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Gesundheitspolitik: Teure Gelenke

Die Krankenkassen fürchten, dass fast jeder Versicherte im Alter Knie- oder Hüftprothesen braucht. Die Kriterien für Eingriffe sollen überprüft werden.

Berlin - Die Zahlen, sagt Rolf-Ulrich Schlenker, hätten ihn „fast vom Hocker gehauen“. 1,4 Millionen Hüftgelenksoperationen hat die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) seit 2003 ihren Versicherten bezahlen müssen, dazu noch mal mehr als eine Million Kniegelenksimplantationen. Wenn das so weitergehe, stöhnt der Krankenkassenfunktionär, werde es hierzulande bald keinen Rentner mehr ohne künstliches Knie- oder Hüftgelenk geben.

Nun ist das Thema ein hochemotionales, und seit sich ein aufstrebender CDU- Politiker in ebenjenem Jahr 2003 damit die Finger verbrannte, hat kaum noch einer daran zu rühren gewagt. Philipp Mißfelder von der Jungen Union hatte damals kundgetan, dass er nichts davon halte, 85-Jährigen auf Kosten der Solidargemeinschaft noch künstliche Hüftgelenke zu verpassen – und dieser Satz hätte ihn fast die Karriere gekostet.

Sieben Jahre später ist das Thema wieder da, und Schlenker als Vizechef der Barmer GEK beunruhigt gleich dreierlei an der sogenannten Endoprothetik: die hohen Kosten, die rapide steigende Fallzahlen und die offensichtlichen Qualitätsdefizite. 2,9 Milliarden Euro kostet die Erstimplantation künstlicher Hüften oder Kniegelenke im Jahr, ohne Rehabilitation oder Nachbehandlung. Nachoperationen verschlingen weitere 550 Millionen. Das sind, alles in allem, stolze zwei Prozent der GKV-Gesamtausgaben.

Mit steigender Tendenz. Die Hüftoperationen legten in den vergangenen sieben Jahren um 18 Prozent, die Knie-OPs gar um 52 Prozent zu. Und nur ein kleiner Teil dieser Steigerung ist, wie die Sozialmedizinerin und Projektleiterin des Barmer-GEK-Krankenhausreports, Eva Maria Bitzer, sagt, mit dem Altern der Gesellschaft zu erklären. „Altersbereinigt“ liege der Anstieg immer noch bei neun beziehungsweise 43 Prozent. Allerdings wird Kassenvize Schlenker sehr vorsichtig, wenn es um die Ursachensuche geht. Die Frage müsse erlaubt sein, ob das Angebot hier nicht die Nachfrage forciere, die ärztliche Empfehlung zur Operation zu oft erfolge und es hier nicht eine „allmähliche Tendenz zur Überversorgung“ gebe. Das Wörtchen „unnötig“ jedoch kommt dem Funktionär nicht über die Lippen.

Nein, in Rationierungsdebatten à la Missfelder will sich Schlenker keinesfalls begeben. Stattdessen lobt er die Tatsache, dass die Endoprothetik hierzulande „allen Versicherten ohne Altersbegrenzung“ zur Verfügung stehe, und dass es eine flächendeckende Versorgung „fast ohne Wartezeiten“ gebe. Und die Wissenschaftlerin Bitzer betont, dass Menschen jeden Alters von Hüft- oder Kniegelenkseingriffen profitierten – durch weniger Schmerzen oder mehr Mobilität. Und durch Operationen aufgrund von Arthrose sei auch bei Älteren keine höhere Sterblichkeit nachweisbar.

Gleichzeitig warnt der Kassenvize davor, dass Steigerungsraten wie in der Endoprothetik die GKV „auf Dauer an ihre Belastungsgrenzen“ führten. Wie man aus dieser Klemme kommt? Man müsse die individuellen Kriterien für solche Eingriffe überprüfen, fordert Schlenker. Außerdem Vergütungshöhe und Qualität. Im Laufe der Jahre werde jedes siebte Hüftgelenk und jedes achte Knie wieder ausgewechselt, so der Kassenvize. „Wir brauchen hier klare Gewährleistungsregeln und eine erfolgsorientierte Vergütung.“

Und dann gäbe es ja noch das Allheilmittel Prävention. Schließlich litten Knie und Hüfte nicht nur wegen des Alters, sondern auch bei besonderer Belastung, sagt der Gesundheitssystemforscher Friedrich- Wilhelm Schwartz aus Hannover. Die Steigerungsraten bei Hüft- und Knieoperationen seien auch „eine Quittung“ dafür, dass man präventiv zu wenig gegen Fettleibigkeit und Bewegungsarmut unternehme.

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