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© dpa-Zentralbild

Zeiten: Wahl-Auswahl

Geschichten zu den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Stimmabgabe.

Scherbengericht

Mit seiner Mehrheitssuche erfüllte das Scherbengericht, man sagt auch Ostrakismos dazu, gewiss demokratische Prinzipien, aber man muss auch sagen, dass es arg verunglimpfend zuging. Wir reden von der Zeitspanne zwischen 487 und 417 vor Christus. Mit dem Scherbengericht nämlich wurden, vor allem im antiken Athen, unliebsame Bürger aus der Stadt gejagt. Jeder Bürger konnte den Namen einer Person auf seinen Stimmzettel schreiben – dazu dienten die Tonscherben –, die er der Stadt verwiesen haben wollte. 6000 Stimmen reichten damals aus, dann musste der auf diese Weise verurteilte Kandidat binnen zehn Tagen in die Verbannung gehen. Auf eine vorzeitige Rückkehr stand die Todesstrafe. Warum es einen traf, ist ein wenig nebulös. Im weitesten Sinne werden es wohl politische Gründe gewesen sein, mit denen einem Mitbürger eine feindliche Haltung gegen das Volk und die Demokratie vorgeworfen wurde. Und damit kann man ja schnell bei der Hand sein. Zum Beispiel wurde dem Staatsmann Aristeides 482 v. Chr. sein Widerstand gegen aufwendige Flottenpläne zum Verhängnis. Pikante Anekdote, laut Plutarch, am Rande: Logischerweise muss der abstimmende Bürger schreiben können. Also wurde Aristeides eines Tages von einem schreibunkundigen Mann auf der Straße gebeten, doch bitte den Namen Aristeides auf die Scherben zu schreiben. Aristeides tat wie geheißen, so staatstreu und gesetzeskonform war er immerhin. Vielleicht auch ein Grund, warum er zwei Jahre später wieder von seiner Verbannung erlöst wurde.

Vogelflug

Auch wer die Qual hatte, kann die Wahl haben. Bekanntlich hatten Romulus und Remus einige qualvolle Momente durchzustehen, im Säuglingsalter etwa die lebensgefährliche Fahrt im Weidenkorb auf den Hochwassern des Tiber. Aber dann wurde ihnen später gestattet, an der Stelle, an der ihr wackeliger Nachen gestrandet war, eine Stadt zu gründen. Aber wo genau? Und in welchen Grenzen? Eine quälende Wahl. Gemäß den Sitten der Zeit, ließen sie höhere Mächte entscheiden. Die antiken Griechen hatten Orakel befragt, etwa das von Delphi, die antiken Römer bevorzugten die Blitze und Donner des Himmels als Entscheidungshilfe. Oder das Gekröse von Opfertieren. Romulus und Remus vertrauten auf den Vogelflug, auf die Zahl der Adler, die sich an zwei verschiedenen Punkten niederließen. Am Ende siegte Romulus mit zwölf Adlern zu sechs Adlern des Remus, weswegen wir heute Rom zu Rom sagen und nicht Rem. Wahrscheinlich liegt es im Wesen einer solchen Wahlentscheidung, dass sie einen unglücklichen Ausgang nahm. Nachdem Romulus die Stadtmauern gezogen hatte, hüpfte Bruder Remus leichtfüßig und spöttisch hinüber. Was Romulus in Rage brachte: Er erschlug Remus. Der Vogelflug als Wahlhelfer kam dann später aus der Mode, das Erschlagen von politischen Gegnern indes nicht.

Konklave

Es kommt von con claudere, gemeinsam einschließen, und nicht etwa von cum clave, mit dem Schlüssel. Das möglicherweise absurdeste Wahlverfahren, das die Welt kennt, legt den Papst der römisch-katholischen Kirche fest. Am Ende ist alles klar, dann steigt weißer Rauch auf, und es ertönt der Freudenschrei „Habemus papam!“. Bis 1059 war die Wahl des Papstes sogar ein bisschen basisdemokratisch, weil das Volk von Rom per Akklamation beteiligt war. Seitdem sind nur noch Kardinäle wahlberechtigt. Die bleiben so lange von der Außenwelt abgeschottet, bis sie sich einig sind. Früher durften sie nicht einmal die Sixtinische Kapelle verlassen, seit 1978 können sie immerhin während des Konklaves im Gästehaus wohnen. Aber es gibt kein Telefon, keinen Fernseher, kein Radio, keine Post und auch keine Zeitungen. Dann wird gewählt, man kann sagen, wahllos wird gewählt. Eine Kandidatenliste gibt es nicht, jeder der maximal 120 Kardinäle darf mit verstellter Handschrift seinen Favoriten auf einen kleinen Zettel schreiben. Erforderlich ist eine Zweidrittelmehrheit, man kann sich vorstellen, dass es dauert, bis die zustande kommt. Das ganze Prozedere, das voll unergründlicher Rituale steckt, wurde im Wesentlichen im Jahre 1274 festgelegt. So viel zur Weitsicht der römisch-katholischen Kirche oder zu ihrer Modernität.

Landsgemeinde

Da stehen sie. Bärtige Männer, nein, Mannsbilder, schwer schleppen sie die blitzenden Säbel. 2000 mögen es sein. Die Sonne scheint, die Musik kracht. Und dann tritt einer auf den Platz, erklimmt das hohe, hölzerne Podium, die Musik schweigt, und ein kehliger Laut steigt hinauf in den Himmel: „’S Wort isch fry!“ Und sofort hebt ein Hallen und Schallen an, Stimmen aus dunklen Schlünden dröhnen über die Männerschar. Was geht hier vor? Wo sind wir? In der Schweiz, im Kanton Appenzell-Innerrhoden. Und was sich hier auf der grünen Wiese begibt und wie die altgermanische Volksversammlung des „Thing“ erscheint, ist die sogenannte „Landsgemeinde“. Ein Jahrhunderte altes Brauchtum, bei dem immer an einem Sonntag im April das kantonale Volk aufläuft, seinen „Landammann“ (= Ministerpräsident) wählt und Gesetze beschließt – ganz einfach durch das Heben des Säbels als Zeichen der Zustimmung. Wehe, es schliche sich hier ein Auswärtiger auf die Wiese, schlecht würde es ihm ergehen und aus tausend Kehlen schallte es: „Fremdi Fötzel ussi!“ Man ist hier unter sich und will es bleiben.

P.S. Seit einigen Jahren ist die Appenzeller Männerwelt ein wenig in Unordnung geraten: Frauen! Stimmrecht! Weil die gemeine Appenzellerin jedoch in aller Regel keine Waffe besitzt, streckt sie statt des Säbels eine simple Wahlkarte in den Himmel. Wie uns die Zeiten ändern!

Wahlpflicht

Ein alter Spontispruch besagt, dass Wahlen längst abgeschafft wären, würden sie etwas verändern. Nun gut. Aber eine Pflicht, zur Wahl zu gehen, hat man wohl dennoch. In Deutschland ist es nur eine moralische Pflicht, die sich aus dem Umstand ergibt, dass eine geringe Wahlbeteiligung den Extremparteien nützt, also hier etwa der NPD. Darüber hinaus gibt es keine Verpflichtung. Was ja auch ein Widerspruch wäre. Wenn ich einer sanktionsfähigen Pflicht nachkommen muss, habe ich ja keine Wahl. Man glaubt aber gar nicht, in wie vielen Ländern noch Wahlpflicht existiert. Darunter auch in Italien, wo es inzwischen fast Tradition ist, dass man die Wahl hat zwischen Berlusconi und Berlusconi. Eine Geldstrafe ist dort sogar vorgesehen bei Wahlverweigerung, sie wird aber nicht verhängt. Anders in Australien, wo 20 Dollar berappen muss, wer den Urnengang versäumt. Im Wiederholungsfall kann sogar eine Gefängnisstrafe ausgesprochen werden. Leute, das muss doch nicht sein! Geht einfach zur Wahl!

Indien

Organisierte Anarchie nennen sie manchmal ihr Land, die Inder, auf jeden Fall schaffen sie es, die größten demokratischen Wahlen der Welt zu organisieren. Die Zahlen der Wahlen: 714 Millionen Menschen waren im Frühjahr dieses Jahres berechtigt, das Parlament neu zusammenzusetzen. 43 Millionen durften zum ersten Mal wählen. Die Bevölkerung wächst eben schnell, aber auch das Wählerverzeichnis, weil sich immer mehr Menschen registrieren lassen, ein amtliches Melderegister wie in Europa gibt es in Indien schließlich nicht. Wahltag? Nein, ein ganzer Wahlmonat war es, in fünf Phasen wählte das Land, weil es sonst nicht zu bewältigen gewesen wäre. Sechs Millionen Helfer und Sicherheitskräfte kamen zum Einsatz, Wahlen sind sensibel, tödliche Anschläge gab es auch, gerade im Norden und Osten des Landes herrschen gewaltsame Konflikte. In 830 000 Wahllokalen konnten die Menschen ihre Stimme abgeben, 1,3 Millionen Wahlmaschinen standen bereit, nach der Stimmabgabe wurden die Wähler mit Tinte markiert. „Das ist das Nebeneinander von Tradition und Moderne in Indien“, sagt Clemens Spiess, Indien-Experte am Südasien-Institut der Uni-Heidelberg. Frei und fair sei es insgesamt zugegangen, aber teils auch populistisch, sagt er, „in einem Bundesstaat im Süden Indiens hatte eine Partei jedem armen Haushalt einen Farbfernseher versprochen“. Die indische Wahl bietet übrigens nicht nur die größte Zahl, sondern auch die kleinste. In einem Nationalpark gab es ein Wahllokal mit einem einzigen Wahlberechtigten, einem Priester.

Damenwahl

Nein! hatten die Amazonen gesagt. Nein zu den Männern, die sie unterwerfen, vergewaltigen oder töten wollten. Und: Nein! zu ihrer traditionellen Rolle als Frau. Frei, selbstbestimmt, nach eigenen Regeln wollten sie in ihrem eigenen Staat leben. Eine Königin sollte sie regieren, gewählt aus der Mitte des Volkes. Um wahlberechtigt und gleichzeitig wählbar zu sein, musste eine Amazone drei Bedingungen erfüllen: Sie hatte sich die rechte Brust abgeschnitten, mindestens drei Männer im Kampf getötet und versprochen, sich niemals zu verlieben. Waren diese Bedingungen erfüllt, stand ihrer Wahl nichts mehr im Weg.

Sobald die Mehrheit der Amazonen entschieden hatte, wurde der Siegerin das Symbol ihrer Herrschaft überreicht: ein großer goldener Bogen, der aus der Hand des Kriegsgottes persönlich stammte. Wie in einer Monarchie üblich, wurde die Königin auf Lebenszeit gewählt. Der Mythos kennt aber nur junge und vor allem schöne Amazonenköniginnen. Dass sie alle im Kampf überwunden wurden, ist bei ihrem kriegerischen Talent unwahrscheinlich. Näher liegt die Vermutung, dass sie ihren Anspruch auf die Regentschaft aufgaben, nachdem sich die dritte Bedingung als zu schwierig erwiesen hatte. Immer wieder sabotierten Männer die Amazonenwahl, indem sie sich der Damenwahl stellten.

Pioniere Obamas

Es war ein blutiger Weg, bis mit Barack Obama endlich ein Schwarzer Präsident der Vereinigten Staaten wurde. Dabei stand in einem Verfassungszusatz schon 1869, dass das „Wahlrecht ... nicht aufgrund von Rassenzugehörigkeit, der Hautfarbe oder vormaliger Dienstbarkeit“, sprich Sklaverei, „verweigert oder beschränkt werden“ darf. Aber Papier ist auch in Amerika geduldig. In der Realität sah es lange anders aus. In der verhinderte der Ku-Klux-Klan, die rassistische weiße Terrororganisation, den Zugang der schwarzen Bevölkerung zu den Urnen. Aber auch andere machten den Schwarzen das Stimmrecht streitig. „Wenn ihr an den Wahlurnen einen Neger trefft, sagt ihm, er soll verschwinden, oder schießt ihn über den Haufen!“, hetzte ein Mitglied er Demokratischen Partei aus North Carolina an der Schwelle des 20. Jahrhunderts. Und die Südstaaten formulierten ganz offiziell Bedingungen, die den Verfassungszusatz aushebelten. Lese- und Schreibtests, zum Beispiel, die die vormaligen Sklaven und deren Nachfahren natürlich nicht erfüllen konnten. Anfang 1965 begann Martin Luther King eine große Registrierungskampagne der schwarzen Bevölkerung. Sie wurde in Selma, Alabama, brutal niedergeknüppelt. Was im August 1965 schließlich zu den Voting Right Acts führte, mit denen die Wahlen in den Südstaaten unter Bundesaufsicht gestellt und alle Behinderungen aufgehoben wurden. Fast hundert Jahre nach dem faktischen Wahlrecht für Schwarze. Es brauchte beinahe weitere 50 Jahre, bis es Barack Obama zum Präsidenten brachte.

Scheinwahl

Auch Diktaturen bemänteln sich gerne mit Wahlen, vielleicht gibt es ja irgendwen – und sei es weit weg im Ausland –, der ihnen das Ergebnis abnimmt. Die Propagandaveranstaltungen wurden immer lächerlicher, je länger die Diktatur dauerte. Bleiben wir vor der eigenen Haustür: In der DDR standen nicht einzelne Parteien oder Kandidaten zur Auswahl, sondern eine Liste mit SED, den Blockparteien und Massenorganisationen wie FDGB und FDJ. Die sogenannte Kandidatenliste der Nationalen Front, was schon mal irgendwie einschüchternd klang. Es war nur Zustimmung oder Ablehnung möglich, wobei als Nein nur galt, wenn jeder Kandidat einzeln oder die gesamte Liste mit einem Kreuz durchgestrichen oder eine klare Ablehnung formuliert wurde, was natürlich Interpretationssache war. Die Zustimmung betrug meistens mehr als 99 Prozent, so verkündete es das Regime. Weil sich dieses Schauspiel von Wahl zu Wahl wiederholte und eher eine Art Volkszählung war, sprach man vom „Zettel falten“. Wer nicht zur Wahl ging, bekam schon mal Besuch von zwei Herren, die die Wahlurne gleich mitbrachten. Die letzte Scheinwahl der DDR war die Kommunalwahl am 7. Mai 1989. Das Regime wollte größte Zustimmung präsentieren, weil es schon spürbar bröckelte im Land, und es gab kuriose Ansagen wie die eines Kurdirektors, der seinen Patienten mit sofortiger Abreise drohte, falls sie nicht ihre Stimme abgaben. Allerdings war auch der Widerstand so groß wie nie. Menschen aus der Bürgerbewegung kamen zur Auszählung, um die Stimmen kontrollieren zu können. Trotzdem lautete das Ergebnis: 98,85 Prozent Zustimmung bei 98,78 Prozent Wahlbeteiligung. Bürgerrechtler stellten Abweichungen von zehn Prozent fest. Später gab es Gerichtsurteile gegen Wahlfälscher. Deutsche Geschichte.

Texte von Hedwig Appelt, Wolfgang Prosinger, Helmut Schümann und Friedhard Teuffel.

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