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Politik: Geschnitten oder am Stück

Von Ursula Weidenfeld

Es ist ein echtes Privileg, führender Wirtschaftsforscher in diesem Land zu sein. Erstens haben Wirtschaftsforscher einen einigermaßen sicheren Job. Zweitens sind die Gutachten der Institute kaum gefährdet, demnächst durch Expertisen aus Polen oder Indien ersetzt zu werden. Und, drittens: Wirtschaftsforscher müssen nicht entscheiden. Das ist Luxus. Die Wirtschaftsforschungsinstitute haben sich den Luxus geleistet, die Bundesregierung mit ihrem Frühjahrsgutachten vor eine Wahl zu stellen, die sie nicht (mehr) hat. Sie haben zu weiteren Reformen gemahnt, sie haben Entlastung der Arbeitskosten gefordert, sie haben eine Wirtschafts, Sozial- und Finanzordnung aus einem Guss verlangt. Nur so werde in Deutschland wieder ein Wirtschaftswachstum möglich, das den Namen verdient.

Sie haben Recht. Doch selbst wenn die Bundesregierung sich einig wäre: Das Geforderte könnte sie nicht liefern. Vor einer Reform „aus einem Guss“ stehen die akute wirtschaftspolitische Schizophrenie der sozialdemokratischen Partei, die Blockademehrheit der Union im Bundesrat, die Wahlen in Nordrhein-Westfalen im Mai und die im September des kommenden Jahres im Bund. Und davor lag eine viel zu lange Phase der wirtschafts- und sozialpolitischen Wackelei.

Das ist schlimm. Denn gleichzeitig tritt die Globalisierung in eine ihrer dynamischeren Phasen. Die Weltwirtschaft hat eine Phase starken Wachstums hinter sich, allenthalben sind Unternehmen, Aktien- und Immobilienmärkte schon wieder sehr teuer geworden. Weil Deutschland seit Jahren an der wirtschaftlichen Dynamik der anderen nicht teilhat, ist das Land vergleichsweise billig – und steht nun im Fokus derer, die Franz Müntefering zuletzt als Heuschrecken bezeichnet hat. Unternehmen, Wohnungen, selbst ausgediente Fabrikanlagen sind preiswert zu haben. Kein Wunder, dass private ausländische Kapitalgesellschaften im zweistelligen Prozentbereich einsteigen. Früher wäre das ein Grund zur Freude gewesen – heute fürchtet man das Gefräßige dieser Investoren, die ihre Erwerbungen nach einiger Zeit weiterverkaufen wollen – geschnitten oder im Stück, jedenfalls aber mit Gewinn.

Kein Wunder, dass den Beschäftigten, den Mietern und ihren Familien angst und bange wird. Man kann sagen, dass das die Glaubwürdigkeitskrise des Kapitalismus ist. Man kann auch sagen, dass es die Folge anhaltend unglaubwürdiger Wirtschaftspolitik ist. Alles aber läuft zusammen in einem merkwürdig verzerrten Bild: Es gehört immer noch zu dem Besten, was einem Menschen passieren kann, in Deutschland geboren zu werden. Es ist nicht das Schlimmste, hier aufzuwachsen. Es gibt viele Menschen, die gut verdienen. Es gibt Millionen, die nicht arbeiten und dennoch bescheiden leben können. Die Unternehmen werden steuerlich nicht mehr über die Maßen in Anspruch genommen. Ein Marsmensch würde heute, so urteilte kürzlich der britische „Economist“, lieber in Deutschland investieren als im Musterland USA.

Trotzdem wird gehadert und gezweifelt, als stünde das Land am Abgrund. Denn Arbeitsplätze schaffen würden die Marsianer vermutlich auch nicht. Egal wie die saisonale Erholung der Arbeitslosenzahlen am morgigen Donnerstag ausfällt: Der Arbeitsmarkt ist die entscheidende Größe – für die Stimmung, für die Konjunktur, für das Wachstum. Arbeit ist trotz Hartz und Gesundheitsreform immer noch zu teuer, und zwar brutto. Die Bürde der Sozialversicherungen lastet immer noch allein auf dem Faktor Arbeit, obwohl es doch lange alle besser wissen. Wer zu seinem Lohn noch einmal vierzig Prozent zusätzlich erwirtschaften muss, damit Kranken-, Renten-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung bezahlt werden, der kann nicht mit polnischen oder bulgarischen Arbeitsstunden konkurrieren, auf denen diese Lasten nicht liegen, und wenn er sich noch so anstrengt. Auch wenn bis zur Bundestagswahl in dieser Frage keine Grundsatzentscheidungen zu erwarten sind: Die Richtung, in die die Politik hinterher gehen soll, muss jetzt schon klar werden. Das ist kein Luxus. Das ist Pflicht. Die Weltwirtschaft wartet nicht bis September 2006.

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