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Eine Explosion im Gazastreifen nach einem Luftangriff Israels.

© dapd

Update

Gezielte Tötung des Hamas-Militärchefs: Israel startet Offensive im Gaza-Streifen

Israel hat die Luftangriffe gegen den Gaza-Streifen in der Nacht fortgesetzt, es gibt mittlerweile Tote auf palästinensischer und auf israelischer Seite. In der Nacht gab es eine Sondersitzung des UN-Sicherheitsrates. Die US-Botschafterin bei der UNO, Susan Rice, verteidigte das Verhalten Israels.

Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat sich noch in der Nacht zum Donnerstag mit der Krise im Gaza-Streifen befasst. Ägypten und weitere arabische Länder hatten die Sitzung beantragt. Der Sicherheitsrat ist das wichtigste Gremium der Vereinten Nationen und kann als einziges Sanktionen verhängen.

Die UN haben vor „möglicherweise katastrophalen Folgen“ gewarnt. Die Situation dürfe nicht unterschätzt werden, sagte der UN-Untergeneralsekretär für Politische Fragen, Jeffrey Feltman, am späten Mittwochabend (Ortszeit) in einer Sondersitzung des UN-Sicherheitsrats in New York. UN-Diplomaten berichten, dass große Einigkeit im Rat geherrscht habe und die Lage als höchst bedrohlich eingeschätzt wurde. Palästinenser und Israelis wurden zur Zurückhaltung aufgefordert. Beschlüsse standen nicht zur Debatte.

Die US-Botschafterin bei der UNO, Susan Rice, verteidigte das Verhalten Israels, mit Luftangriffen gegen die radikalislamische Hamas „und andere terroristische Organisationen“ im Gazastreifen vorzugehen. Es gebe „keine Rechtfertigung“ für Gewaltakte der Hamas gegenüber Israel und das Land habe wie jeder andere Staat auch das Recht, sich selbst zu verteidigen, sagte sie.

Israel hatte am Mittwoch die im Gazastreifen herrschende radikal-islamische Hamas frontal angegriffen. Die Luftwaffe tötete am Mittwoch zum Auftakt der Offensive „Säule der Verteidigung“ gezielt den Chef des militärischen Arms der Hamas, Ahmed al-Dschabari. Der ranghohe Kommandeur und ein weiteres Hamas-Mitglied starben, als ihr Auto von einer Luft-Boden-Rakete getroffen wurde.

Bisher wurden nach neuen palästinensischen Angaben insgesamt mindestens 13 Palästinenser getötet und rund hundert weitere verletzt. So starben nach Angaben von Rettungskräften am Donnerstagmorgen drei militante Palästinenser bei einem israelischen Angriff auf Ziele im südlichen Gazastreifen. Der Süden Israels wurde zudem wiederum laut Polizei nach der Tötung al-Dschaabaris von dutzenden Raketen getroffen.

Die israelische Militäroperation gegen militante Palästinenser im Gazastreifen kann nach Worten von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu im Bedarfsfall sogar noch ausgeweitet werden. Das israelische Militär erklärte am späten Mittwochabend, alle Optionen lägen auf dem Tisch. Die Streitkräfte teilten mit, Bodentruppen stünden auch für einen Einmarsch bereit, sollte der Befehl gegeben werden. Das israelische Sicherheitskabinett gab Verteidigungsminister Ehud Barak bei einer Dringlichkeitssitzung grünes Licht für die Mobilisierung von Reservisten. Dies solle geschehen, falls Bedarf bestehe, berichteten israelische Medien in der Nacht zum Donnerstag online.

Die Hamas und andere „Terrororganisationen“ hätten sich entschieden, ihre Angriffe auf die israelischen Bürger in den vergangenen Tagen zu intensivieren, fügte Netanjahu hinzu. Israel toleriere eine solche Situation nicht. Verteidigungsminister Ehud Barak sagte, Israel wolle keinen Krieg, aber „die Provokationen der Hamas in den vergangenen Wochen haben uns gezwungen, hart und entschlossen zu handeln“.

Nach Angaben der Armee bombardierte die Luftwaffe neben Waffendepots der Hamas und anderer militanter Gruppen im Gazastreifen auch gezielt vermutete Lagerstätten von weiterreichenden Raketen. Dabei soll es sich um aus dem Iran stammende Fajr-5-Raketen handeln. Sie können bis zu 75 Kilometer weit fliegen und damit auch den Großraum Tel Aviv erreichen.

Bei einem palästinensischen Raketenangriff sind am Donnerstag in Israel nach neuen Angeben mindestens drei Menschen getötet worden. Ein vierstöckiges Wohnhaus in dem Ort Kiriat Malachi habe einen Volltreffer erhalten, sagte der Sprecher der israelischen Polizei, Mickey Rosenfeld. Zunächst war von einem Toten und mehreren Verletzten berichtet worden. Weitere Verletzte mussten den Angaben zufolge unter Trümmern geborgen werden.

Die Arabische Liga bereitete unterdessen eine Dringlichkeitssitzung der arabischen Außenminister vor. Liga-Chef Nabil al-Arabi habe Kontakt zum libanesischen Außenminister Adnan Mansur aufgenommen, dessen Land derzeit den Liga-Vorsitz inne hat, um die Sitzung vorzubereiten, erklärte ein Sprecher der Staatengruppe. Der ägyptische Präsident Mohammed Mursi zog nach Angaben eines Sprechers den Botschafter seines Landes aus Israel ab. Zudem forderte er das Außenministerium auf, den israelischen Botschafter in Kairo einzubestellen.

UN-Generalsekretär Ban Ki Moon rief Israelis und Palästinenser dringend zu Zurückhaltung auf. Er forderte eine sofortige Deeskalation, sagte sein Sprecher in New York und verwies auf eine Erklärung vom Montag. Darin hatte Ban ein sofortiges Ende der palästinensischen Raketenangriffe verlangt und Israel zu höchstmöglicher Zurückhaltung bei Gegenmaßnahmen aufgerufen. Auch Deutschlands Außenminister Guido Westerwelle zeigte sich besorgt über die Zuspitzung des Nahost-Konflikts. „Es darf nicht zu einer neuen Spirale der Gewalt kommen“, sagte der FDP-Politiker in Berlin. „Wir verfolgen mit sehr großer Sorge diese grenzüberschreitenden Auseinandersetzungen.“ Westerwelle rief alle Seiten zu „größtmöglicher Zurückhaltung“ auf.

Israels Verteidigungsminister Ehud Barak nannte vier Ziele der Aktion: Stärkung der israelischen Abschreckung, Zerstörung der Raketen-Infrastruktur im Gazastreifen, Schwächung terroristischer Gruppen und Schutz der israelischen Bevölkerung vor künftigen Raketenangriffen. Auch die Opposition unterstützte das Vorgehen.Die USA bekundeten ihre Unterstützung. "Wir stehen zu unserem Partner Israel", sagte Pentagon-Sprecher Stephen Warren. Die Vereinigten Staaten würden die Entwicklungen aber sehr genau beobachten. Offenbar war die Offensive mit den Amerikanern abgesprochen. Präsident Barack Obamas Sicherheitsberater Tom Donilon hatte sich bereits am Montag mit seinem israelischen Amtskollegen Yaakov Amidror im Weißen Haus getroffen. Zu dieser Zeit hatte Israel bereits Überlegungen angestellt notfalls in den Gazastreifen einzumarschieren.

Die Essedin-al-Kassam-Brigaden erklärten, mit der Tötung al-Dschabaris habe Israel „das Tor zur Hölle geöffnet“. Der Hamas-Zweig werde auch weiterhin „den Weg des Widerstands“ verfolgen, kündigte die Gruppe an und drohte mit einem massiven Gegenschlag. Hamas-Sprecher Taher al-Nunu sagte, Israel trage „die Verantwortung für seine Verbrechen und für ihre schweren Konsequenzen“. Die internationale Gemeinschaft rief er auf, „das Massaker an unserer Bevölkerung zu beenden, die ein Recht hat, sich zu verteidigen“.

Ein Sprecher der israelischen Armee stellte die Bevölkerung auf eine „harte Zeit“ ein. Es sei in den kommenden Tagen mit Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen zu rechnen. Schulen und Universitäten in der grenznahen Stadt Ashkelon sollen geschlossen bleiben. Zuvor hatte ein Sprecher der Hamas angekündigt, Israel werde „teuer für den Angriff bezahlen“.

Angriff belastet auch das Verhältnis zwischen Israel und Ägypten

Der Angriff belastet auch das ohnehin angespannte Verhältnis von Israel und Ägypten. Die Muslimbruderschaft, deren politischer Arm die Mehrheit der Sitze im ägyptischen Parlament stellt, forderte Präsident Mohammed Mursi dazu auf, die Beziehungen zu Israel zu überdenken. Damit werden Bemühungen infrage gestellt, die Beziehungen der beiden Länder zu normalisieren. Ägypten ist neben Jordanien das einzige Land der Region, das einen Friedensvertrag mit Israel hat. In einer Stellungnahme verurteilte die Partei für Freiheit und Gerechtigkeit, die zu den Muslimbrüdern gehört, den israelischen Angriff. Die Offensive sei ein Verbrechen, das eine Antwort der arabischen Staaten und der internationalen Gemeinschaft erfordere."Das Massaker am palästinensischen Volk muss aufhören", hieß es.

Vor einem Krankenhaus in Gaza, in das die Leiche al-Dschabaris gebracht wurde, protestierten Anhänger der Hamas und ihres bewaffneten Arms, der Essedin-al-Kassam-Brigaden, und verlangten Rache. Vor dem Krankenhaus feuerten Männer Schüsse in die Luft ab. In den Moscheen wurde zu Gebeten für den getöteten Kommandeur aufgerufen. Die radikalislamische Hamas kontrolliert den Gazastreifen seit 2007.

Der israelische Inlandsgeheimdienst Schin Beth erklärte, man habe Al-Dschaabari wegen seiner “jahrzehntelangen terroristischen Aktivitäten“ getötet. Ziel des Einsatzes sei es, „die Kommando- und Kontrollkette der Hamas-Führung und ihrer terroristischen Infrastruktur ernsthaft zu beeinträchtigen“, erklärte Israels Militärsprecherin Avital Leibovitsch. Der Einsatz ziele auf bewaffnete Gruppen ab, nachdem der Süden Israels zuletzt Ziel zahlreicher Raketenangriffe gewesen sei.

Im Süden Israels gab es zugleich wegen neuer Raketenangriffe aus dem Gebiet am Mittelmeer wieder Luftalarm. Von weiteren Opfer wurde zunächst nichts bekannt.

Die neue Runde der Gewalt hatte am Samstag begonnen, als ein israelischer Jeep von einer Rakete aus dem Gazastreifen getroffen wurde. Dabei waren vier Soldaten zum Teil schwer verletzt worden. Bei israelischen Gegenschlägen starben sechs Palästinenser und mehr als 30 wurden verletzt. Zugleich wurden aus dem Gazastreifen mehr als 120 Raketen und Granaten Richtung Israel abgeschossen. Dabei gab es vier Verletzte.

Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu drohte angesichts der Gewalt schon am Wochenende mit einer härteren Gangart. „Die Welt muss verstehen, dass Israel nicht mit verschränkten Armen dasitzen wird, während man uns Schaden zufügt“, sagte er. „Wir sind darauf vorbereitet, die Reaktion zu verstärken.“ Vize-Ministerpräsident Silvan Schalom sagte nach Angaben des israelischen Rundfunks, notfalls müsse man die Armee zu einer neuen Bodenoffensive in den Gazastreifen schicken. Dies galt jedoch angesichts der bitteren Erfahrungen und hohen Verluste vor allem unter der palästinensischen Zivilbevölkerung bei der israelischen Offensive „Gegossenes Blei“ zur Jahreswende 2008/2009 als unwahrscheinlich.

Die Hamas war nach Einschätzung politischer Beobachter in Gaza-Stadt an einer Beruhigung der Lage interessiert. Noch am Montagabend hatte sie deshalb alle militanten Palästinensergruppen zu einer Dringlichkeitssitzung in Gaza-Stadt zusammengerufen. Dabei war beschlossen worden, die Raketenangriffe auf Israel einzustellen, wenn auch Israel von weiteren Attacken absehe. Obwohl Israel am Mittwoch zunächst keine Angriffe mehr geflogen hatte, schlugen wieder Raketen aus dem Gazastreifen in grenznahen Regionen ein.

Aber auch Israel ist nach Einschätzung des israelischen Journalisten und Gaza-Kenners Schlomi Eldar nicht wirklich daran gelegen, die Hamas durch noch extremere Gruppen zu ersetzen.

Israel verschärft Linie im Konflikt um Palästinas Anerkennung durch UN

Am Mittwoch verschärfte sich zudem Israels Linie im Konflikt um eine mögliche Anerkennung Palästinas durch die Vereinten Nationen. Zwei Wochen vor der Abstimmung über den Antrag droht Israel mit dramatischen Schritten - wie der Aufkündigung der Nahost-Verträge und der Annexion der Siedlungen. Israels Umweltminister Gilad Erdan sagte am Mittwoch dem israelischen Rundfunk: „Ich denke, Israel sollte erklären, dass es die Siedlungen in Judäa und Samaria (Westjordanland) annektiert.“ Dann könnten die Einwohner "endlich ein normales Leben führen".

Experten halten dies jedoch weitgehend für leere Drohungen und den verzweifelten Versuch, Palästinenserpräsident Mahmud Abbas in letzter Minute von seinem Vorhaben abzubringen. Letztlich würde Israel sich mit einer solchen Änderung des Status quo vor allem selbst schaden.

Warum reagiert Israel aber so allergisch auf den UN-Antrag von Abbas, obwohl es einem unabhängigen Palästinenserstaat schon selbst grundsätzlich zugestimmt hat? Ein Sprecher des israelischen Außenministeriums beschrieb den Antrag des Palästinenserpräsidenten, über den am 29. September abgestimmt werden soll, als „grundlegenden Verstoß“ gegen die israelisch-palästinensischen Friedensverträge. „Die Grundlage der Osloer Friedensverträge ist die Vereinbarung, dass die umstrittenen Fragen durch Verhandlungen gelöst werden“, erklärte Paul Hirschson am Mittwoch. Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu habe doch schon erklärt, „dass wir danach die ersten sein werden, die sie (die Palästinenser) anerkennen“.

Abbas wählt mit dem UN-Antrag die Flucht nach vorn. Die Versöhnung mit der rivalisierenden Hamas, die im Gazastreifen herrscht, ist gescheitert. Auch die Friedensgespräche mit Israel liegen seit mehr als zwei Jahren brach und die wirtschaftliche Situation im Westjordanland ist düster. Auch wenn sie weitgehend symbolische Bedeutung hat, wäre eine Anerkennung Palästinas als Nicht-Mitgliedstaat durch die Vereinten Nationen ein klarer Erfolg.

Der israelische Außenminister Avigdor Lieberman sagte am Mittwoch, Abbas wolle sich mit dem Schritt selbst politisch retten. Er habe „die Kontrolle über die palästinensische Straße verloren“. Der ultrarechte Politiker bezeichnete Abbas' UN-Initiative als „reinen politischen Terror“. Finanzminister Juval Steinitz will den Palästinensern nun wieder den Geldhahn zudrehen, Lieberman kündigt schon „weitreichende Folgen“ an.

Der palästinensische Chefunterhändler Saeb Erekat zeigte sich im Gespräch mit dem israelischen Armeesender unbeeindruckt von den Drohungen der israelischen Führung. Israel habe die Friedensverträge ohnehin schon vollständig ausgehöhlt. „Auch wenn Mutter Teresa an der Spitze der Palästinenserbehörde stünde, würde Lieberman zu ihrem Sturz aufrufen“, sagte er. (AFP, dpa, Reuters)

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