zum Hauptinhalt
316661_0_79c0b525.jpg

© vario images

Gesundheitspolitik: Mit Risiken und Nebenwirkungen

Die Gesundheitspolitik wird eines der politischen Streitthemen des Jahres 2010 sein. Eines, das jeden betrifft. Was macht das deutsche Gesundheitssystem aus?

Arbeitgeber: Dürfen sich immer mehr aus der einst paritätischen Finanzierung stehlen. Die neue Regierung will ihre Beiträge auf dem bisherigen Stand einfrieren, für Kostensteigerungen sollen dann allein die Arbeitnehmer aufkommen.

Beitragssatz: Seit Anfang 2009 für alle Krankenkassen einheitlich. Er liegt bei 14,9 Prozent des beitragspflichtigen Einkommens – bis zur Obergrenze von monatlich 3750 Euro.

Chronisch Kranke: Produzieren hohe Ausgaben und sind die Sorgenkinder der Gesundheitsökonomen. Krankenkassen, die besonders viele haben, erhalten aus dem Gesundheitsfonds einen Ausgleich, der diese Kassen dann oft besser stellt als Konkurrenten mit vielen gesunden Mitgliedern. 20 Prozent der Deutschen gelten als chronisch krank.

Demenz: Sammelbegriff für Erkrankungen, bei denen sich die Denkfähigkeit verringert – angesichts der alternden Bevölkerung ein wachsendes Problem. Die Zahl Demenzkranker wird sich in den nächsten 40 Jahren auf bis zu 2,6 Millionen wohl mehr als verdoppeln. Die Pflegeversicherung ist darauf noch nicht eingestellt. Zwar gibt es nun endlich Geld für die Betreuung, aber nicht genug. Die Leistungsbewilligung müsste sich generell weniger an körperlichen Defiziten und mehr an der geistigen Präsenz orientieren.

Elektronische Gesundheitskarte: Ein Milliardenprojekt, aus Datenschutzgründen umstritten und von Schwarz- Gelb teilweise gestoppt. Das Moratorium betrifft aber nur Online-Funktionen, die etwa das Verschicken sensibler Patientendaten ermöglichen. Der Rest – eine fälschungssichere Karte mit Foto und Versichertendaten – wird weiterentwickelt.

Fusionen: Gutes Mittel für die Krankenkassen, um Kosten zu sparen und Verhandlungsmacht zu bündeln. 1991 gab es noch 2100 Kassen, inzwischen sind es weniger als 180. Zum Jahreswechsel schlossen sich Barmer und Gmünder Ersatzkasse sowie die AOKen Berlin und Brandenburg zusammen. Und die Fusionen gehen weiter. Am Ende könnte es 40 bis 50 Kassen geben – und den Versicherten würde nichts fehlen.

Gesundheitsfonds: Geldsammelstelle, in die alle Krankenversicherungsbeiträge samt Steuerzuschüssen des Bundes fließen. Von da gelangen sie über einen komplizierten Ausgleichsmechanismus an die einzelnen Kassen. Entscheidend für die Höhe der Zuweisungen ist die jeweilige Versichertenstruktur. Kommen die Kassen mit dem Geld nicht aus, dürfen sie Zusatzbeiträge erheben. Durch den Fonds und den dazugehörigen Einheitsbeitrag haben die Kassen einen großen Teil ihrer Finanzautonomie verloren.

Honorare: Seit Jahren Streitthema zwischen niedergelassenen Ärzten und Politik. Im vorigen Jahr wurden sie deutlich erhöht, im Schnitt um 7,8 Prozent. Viele Mediziner sind dennoch unzufrieden, denn die Zuwächse sind ungleich verteilt. Zudem ist das Honorarsystem hochkompliziert. Dringend nötig wäre eine neue Honorarordnung, an die sich die Politik bisher nicht herangetraut hat.

Impfungen: Sind seit der Ausrottung der Pocken in den 80ern freiwillig. Die Behörden beschränken sich aufs Empfehlen – und klagen über wachsende Impfmüdigkeit. Gut möglich, dass sich diese durch die übertriebenen Bedrohungsszenarien in Sachen Schweinegrippe nun noch verstärkt. Vor allem an Auffrischungsimpfungen hapere es, klagen Experten.

Junge Ärzte: Fehlen vor allem in ländlichen Gebieten. In Sachsen-Anhalt etwa liegt das Durchschnittsalter praktizierender Ärzte bereits bei 53 Jahren. Von Ärztemangel kann dennoch keine Rede sein. Im Gegenteil: Noch nie gab es so viele Mediziner. Das Problem ist, dass die meisten in Ballungsräumen bleiben – und sich dort auf die Füße treten.

Kopfpauschale: Ein Begriff, den die Befürworter aus Union und FDP wegen der Assoziation mit Kopfgeldjägern nicht mehr gerne verwenden. Ihre neue Wortschöpfung lautet Gesundheitsprämie und besagt dasselbe: Die einkommensabhängigen Arbeitnehmerbeiträge sollen durch Einheitspauschalen ersetzt werden. Für schlechter Verdienende gäbe es einen Sozialausgleich aus dem Steuertopf. SPD, Grüne und Linke sind dagegen – und die CSU auch, obwohl ihr Parteichef die Vereinbarung mitunterschrieben hat.

Leistungskatalog: Beschreibt Leistungen, die die gesetzliche Krankenversicherung übernimmt. Die Entscheidung darüber trifft der Gemeinsame Bundesausschuss, der aus Vertretern von Krankenkassen, Ärzten und Kliniken besteht. Patientenvertreter sind auch dabei, aber ohne Stimmrecht. Durch den medizinischen Fortschritt muss der Katalog ständig erweitert werden. Da man an die Grenzen des Finanzierbaren stößt, wurden immer wieder Leistungen gestrichen oder mit höherer Selbstbeteiligung versehen – wie bei Sehhilfen und Zahnersatz.

Mitversicherung: Anders als im privaten System sind Kinder und erwerbslose Ehepartner bei gesetzlichen Kassen kostenfrei mitversichert. Das soll auch nach der Umstellung auf Kopfpauschalen so bleiben, sagt Gesundheitsminister Philipp Rösler. Die Grünen sind skeptisch: Wer Beiträge vom Erwerbseinkommen abkoppeln wolle, könne nicht gleichzeitig eine Mitversicherung an den Verzicht auf Erwerbstätigkeit binden.

Nebeneinander: Rot-Grün hätte es gern beseitigt, die neue Regierung hält eisern daran fest. Das deutsche Nebeneinander von gesetzlicher und privater Krankenversicherung ist einzigartig in Europa. Es gibt Gutverdienern die Möglichkeit, sich dem Solidarsystem zu entziehen und befördert eine Zwei-Klassen-Medizin. Doch die Verträge der Privaten im Sinne eines Einheitssystems umzustellen, wäre schon juristisch kaum möglich. Die Versicherten genießen Bestandsschutz: Sie haben Ansprüche erworben, die ihnen keiner nehmen darf.

Ohnmacht: Empfinden viele angesichts ständig steigender Gesundheitskosten. Zu medizinischem Fortschritt und alternder Bevölkerung kommen nun auch noch die Folgen der Finanzkrise. Der Schätzerkreis hat für 2010 ein Defizit von vier Milliarden Euro prophezeit. Schwarz-Gelb hat im Koalitionsvertrag trotzdem auf jedes konkrete Kostendämpfungsvorhaben verzichtet.

Praxisgebühr: Beträgt zehn Euro und wird seit 2004 jedem Kassenpatienten einmal pro Quartal abverlangt, wenn er zum Arzt geht. Das Ziel war es, unnötige Arztbesuche zu vermeiden und Patientenströme besser zu lenken. Das wurde aus Expertensicht nicht erreicht. Dafür gab es Geld: Allein im vergangenen Jahr brachte die Gebühr 1,9 Milliarden Euro.

Qualität: Immer noch sehr hoch im Vergleich zu anderen Ländern. Damit das so bleibt und die Kosten dennoch nicht aus dem Ruder laufen, gibt es seit 2004 ein Institut „für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen“. Es analysiert Studien und entscheidet, ob Arzneimittel oder Therapien sinnvoll sind. Das Problem: Die Institutsleitung steht unter Dauerbeschuss der Pharmahersteller. Und es gibt kaum unabhängige Experten, die nicht mit der Gesundheitsindustrie verbandelt sind.

Rabattverträge: Wichtigste Sparmöglichkeit für Krankenkassen, bei der es um Milliarden geht. Betroffen sind Arzneimittel, die keinem Patentschutz mehr unterliegen und von mehreren Herstellern produziert werden dürfen. Die Kassen schließen mit den günstigsten Anbietern für die jeweiligen Wirkstoffe Verträge und versorgen ihre Versicherten über einen festen Zeitraum nur noch mit diesen Mitteln. Die Pharmaindustrie kritisiert das als Preisdumping. Und Patientenverbände beklagen die Verunsicherung durch ständig wechselnde Arznei.

Solidarität: Im Gesundheitssystem unverzichtbar, allerdings immer auch Definitionssache. So findet der neue Minister, der Ausgleich zwischen Reich und Arm sei im Steuersystem besser aufgehoben. Alle gesetzlich Versicherten sollen eine Einheitspauschale zahlen, für den Sozialausgleich wäre dann der Finanzminister zuständig. Kritiker entgegnen, dass man so 60 Prozent der Versicherten zu Bittstellern mache – und nie wisse, ob das Steuergeld dafür immer vorhanden ist.

Terminvergabe: Deutlichster Ausdruck für die hierzulande längst existierende Zwei-Klassen-Medizin. Gesetzlich Versicherte müssen auf planbare Arzttermine weit länger warten als Privatpatienten. Der Grund: Mediziner können für die Privatbehandlung das Zwei- bis Dreifache abrechnen. Die frühere Gesundheitsministerin Ulla Schmidt wollte gegen ungleiche Terminvergabe vorgehen, ihr Nachfolger schweigt dazu bisher.

Unsicherheit: Plagt die meisten beim Gedanken an die künftige Versorgung. Nach einer Allensbach-Umfrage erwarten vier von fünf Versicherten steigende Beiträge und mehr Zuzahlungen. 63 Prozent fürchten, bald nur noch eine Grundversorgung zu erhalten. Und drei von vier Ärzten glauben, das bisherige Versorgungsniveau sei nicht zu halten.

Vorkasse: Dürfen Vertragsärzte von gesetzlich Versicherten nicht verlangen, ohne ihre Zulassung zu riskieren. Im Zuge des Honorarstreits im Jahr 2009 versuchten es manche jedoch, um Druck auszuüben. Vorkasse ist nur erlaubt, wenn Patienten keine Versichertenkarte vorlegen oder ausdrücklich verlangen, auf eigene Kosten behandelt zu werden.

Wettbewerb: Die wohl beliebteste Vokabel, wenn Politiker übers Gesundheitssystem sprechen. Tatsächlich ist der Wettbewerb hier höchst eingeschränkt, 97 Prozent der Kassenleistungen sind gesetzlich vorgeschrieben. Mit der Möglichkeit, Zusatzbeiträge zu erheben oder Beiträge zurückzuerstatten, wollte die große Koalition verhindern, dass sich die Kassen nach Einführung des Einheitsbeitrags preislich nicht mehr unterscheiden. Zudem dürfen sie nun mehr Wahlleistungen anbieten. Der neuen Regierung reicht das nicht. Sie will ihnen wieder „mehr Beitragsautonomie“ und „regionale Differenzierungsmöglichkeiten“ geben – was immer das bedeutet.

X für ein U: Es gibt keinen Politikbereich, in dem sich so viele Lobbyisten tummeln wie im Gesundheitssektor. Auch deshalb gilt der Job des Gesundheitsministers als einer der schwierigsten. Am aggressivsten ist die Pharmalobby. Und gar nicht so selten finden sich die Formulierungen der Interessenvertreter eins zu eins in Gesetzesvorlagen wieder.

Yogakurse: Dienen der Gesunderhaltung und werden von vielen Kassen freiwillig bezuschusst. Zum gesetzlichen Leistungskatalog gehören sie ebenso wenig wie andere Wellnessangebote.

Zusatzbeiträge: Die letzte Möglichkeit für klamme Kassen, auf Beitragszahlerkosten über die Runden zu kommen. Sie dürfen von ihren Mitgliedern solche Aufschläge erheben, wenn sie nicht mehr mit den Fondszuweisungen auskommen. Die Zusatzbeiträge sind einkommensunabhängig, aber auf maximal ein Prozent des Haushaltseinkommens begrenzt. Bisher haben alle Kassen darauf verzichtet. Im Laufe des Jahres dürfte es jedoch losgehen, und zwar flächendeckend. Nur einige AOKen und kleine Betriebskassen haben versprochen, darauf zu verzichten.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false