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Gewalt in Israel und im Westjordanland: Die Furcht vor einem Palästinenser-Aufstand wächst

Streit um den Tempelberg: Seit Wochen gibt es in Jerusalem und im Westjordanland gewalttätige Unruhen. Israelis wie Palästinenser kamen dabei ums Leben. Droht nun eine neue Intifada?

Die Lage ist brenzlig. Fast jeden Tag gibt es in Jerusalem und im Westjordanland schwere Auseinandersetzungen zwischen Palästinensern und israelischen Sicherheitskräften. Ausgelöst wurden die jüngsten Unruhen durch jüdische Nationalisten. Sei versuchten mehrfach, auf den Jerusalemer Tempelberg zu gelangen, wo auch die Al-Aksa-Moschee und der Felsendom stehen. Die religiösen Fundamentalisten bestehen darauf, dort beten zu dürfen, was ihnen allerdings untersagt ist. Die Stimmung ist inzwischen so aufgeladen, dass schon mehrfach Anschläge auf Soldaten und Siedleraktivisten verübt worden sind. In den vergangenen Wochen steuerten zudem palästinensische Extremisten mehrfach Fahrzeuge in Menschenmengen. Es gab Tote und Verletzte. In Israel wächst nun die Furcht vor einem Aufstand der Palästinenser, einer dritten Intifada.

Wofür steht der Begriff Intifada?

Das arabische Wort bedeutet "sich erheben" oder "abschütteln". Die Palästinenser verstehen unter "Intifada" konkret einen Volksaufstand gegen die israelische Besatzungsmacht. Die erste Intifada von 1987 bis 1993 begann als "Krieg der Steine" mit Massendemonstrationen und zivilem Ungehorsam. Der zweite Palästinenseraufstand, die Al-Aksa-Intifada, von 2000 bis 2005 wurde von Ariel Scharon ausgelöst. Trotz zahlreicher Warnungen besuchte der damalige israelische Oppositionsführer den Tempelberg – die Palästinenserführung reagierte auf diese Provokation mit einem Aufruf zur Gewalt. Wie bei der ersten Intifada schlugen Israels Sicherheitskräfte mit aller Macht zurück. Dementsprechend hoch waren die Opferzahlen: Bei der ersten Intifada kamen mehr als 1100 Palästinenser ums Leben, auf israelischer Seite gab es 160 Opfer. Noch verheerender waren die Folgen des Al-Aksa-Aufstands: Der jüdische Staat zählte 20 000 Anschläge, darunter etwa 140 Selbstmordattentate. Offiziell starben während der Kämpfe 1036 Israelis. Die Palästinenser hatten schätzungsweise 3500 Tote zu beklagen. Unklar ist jedoch, wann Proteste gegen Israel in eine Intifada umschlagen. Dafür gibt es keine klare, allgemeingültige Definition.

Welche Folgen hatten die beiden bisherigen Volksaufstände?

Die erste Intifada machte der Weltgemeinschaft, aber auch weiten Teilen der israelischen Politik und der Bevölkerung klar: Für das Palästinenserproblem muss es eine politische Lösung geben. So begann ein Friedensprozess, der mit dem Osloer Abkommen 1993 seinen Höhepunkt erreichte. Damals vereinbarten Israels Regierung und die PLO, eine palästinensische Selbstverwaltung auf den Weg zu bringen. Daraufhin wurde die Autonomiebehörde gegründet – als Vorbereitung auf eine mögliche Zwei-Staaten-Lösung. Die zweite Intifada endete 2005 mit einem Waffenstillstandsabkommen zwischen Palästinenserpräsident Mahmud Abbas und Israels Regierungschef Scharon. Der als Siedlerfreund und Hardliner geltende ehemalige General erkannte damit nicht nur die PLO als Partner an, sondern vollzog zudem eine historische Kehrtwende: Er ließ noch im selben Jahr alle israelischen Siedlungen im Gazastreifen räumen.

Wie gefährlich ist die jetzige Situation in Jerusalem und im Westjordanland?

Brandgefährlich. Denn es kann jeder Zeit passieren, dass die Lage auf beiden Seiten außer Kontrolle gerät. Die Palästinenser begnügen sich längst nicht mehr mit Steinwürfen und dem vereinzelten Einsatz von Molotowcocktails. Ihre Gewaltbereitschaft nimmt vielmehr von Tag zu Tag zu. Fanatische Extremisten, oft Einzeltäter, verüben mittlerweile Terroranschläge – mit Autos, Schusswaffen und Messern. Am vergangenen Montag starben ein Soldat in Tel Aviv und eine junge Siedlerin im Westjordanland. Beide wurden erstochen. Israels Sicherheitskräfte gelten allerdings auch nicht gerade als zimperlich, wenn sie gegen Palästinenser vorgehen. Menschenrechtsorganisationen haben das Verhalten der Polizei schon mehrfach als unverhältnismäßig und überzogen kritisiert. Erst vor einigen Tagen erschoss ein Beamter einen 22-jährigen Palästinenser in der Nähe von Nazareth. Der junge Araber hatte mit einem Messer auf ein Polizeiauto eingeschlagen und war dann geflohen. Dennoch soll auf ihn gefeuert worden sein.

Kann ein Aufstand noch verhindert werde?

Vor allem die israelische Seite ist jetzt gefordert. Abschreckung allein wird wenig nutzen, sondern zu mehr Hass und Wut führen. Die Regierung muss vielmehr Vernunft walten lassen und versuchen, die Lage zu beruhigen. Dazu gehört in erster Linie, radikale Nationalisten von weiteren Provokationen abzuhalten. Daran ist offenkundig auch Benjamin Netanjahu gelegen. Der Regierungschef hat bereits mehrfach erklärt, von ihm werde der Status quo beim Tempelberg nicht infrage gestellt. Das Gleiche erwarte er von seinen Kabinettskollegen. Doch Rechtsausleger in der Regierung wie Wirtschaftsminister Naftali Bennett oder Wohnungsminister Uri Ariel sind nicht gewillt, den Vorgaben des Ministerpräsidenten zu folgen.

Doch auch Netanjahu schürt den Konflikt – mit seiner international heftig gerügten Siedlungspolitik in Ostjerusalem und im Westjordanland. Zur Deeskalation müsste gleichfalls die palästinensische Seite beitragen. Zum Beispiel indem die Verantwortlichen in aller Deutlichkeit jede Art von Gewalt verurteilen. Das ist bislang nicht der Fall. Im Gegenteil. Immer wieder werden Attentäter vor allem von der islamistischen Hamas als Märtyrer gefeiert, die ihr Leben für den Kampf gegen die verhassten Besatzer geopfert hätten. Der inhaftierte Fatah-Aktivist Marwan Barghuti rief aus einem israelischen Gefängnis heraus die Palästinenserführung auf, jetzt den "bewaffneten Widerstand" zu unterstützen. Doch Abbas weiß trotz aller martialischen Rhetorik ("Religionskrieg im Nahen Osten") genau, dass eine dritte Intifada einen eigenen Staat in weite Ferne rücken lassen würde.

Wer könnte von einem Aufstand profitieren?

Keine Frage: Eine Intifada würde viel Leid über Palästinenser und Israelis bringen. Denn der Aufstand hätte eine Explosion der Gewalt zur Folge, mit zahlreichen Toten und Verletzten, von den verheerenden wirtschaftlichen Folgen ganz zu schweigen. Allerdings ist es keineswegs ausgeschlossen, dass bestimmte politische Kräfte sich von einem derartigen Konflikt Vorteile versprechen. Zum Beispiel die Hamas. Sie könnte versuchen, sich als wahrer Interessensvertreter aller Palästinenser zu profilieren. Denn die Islamisten hegen keinen Zweifel daran, dass Israel als Besatzer ein Feind ist, den man mit Waffengewalt bekämpfen muss – kompromisslos. Nach Lesart der Hamas lässt Abbas genau diese Härte vermissen.

Einige seiner Kritiker gehen noch einen Schritt weiter. Sie werfen dem Palästinenserpräsidenten vor, er arbeite allzu eng mit der israelischen Regierung zusammen. Viele junge Araber sehen das genauso. Sie halten einen Aufstand für den einzigen gangbaren Weg, um sich selbst aus dem Elend der Besatzung zu befreien. Was wiederum ganz im Sinne der Hamas ist. Eine Intifada käme wohl auch den Nationalisten in Israel nicht ungelegen. Durch die damit sicherlich einhergehende Gewalt sähen sie sich bestätigt: Eine friedliche Lösung des Nahostkonflikts ist nichts anderes als eine blauäugige Illusion. Sollten diese Hardliner die Stimmung in ihrem Sinne beeinflussen können, würde der Druck auf Netanjahu immens steigen, die ohnehin schleppend laufenden Friedensgespräche endgültig für gescheitert zu erklären.

Könnte eine Intifada Israels Regierung in ernsthafte Bedrängnis bringen?

Das ist durchaus möglich. Die Koalition gilt schon seit langem als brüchig. Vor allem der rechte Flügel wirft Netanjahu vor, gegenüber den Palästinensern zu nachgiebig zu sein. Die Nationalisten halten die Gespräche mit Abbas zur Lösung des Nahostkonflikts schlicht für Zeitverschwendung – und Verhandlungen mit der Hamas für Hochverrat. Wäre es nach den Hardlinern gegangen, hätte Israel im jüngsten Gazakrieg den Küstenstreifen wieder dauerhaft besetzt. Auch deshalb hat Netanjahu den Waffenstillstand mit den Islamisten im Alleingang vereinbart.

Andere Kabinettsmitglieder werfen dem Premier dagegen vor, er würde mit seiner kompromisslosen Haltung jede Chance auf Frieden zunichte machen. Jüngst quittierte Umweltminister Amir Peretz den Dienst, weil Netanjahus Politik verantwortungslos sei. Von verschiedenen Seiten bedrängt, könnte der Regierungschef sein Heil in vorgezogenen Wahlen suchen. Doch ob er aus diesen siegreich hervorgehen würde, ist sehr fraglich. Seine Popularitätswerte sind in den Keller gerauscht. Netanjahus gefährlichster Widersacher, Siedlerfreund und Wirtschaftsminister Bennett, hingegen konnte zulegen. Viele sehen ihn als künftigen israelischen Regierungschef.

Wäre es denkbar, dass Amerika oder Europa mäßigend auf Palästinenser wie Israelis einwirken?

Der Nahostkonflikt hat seine eigenen Gesetze und Regeln. Dazu gehört, dass von außen kaum Einfluss auf die Kontrahenten genommen werden kann. An Versuchen hat es in der Vergangenheit zwar nicht gemangelt. Sie blieben aber weitgehend erfolglos. Diese schmerzliche Erfahrung musste jüngst US-Außenminister John Kerry machen. Mehrere Monate lang bemühte sich Amerikas Chefdiplomat, zwischen beiden Seiten zu vermitteln. Letztlich ließen ihn sowohl Palästinenser als auch Israelis abblitzen. Keiner war zu Kompromissen bereit, keiner wollte sich von der Supermacht hineinreden lassen – das hat die USA bitter enttäuscht.

Gerade vom Verbündeten Israel hatte man sich mehr Entgegenkommen erhofft. Seitdem ist das Verhältnis zwischen Washington und Jerusalem schlechter denn je. Sollte es zu einer neuen Intifada kommen, würde dies wohl die Beziehungen zusätzlich belasten. Denn es ist sehr wahrscheinlich, dass Obama den von ihm wenig geschätzten Netanjahu für den Palästinenseraufstand mit verantwortlich macht – wegen dessen Unnachgiebigkeit.

Das sieht man in der EU ähnlich, ohne es öffentlich so zu formulieren. Ohnehin gelten Europas Einflussmöglichkeiten als sehr gering. Die israelische Regierung wie die palästinensische betonen zwar immer wieder, dass die EU eine größere Rolle im Friedensprozess spielen sollte. Aber jeder weiß: Europa ist im Nahen Osten nur eine kleine Nummer. So bleibt Politikern wie Außenminister Frank-Walter Steinmeier kaum mehr, als wortreich die Kontrahenten zur Besonnenheit zu mahnen. Nur: Bislang sind solche Appelle in der Regel folgenlos geblieben. Und nichts spricht dafür, dass sich daran jetzt etwas ändert.

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