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Tobender Triumph. Fußballfans in Kairo bejubeln das Todesurteil, während eine Menschenmenge in Port Said versucht, das Gefängnis zu stürmen. Es gibt mehrere Tote. Foto: Khaled Desouki

© AFP

Gewalt in Ägypten: Zeugen des Zorns

Freude auf Seiten der Verwandten und Freunde der Opfer des Blutbades vor einem Jahr, Wut und Krawalle von Seiten der Fans des Fußballclubs Al Masry - noch nie war Ägypten so gespalten wie zum zweiten Jahrestag der Revolution. Die Gewalt gerät landesweit außer Kontrolle.

Kaum hatte um 9 Uhr früh der Vorsitzende Richter Sobhy Abdel Maguid im Staatsfernsehen live die Liste der 21 zum Tode verurteilten Fußballfans aus Port Said verlesen, brach vor den Toren der Polizeiakademie in Neu-Kairo frenetischer Jubel aus. Frauen stimmten mit ihren Freudenträllern wie auf einer Hochzeitsfeier ein, Männer lagen sich weinend in den Armen, andere küssten innig Fotos ihrer getöteten Angehörigen, die sie mitgebracht hatten. „Rache, Rache“ rief die Menge in Sprechchören und schwenkte mitgebrachte Galgenstricke.

„Ein Land – zwei Völker", titelte kürzlich eine Kairoer Zeitung. Ägypten ist so tief gespalten wie nie zuvor – zwei Jahre nach der Revolution gegen Hosni Mubarak. Und das zeigte sich besonders deutlich am Tag der Urteilsverkündung. Während also die Anhänger des Kairoer Traditionsclubs Al Ahly auf ihrem Vereinsgelände auf der Insel Zamalek Freudenböller zündeten, Fangesänge erklingen ließen und mit hupenden Autokorsi durch die Straßen kurvten, brach 400 Kilometer entfernt, in der Suez-Stadt Port Said die Hölle los. Von allen Seiten strömten aufgebrachte Menschen zu dem Zentralgefängnis. Ein ausgedehntes Gelände, was von einer hohen Mauer mit Stacheldraht und Wachtürmen umgeben ist. Ein Stoßtrupp junger Männer versuchte, in das Innere der Haftanstalt vorzudringen, um die zum Tode Verurteilten zu befreien. Auf Handyvideos von Augenzeugen sind Schüsse aus automatischen Waffen zu hören, panisch sucht die Menge in den angrenzenden Seitenstraßen Schutz vor den dichten Wolken aus Tränengas. Zwei Wachleute der Haftanstalt starben, als sie und ihre Kollegen die Angreifer

zurückschlugen. Danach eskalierte die Gewalt in der gesamten Stadt. Polizeistationen wurden geplündert, Autos angezündet, der Industriepark nahe des Hafens angegriffen. Im Stadtviertel Al-Manakh war stundenlang schweres Gewehrfeuer zu hören. Über Lautsprecher riefen die Moscheen die Bevölkerung zu Blutspenden auf. Bis zum Abend meldeten die staatlichen Behörden mindestens Dutzende Tote und hunderte Verletzte – die zweite Katastrophe von Port Said im dem von wachsender Anarchie und Gesetzlosigkeit geschüttelten post-revolutionären Ägypten.

Vor einem Jahr starben 74 Menschen im Fußballstadion

Die erste Katastrophe, die das Kairoer Strafgericht am Sonnabend mit den 21 Todesurteilen ahndete, ereignete sich fast genau vor einem Jahr beim Fußball. Kaum hatte der Schiedsrichter an jenem 1. Februar die Erstliga-Partie zwischen der aus Kairo angereisten Elf von Al Ahly und dem Team des heimischen Al Masry Clubs abgepfiffen, verwandelte sich das Stadion in ein Inferno. Steine und Flaschen flogen, Spieler rannten in Todesangst vom Platz, verbarrikadierten sich in den Kabinen und flehten über Handy um ihr Leben. Feuerwerkskörper setzten Zuschauerränge in Brand. Dutzende Fans aus Kairo wurden durch Al Masry Schläger von den Tribünen in die Tiefe gestoßen, andere von der panisch fliehenden Menge zu Tode getrampelt. Am Ende beklagte die geschockte Nation 74 Tote und über 1000 Verletzte.

Und wie damals tagte gestern wieder stundenlang der Nationale Sicherheitsrat, dem neben dem Präsidenten auch der Verteidigungs- und Innenminister angehören. Staatschef Mohammed Mursi sagte seine für den heutigen Sonntag geplante Reise zum Afrika-Gipfel nach Addis Abeba ab. Ob er Mittwoch, wie geplant, nach Deutschland und von dort weiter nach Frankreich reisen wird, ist völlig offen.

Denn anders als noch vor einem Jahr sind gewalttätigen Proteste nur auf Kairo und den Tahrir-Platz begrenzt. Inzwischen hat der Aufruhr praktisch alle großen Städte in Ober- und Mittelägypten sowie im Nil-Delta erfasst. Und das Volk ist zwei Jahre nach dem Sturz von Hosni Mubarak so tief gespalten wie nie zuvor. Denn mit der Wirtschaft geht es nur noch bergab. Die meisten Bürger haben ihre Reserven aufgebraucht. Immer mehr Fabriken schließen, Hotels und Baderessorts stehen leer. Der bei ausländischen Besuchern einst so populäre Sinai wird gemieden. Offiziell liegt die Arbeitslosigkeit bei gut 12 Prozent, doch fast jeder zweite Ägypter lebt mittlerweile unterhalb der Armutsgrenze von zwei Dollar pro Tag. Zugleich ist die ägyptische Währung gegenüber dem Dollar auf ein Allzeit-Tief gefallen, was vor allem die Lebensmittel verteuert.

Die Kreditgespräche mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) treten auf der Stelle, nachdem Präsident Mursi die als Kernbedingung mit New York vereinbarten Steuererhöhungen in einer Nacht- und Nebenaktion wieder rückgängig gemacht hatte – in erster Linie auf Druck der Muslimbruderschaft. Nun soll das unpopuläre Steuervorhaben im Frühjahr kommen, nach der Wahl eines neuen Parlaments – wenn überhaupt. Aber der IWF verlangt noch mehr: Kairo soll auch die Subventionen für Benzin und Strom kürzen, was schon bald zu weiteren schweren sozialen Unruhen führen könnte.

Ohne die Milliarden aus New York geht bald nichts mehr. Sie sind gewissermaßen ein Schlüsselkredit, der die Tür für Zusagen weiterer Geldgeber öffnet. Ein Drittel seiner Staatsausgaben finanziert Ägypten inzwischen auf Pump. Das könnte sich nach Berechnungen des Planungsministeriums 2013 sogar auf 50 Prozent erhöhen, „wenn keine strikten ökonomischen Maßnahmen ergriffen werden“. In der größten Not sprang kürzlich erst einmal Qatar mit fünf Milliarden Dollar ein – angesichts der Haushaltslöcher eine kaum spürbare Hilfe.

Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten werden potenziert von der extremen innenpolitischen Polarisierung, die vor allem durch das Verfassungsmanöver der Muslimbrüder vor Weihnachten entstanden ist. „Mursi ist ein Lügner“, skandierten die Menschen auf dem Tahrir-Platz am vergangenen Freitag, dem zweiten Jahrestag der Revolution.

Ein Großteil der Bevölkerung hat das Vertrauen in die politische Führung verloren, die von der Muslimbruderschaft dominiert wird. Und Ägypten zerfällt immer mehr in ein islamistisches und liberales Lager. Beide Seiten stehen sich mittlerweile so unversöhnlich gegenüber, als wollten sie nicht weiter in einem gemeinsamen Land leben. Durch diese Totalblockade gelingt es der politischen Führung nicht mehr, das Land zu einer großen patriotischen Anstrengung zu mobilisieren, um den wirtschaftlichen Bankrott abzuwenden.

Der Präsident forderte Panzer und Truppen an

Und damit nicht genug. Zwei schwere Zugunglücke und mehrere Einstürze von Wohnhäusern haben den Menschen in den vergangenen Monaten drastisch vor Augen geführt, wie marode und korrupt Infrastruktur und Verwaltung tatsächlich sind. Mindestens 400.000 Häuser in ganz Ägypten wurden illegal errichtet und könnten jeden Tag zusammenfallen. Bei dem einen Zugunglück vor sechs Wochen in Assiut starben 51 Schulkinder, weil der Schrankenwärter sich schlafen gelegt hatte. Bei einem Großunfall nahe Kairo kamen kürzlich 19 Rekruten ums Leben, als der letzte Waggon ihres total überfüllten Truppentransporters entgleiste und in einen stehenden Güterzug krachte. Vergeblich hatten die Rekruten ihre Offiziere schon in Mittelägypten alarmiert, dass der Wagen bei der Fahrt so merkwürdig schwanke. „Setzt euch hin und haltete das Maul“, schnauzten diese. Wenig später kam es zur tödlichen Katastrophe.

In seiner Not hat Präsident Mursi am Sonnabend nun auch Panzer und Truppen gegen den Aufruhr in Port Said angefordert. Die Armee riegelte alle Zufahrtsstraßen ab, die wichtigsten Regierungsgebäude werden von Soldaten bewacht. Der Präsident twitterte an seine aufgebrachten Landsleute und flehte sie an, Frieden zu bewahren und die Gewalt zu beenden. Vom Weltwirtschaftsforum in Davos meldete sich per Facebook auch Premierminister Hisham Qandil und beschwor die Menschen, die Krawalle zu stoppen und wieder zur Arbeit zu gehen. Nur so werde es gelingen, die geliebte Heimat aus der gegenwärtigen Krise herauszubringen und die Ziele der Revolution zu erreichen – mahnende Worte, die die Menschen zwischen Panzern und Plünderungen nicht erreichten.

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