich, und muss, wenigstens für einen kurzen, erholsamen Moment, vom allgemeinen Leistungsanspruch Abschied nehmen. Hauptsache, man kann oben von unten unterscheiden, ungefähr den Beckenrand zur rechtzeitigen Wende und den Umriss der anderen Schwimmer auf der Gegenbahn erkennen, deren Nähe man sowieso spürt. Im günstigsten Fall streifen sich Schwimmer wie spielende Wale. Gelegentlich kriegt man aber auch einen Tritt. Der Stammgast etwa lässt sich nicht beirren. Weicht keinen Zentimeter von der direkten Route ab. Das Pensum müsste sonst leiden, die Zeit auf 2000 Meter Brust. Von unserer Karambolage bleibt nichts außer Wut und einer Knoblauchwolke über dem Wasser.

Die Wut verflüchtigt sich. Später, im Flur bei den Haartrocknern erkundigte sich der Stammgast, wie es denn heute gewesen sei, das Schwimmen. Er selbst sei keineswegs zufrieden, „zu viele Leute“ klagt er, und dass die Bademeister durchgreifen sollten bei den vielen Schwimmversagern. Ich müsse zum Schwimmen mal nach England fahren, ins Mutterland der Schwimmkultur. „Erstklassige Bedingungen“, erklärt der Stammgast, zudem man dort die eigenen Fähigkeiten realistischer einschätze, und als langsamer Schwimmer entsprechend niemals wagen würde, einen schnellen Schwimmer aufzuhalten. In Berlin, wo man zur chronischen Selbstüberschätzung neige, sei solche Einsicht selten. Ich schweige beschämt.

Wenige Wochen nach dieser Unterhaltung fährt er eine Freundin und mich eines Nachmittags auf einem Bürgersteig fast über den Haufen. Sein Schwimmbadgesicht mag mürrisch sein, seine Attitüde an Land gleicht einer offenen Kriegserklärung. Meine Freundin war gerade dabei, über den Klimawandel und die Wirtschaftskrise zu sprechen, über die Gefahr einer drohenden Superinflation, als der Stammgast unsere apokalyptischen Zukunftsvisionen mit seinem Rennrad sprengte. Wir schnellten zur Seite, klebten an einen Gartenzaun und sahen den Stammgast auf dem Fahrrad davonpreschen. „Diese Wut“, dachte ich, „kann nur das Wasser erweichen.“

Von Anbeginn hat man dem Wasser magische Kräfte zugetraut. Es galt als das ewige, zu den jenseitigen Mächten gehörige Element, das älter ist als Gott selbst – als Urstoff und Bedingung allen Lebens. Geheimnisvoll und zugleich alltäglich, gefährlich und heilsam, wobei „heilen“ in der Mythologie des Wassers so viel wie „reinigen“ heißt, „befreien“ von körperlicher oder seelischer Plage. Im fließenden, im sonnenbeschienenen, windgepeitschten Wasser sei diese erlösende Kraft besonders zu Hause. In den Flüssen des Tigris und Euphrat, im Jordan, an dem der Prophet Elisa dem erkrankten General des Königs von Aram rät, sich sieben Mal zu waschen. Bereits in der altägyptischen Kultur ließ man das heilige Flusswasser über Zaubertexte laufen, oder über das Herz des Patienten, um es von vermeintlicher Besessenheit zu erretten. Im Taufwasser, im Weihwasser der christlichen Kirchen glitzert derselbe Gedanke, wenn, wie der römische, frühchristliche Dichter Tertullian schreibt, das „hohe Alter des Wassers“ zu achten, ihm als Sitz des göttlichen Geistes zu huldigen sei.

In Verruf geriet es im Mittelalter – das Wasser, das man fortan als Element der Sünde verschrie. Nichts als einen Krankheitsherd, einen Pfuhl der Ansteckung wollte man unter seiner Oberfläche vermuten. Der Kontakt war strikt zu meiden, und das Schwimmen, anders als in der griechischen und römischen Antike, die das Schwimmen zu den Fertigkeiten der höheren Bildung, den „septes probitates“ zählte, wurde das Schwimmen dem mittelalterlichen Codex zur lasterhaften, teuflischen Entgrenzung. Noch der Berner Professor Niklas Wymann, der 1538 das erste Schwimmlehrbuch der Welt verfasste, scheiterte mit dem Versuch, die Menschen vor dem Ertrinken zu retten und landete mit seinem „Colymbetes“ auf dem Index. Erst das aufgeklärte Ich lernte wieder, sich über Wasser zu halten.

Verschüttete Traditionen antiker Badekultur wurden mehr und mehr in den Dienst des Bürgers genommen. Dem 19. Jahrhundert wird das Wasser zum Element einer heute aberwitzig anmutenden Selbstkasteiung. So schrieb ein Prediger und Verfasser populärer Schriften wie Dr. Friedrich Röver in einem 1832 veröffentlichen Handbuch über die Heilkraft des kalten Wassers, will sagen, über „heroische Wasserkuren“. Gegen Nervenleiden aller Art, gegen Schlaflosigkeit, Reizbarkeit und Erregbarkeit empfiehlt der Prediger in seinem Werk „Hydriasis“, morgendlich kaltes Wasser zu trinken, dazu „fleißiges Baden im Fluss“. Nach vier Wochen dürfe man die Genesung erwarten.

„Drei, vier Monate“, hatte die Ärztin veranschlagt. Anschließend würde ich Mühe haben, so ihr Versprechen, mich an meinen depressiven Zustand zu erinnern. Vielleicht bin ich nicht fleißig genug. Ich erinnere mich gut. Vielleicht ist das gekachelte, saubere Schwimmbad kein Ersatz für einen mondlichtglänzenden Fluss. Inzwischen ist der Badeanzug dünn und rissig geworden. Ich habe mir einen neuen gekauft und mir dazu ein Gefühl der Anerkennung gestattet. Ich neige jetzt dazu, Schwimmen für die beste Therapie zu halten. Und der gesellschaftliche Bedarf erscheint mir ungeheuer. In jedem Passanten erkenne ich einen Beladenen, einen potenziellen Besucher der Schwimmhalle.

Einem Studenten, der seinen skoliosegekrümmten Rücken zu Wasser lässt, würde ich am liebsten raten, das Brustschwimmen gegen die Rückenlage zu tauschen, und der hoch adipösen Frau, die sich traut, den Weg von der Dusche zum Beckenrand entlangzuwatscheln, möchte ich Beifall klatschen. Mag sein, ich übertreibe. Denn ein paar Teenager sind ja auch noch da. An dunklen Winternachmittagen schwimmen sie verliebt nebeneinander her, warten aufeinander am Beckenrand. Wir anderen zählen die Bahnen und hoffen darauf, dass das Wasser über uns zusammenschlägt wie sanftes Meeresrauschen.

Auf der Gegenbahn trifft ein Sonnenstrahl mein Gesicht. In der Samstagsschlange hatte mir der Stammgast neulich die exakte Amplitude des Beinschlags beim Rückenschwimmen erklärt und über Stabilität und Eleganz des Schwimmsports doziert. Man müsse sich dem Wasser hingeben, hatte er gesagt, und die eigenen Kräfte nicht vergeuden. Ich solle es ausprobieren, hatte er gesagt, und es klang, als ob er mir den Fortschritt zutraut. Die Ärztin glaubt, ich solle es von nun an ohne Tabletten versuchen.

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