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Kurzes Durchschnaufen in Kiew. Demonstranten halten die Verteidigungslinie gegen Regierungskräfte.

© dpa

Gewalt in der Ukraine eskaliert: Scharfschützen schießen auf Demonstranten, Protestierer nehmen Gefangene

„Ich bin bereit, hier zu sterben“, sagt ein Demonstrant in Kiew. Dabei sind schon so viele gestorben. Was vor drei Monaten mit friedlichen Protesten für eine Annäherung an die EU begann, erreicht am Donnerstag einen brutalen Höhepunkt. Von nun an scheint alles möglich.

Es ist neun Uhr morgens am Donnerstag, als in Kiew die Grenze überschritten wird.

Die Grenze, das sind die Barrikaden aus Steinen, aus brennendem Holz und Autoreifen, die seit dem vergangenen, blutigen Dienstag quer über dem Maidan lagen und Polizeieinheiten und Demonstranten voneinander trennten. Es war nicht friedlich gewesen seit diesem Dienstag, aber es schien auch nicht mehr viel schlimmer zu werden. Die Demonstranten warfen mit Steinen und Molotowcocktails, die Polizei antwortete mit Blendgranaten und Wasserwerfern. Ein Status quo des Protests schien erreicht. Mehr noch: In der Nacht zu Donnerstag, nachdem der ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch und die Oppositionsführer eine Waffenruhe erklärt hatten, war es sogar etwas ruhiger geworden.

Dann, am Donnerstagmorgen um neun Uhr, überrennen die Aktivisten auf dem Maidan die Barrikaden. Sie stürmen auf die Polizisten zu. Warum sie das tun, ist nicht klar. Sind es die Radikalen? Haben sie sich bewaffnet? Am frühen Morgen sind auf dem Maidan Busse aus der Westukraine angekommen, dort wurde am Mittwoch eine Kaserne gestürmt, Waffen wurden erbeutet. Am Donnerstag in Kiew ist das Geschehen nur schwer zu rekonstruieren.

Die Einheiten des Innenministeriums und der Spezialpolizei „Berkut“ sind von der plötzlichen Attacke völlig überrascht: Auf der Institutska-Straße hinter dem Hotel „Ukraina“ direkt am Maidan wenden die Fahrer der Polizeibusse in Panik, während einzelne Polizisten versuchen, den Abzug mit Gewehrschüssen auf die anstürmenden Aktivisten zu decken.

Mitten im Kampfgeschehen fangen diese Aktivisten Feuer.
Mitten im Kampfgeschehen fangen diese Aktivisten Feuer.

© AFP

Innerhalb von Minuten verschwinden die Polizeieinheiten die Institutska-Straße hinauf, stattdessen fahren zwei Schützenpanzer auf. Und dann beginnt eine auch nach all den Gewalttaten der vergangenen Wochen bislang unvorstellbare Szenerie: In kleinen Gruppen von zwei oder drei Mann rücken die Aktivisten, geschützt von Schilden, in Richtung der nächsten Barrikade vor. Dann fallen sie zu Boden und bleiben reglos liegen – getroffen von den Kugeln der Scharfschützen. Der Kampf ist ungleich, und doch wiederholen sich die Szenen stundenlang. Von der Bühne des „Maidan“ rufen Redner die Kämpfer auf, nicht mehr auf den Hügel neben dem „Hotel Ukraina“ vorzudringen. Vergebens.

Was vor genau drei Monaten mit friedlichen Protesten für eine Annäherung an die EU begann, hat sich am Donnerstag endgültig in einen bewaffneten Konflikt verwandelt – einen Konflikt zwischen dem Regime und seinen Gegnern.

Im Inneren des „Hotel Ukraina“ steigt die Zahl der Toten und Verletzten. Im Foyer liegen am frühen Nachmittag zwölf Leichen, von Tüchern bedeckt. Der Boden im rechten Teil des Raumes ist blutverschmiert, immer wieder werden Verletzte hereingetragen.

Durch die oberen Etagen des Hotels ziehen derweil mit Pistolen und Gewehren bewaffnete Maidan-Aktivisten, auf der Suche nach Scharfschützen, die angeblich immer noch aus einem Zimmer des Hotels auf die Menschen schießen. Aus dem 14. Stock ballern die Aktivisten in Richtung der Barrikade auf der Institutska-Straße, wo sie weitere Scharfschützen der Polizei vermuten. Deren Antwort folgt prompt: Ein Schuss, eine Glasscheibe zersplittert, zum Glück wird niemand verletzt.

Nachdem sich die Polizisten am Morgen zurückgezogen hatten, konnten die Demonstranten praktisch kampflos auch die Gruschewski-Straße zurückerobern, jene im Januar so schwer umkämpfte Zufahrtsstraße zu Regierungsgebäuden und zum Parlament. Erst gestern hatte die Polizei hier aus massiven Betonklötzen eine Straßensperre errichtet – sie ist nun in der Hand der Demonstranten. Vielleicht 200 Meter die Straße hinauf blockieren Lastwagen und Busse die Durchfahrt. Von Polizeieinheiten ist weit und breit nichts zu sehen, nur auf dem Dach des Regierungssitzes sind mehrere Schemen auszumachen, vermutlich Scharfschützen.

Wie im Krieg werden inzwischen auf dem Maidan Gefangene gemacht

Tränen eines Demonstranten.
Tränen eines Demonstranten.

© Reuters

Die Szenerie ist gespenstisch: Jeder weiß, dass diese Scharfschützen jederzeit das Feuer eröffnen könnten. Noch einen Tag zuvor wäre das unwahrscheinlich gewesen, seit Donnerstag ist alles möglich. Am frühen Nachmittag erhalten die ukrainischen Sicherheitskräfte sogar ganz offiziell, gebilligt von Innenminister Vitali Sachartschenko, Schusswaffen für den „Anti-Terror-Einsatz“. Eingesetzt werden dürfen die Waffen mit scharfer Munition. Aber auch die Demonstranten haben sich mittlerweile mit Gewehren und Pistolen bewaffnet, die sie in den vergangenen Tagen auch schon eingesetzt haben. Offenbar haben auch sie in ihren Reihen Scharfschützen, es könnten Veteranen des Afghanistan- oder des Tschetschenienkriegs sein.

Wie im Krieg werden inzwischen auch auf dem Maidan, mitten in Kiew, Gefangene gemacht. Als die Aktivisten am Morgen die Barrikaden stürmen, können rund 60 Wehrdienstpflichtige der Innenministeriumstruppen nicht entkommen, Sie werden gefangen genommen und sitzen am Mittag mit müden Gesichtern in einem Verwaltungsgebäude am Maidan, bewacht von Aktivisten. Ihr Kommandeur Timur Zoj berichtet, dass er am Mittwochabend zwei Offiziere durch Schüsse verloren hat. „Es waren Kugeln vom Kaliber 16, aus Plastik mit Stahlspitzen. Damit macht man eigentlich Jagd auf Wildschweine“, erklärt er. Dass die Schüsse in den Hals trafen – wo die Soldaten nicht geschützt sind –, erhärtet für ihn den Verdacht, dass die Schützen Profis waren.

Seit dem 1. Dezember 2013 haben Zoj und seine Leute auf dem Maidan ihre Köpfe in den Stein- und Molotowhagel gehalten. „Am Anfang standen wir friedlichen Demonstranten gegenüber, aber in den letzten Tagen waren wir in der Feuerlinie“, sagt Zoj. Für seine Truppe ist der Krieg nun erst mal vorbei. Für andere beginnt er gerade.

„Jetzt gibt es nur noch eines: Janukowitsch stürzen, und dann muss seine ganze Bande vor ein Tribunal“, schimpft Alexander Rossoschanskij, ein Mann um die 50, am Nachmittag auf der Gruschewski-Straße. Verhandlungen mit Janukowitsch? Hoffnung auf die europäischen Außenminister, die den Präsidenten am Donnerstag zu Gesprächen getroffen haben? Er schüttelt den Kopf. Der Eisenbahner aus der Stadt Winniza sieht die Grenze endgültig überschritten, auch für sich selbst: „Ich bin bereit, hier zu sterben.“

Dabei sind am Donnerstag schon so viele gestorben. Sie liegen rund um den Maidan, an der Kreschatik-Barrikade etwa sind acht von ihnen auf Decken aufgebahrt, die Gesichter bleich, zum Teil blutverkrustet. Auf jedem Körper liegt eine weiße Rose, die vorübergehenden Menschen halten kurz inne und bekreuzigen sich, andere weinen. Von der Bühne schallen die Gesänge von Priestern herüber. Fast ohne Unterbrechung werden dort am Nachmittag Gottesdienste abgehalten.

Auf dem Maidan machen sich zeitgleich etliche Menschen daran, die noch rauchenden Überreste der jüngsten Kämpfe wegzuschaffen. Frauen reichen den Helfern Milch, Tee oder Brote. In einem Zelt hinter der Maidan-Bühne spielt sich Bedrückendes ab. Ein Elternpaar nimmt die Leiche seines Sohnes in Empfang. Die Familie stammt aus der Region um Kiew, Mutter und Vater haben sich sofort ins Auto gesetzt, als sie von einem Freund ihres Kindes angerufen wurden. Als sie vor dem Leichnam ihres Sohnes Alexander stehen, bricht die Mutter zusammen, sie wird ohnmächtig. Der junge Mann liegt auf einer Sanitätsbahre, zugedeckt mit einer dunklen Wolldecke, ein Priester hält Totenwache.

Nur ein paar hundert Meter entfernt wird derweil ein letzter Versuch unternommen, die Krise auf politischem Wege zu lösen. Das ukrainische Parlament tritt zu einer Sondersitzung zusammen. Gerüchteweise heißt es, auch einzelne Abgeordnete der Regierungspartei seien inzwischen bereit, sich gegen Präsident Janukowitsch zu stellen, um einen Ausweg aus der Krise zu finden. Bis in die späten Nachmittagsstunden verzögert sich allerdings der Beginn der Sitzung immer wieder, weil erst rund die Hälfte der 450 Abgeordneten im Parlamentsgebäude eingetroffen ist. Auch Vitali Klitschko und die beiden anderen Oppositionsführer sitzen in den halbgefüllten Reihen, die Anspannung ist ihnen anzusehen.

Draußen auf der Straße ist die Lage derweil ruhig, aber angespannt. Im Kiewer Rathaus, das nach seiner Räumung am vergangenen Sonntag mittlerweile wieder in der Hand der Demonstranten ist, sitzt die 20-jährige Jaroslawa. Seit ein paar Tagen übernachtet sie im Rathaus, in dem am Donnerstag viele Räume mit Liegen und Medikamenten ausgestattet wurden. Sie sind zu Lazaretten geworden, durch die geschäftig Ärzte laufen.

Jaroslawa ist skeptisch, was die nachmittägliche Ruhe betrifft: „Das“, sagt sie ernst, „ist die Stille vor dem Sturm.“

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