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Polizisten stehen kurz nach Mitternacht vor der Alten Oper in Frankfurt/Main.

© Frank Rumpenhorst/dpa

Gewalteskalation in Stuttgart und Frankfurt: „Auf den Migrationsfaktor zu schauen, wird solche Ereignisse kaum verhindern“

Der Konfliktforscher Andreas Zick erklärt, dass Jugendkultur auch in Pandemiezeiten unkontrollierte Räume braucht. Und welche Rolle die Polizei spielt.

Andreas Zick ist Professor für Sozialisation und Konfliktforschung und leitet seit April 2013 das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld.

Herr Professor Zick, warum entlädt sich die Gewalt gegen Polizeibeamte, wie wir es in Stuttgart und Frankfurt erlebt haben?
Solche Eskalationen in großen Gruppen sind erforscht und wir haben uns selbst nach der Kölner Silvesternacht intensiver mit dem Phänomen der Gruppendynamiken und Eskalation in die Gewalt beschäftigt. An beiden Orten haben sich große Ansammlungen von jungen Menschen gebildet, die aus unterschiedlichen Gruppen bestehen. Das lose Interesse, das sie verbindet, war es, den Abend mit Unterhaltung zu verbringen.

Es war ihr Raum, und er war offen. Normalerweise wären die Gruppen in Clubs oder Bars verteilt, aber in Coronazeiten sind diese neuen Räume eine Möglichkeit. Sie sind auch attraktiv für Menschen, die in Unruhe und Aggression ein Erlebnis suchen.

Diese „lose Identität“ der „Leute vor Ort“ hat weniger Normen und Regeln, aber sie kann sich zu Solidarisierungen und einem ad-hoc-Zusammenhalt entwickeln, wenn ein zweiter Faktor dazukommt. Und zwar die Polizei. Sie kam dort hin, machte wie in Stuttgart Personenkontrollen, war sichtbar und es gab kleine entzündliche Streits.

Aber warum eskalierte die Lage so?
Die Polizei wurde als „Fremdgruppe“ wahrgenommen, als Störfaktor im eigenen Raum. Dabei spielen mit Sicherheit auch negative Einstellungen zu den Sicherheitskräften eine Rolle. Einigen gilt die Polizei als Feindbild – und das wird dann zur Legitimation der Gewalt noch verstärkend herangezogen.

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Krawallnacht. Glasscherben auf dem Opernplatz von Frankfurt am Main.
Krawallnacht. Glasscherben auf dem Opernplatz von Frankfurt am Main.

© dpa

Weiß man etwas darüber, wie sich die Corona-Einschränkungen auf Jugendliche ausgewirkt haben?
Wir haben schon früh gesehen, dass jugendliche Gruppen sich treffen, weil sie sich brauchen. Jugendkultur braucht einen Raum, der unkontrolliert ist. Wir haben zudem eine starke Konzentration der Unterhaltung am Wochenende auf Clubs, und die fällt während der Pandemie weg.

Schon früh wurde ja die Ansammlung von jungen Menschen in Parks und anderen Nischen im öffentlichen Raum problematisiert. Denken Sie an die Schlauchbootdemo in Berlin. Wenn sich die Jugendlichen dann ihre eigenen Räume schaffen, werden Kontrollen in diesen Räumen als größere Einschränkung erlebt. Das allein wird jedoch als Erklärung nicht reichen.

Dazu kommt, dass es öffentliche Räume sind, wo sich junge Männer inszenieren, wo Gruppen hinkommen, die auch Spaß haben wollen, wo Jugendliche der Gefahr der Pandemie „trotzen“ und die Bedrohung ausschalten.

Welche Rolle spielt das Elternhaus?
Aus der Forschung wissen wir, dass Eltern, die ihre Kinder mit Gewalt und Aggression erziehen oder sie vernachlässigen, die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass die Kinder auch aggressiv sind. Kinder, die merken, dass Aggression und Gewalt Möglichkeiten sind, um Einfluss zu nehmen, haben höhere Wahrscheinlichkeiten.

Allerdings ist der Einfluss der Eltern ab einem bestimmten Alter auch sehr begrenzt. Wir haben auch das Problem zu verstehen, warum so viele zugeguckt, gefilmt und nichts getan haben, als klar war, dass hier Gewalt den Raum beherrscht. Neben der Erziehung spielen auch soziale Ungleichheiten, prekäre Lebensverhältnisse und andere Faktoren eine Rolle.

Andreas Zick ist Konfliktforscher.
Andreas Zick ist Konfliktforscher.

© Thomas Imo/Imago

Es heißt, die Täter in Frankfurt hätten größtenteils Migrationshintergrund. Sehen sie einen Zusammenhang zwischen diesem Aspekt und der Eskalation der Gewalt?
Ich würde gerne wissen, was wir eigentlich mit Migrationshintergrund meinen? Wann beginnt der Migrationshintergrund und wann endet er? Sie verweisen auf eventuelle kulturelle Prägungen. Das wäre eine These. Allerdings zeigt die kriminologische Forschung überhaupt keine eindeutigen Ergebnisse.

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Es kann sein, dass Menschen mit scheinbarem Migrationshintergrund schneller erwischt werden, dass sie sich eher aufheizen lassen von anderen, dass hinter dem Migrationshintergrund beengtere und instabilere Lebensverhältnisse liegen. Wir müssen unterschiedliche Thesen im Blick haben und sie an den Fakten klären.

Wir müssen unser Bild von Migrationshintergrund hinterfragen, um zu besseren Risikoeinschätzungen kommen. Es gibt Täter, Zuschauer, solche, die zu Taten verleiten und solche, die andere vorverurteilen, sodass sie sich genau nach dem Stereotyp verhalten. Hier braucht es dringend genauere und bessere Ursachenanalysen. Wer jetzt nur auf den Migrationsfaktor setzt, wird am Ende nicht viel für eine bessere Prävention beitragen können.

Fatima Abbas

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