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Lautstarker Protest. Demonstranten fordern vor dem Nato-Hauptquartier in Brüssel die Abdankung des syrischen Staatschefs Baschar al Assad. Wer hingegen in Syrien auf die Straße geht, muss mit einer brutalen Reaktion der Sicherheitskräfte rechnen.

© REUTERS

Gift gegen Demonstranten: Syrien versinkt im Bürgerkrieg

Das Assad-Regime soll mit Pestiziden gegen Rebellen vorgehen. Wieso greifen die UN nicht ein?

Der britische Botschafter Simon Collis in Damaskus ließ in seinem Blog jetzt alle diplomatischen Rücksichten fallen: „Diesem Regime ist jedes Mittel recht, um sich an der Macht zu halten“, schrieb er. Seit sechs Monaten werden friedliche Demonstranten erschossen und massakriert, die Websites der Menschenrechtsorganisationen sind voll mit Amateurvideos von schrecklich zu Tode Gefolterten. Die Vereinten Nationen zählen bereits über 2700 Opfer, Tausende werden vermisst. Mehr als 60 000 wurden verhaftet. Und trotzdem kann sich der UN-Sicherheitsrat immer noch nicht zu einer Verurteilung dieser Gräueltaten an der Zivilbevölkerung durchringen.

Was passiert aktuell in Syrien?

Das Regime von Baschar al Assad kennt kein Erbarmen, nun rüsten auch seine Gegner auf. Sie nennen sich „Freie Armee Syriens“. Auf ihrer Facebook-Seite brüsten sie sich mit einer Truppenstärke von 10 000 Mann, unterteilt in zwölf Brigaden. Allein die „Khaled bin Walid“-Brigade in Homs will nach Angaben der „Washington Post“ über 2000 desertierte Soldaten in ihren Reihen haben. Andere Einheiten operieren im ostsyrischen Deir ez Zor oder dem zentralsyrischen Städtchen Rastam, wo sich rund 1000 Deserteure seit Tagen erbitterte Gefechte mit der Armee liefern. Zur Vergeltung ließ das Regime nach Angaben des Bürgernetzwerkes Avaaz die Bewohner von Rastam jetzt aus der Luft mit Pestiziden besprühen – ein Chemiekrieg gegen das eigene Volk.

Bewaffnet sind die Assad-Gegner und Deserteure mit Kalaschnikows, Panzerfäusten und Luftabwehrgeschützen, die sie bei Guerilla-Überfällen erbeutet oder über die porösen Grenzen aus dem Libanon und Irak ins Land geschmuggelt haben. Die Munition stammt meist aus Armeebeständen, abgezweigt von heimlichen Sympathisanten in den Kasernen. „Das ist der Beginn einer bewaffneten Rebellion“, zitiert die „Washington Post“ den Anführer der Übergelaufenen, Luftwaffengeneral Riad Assad, der sich im Juli in die Türkei absetzte. „Dieses Regime kann nur gestürzt werden durch Gewalt und Blutvergießen.“

Wie steht die Protestbewegung zum Einsatz von Gewalt?

Die zivile Führung der Aufständischen stemmt sich dieser Entwicklung vehement entgegen. „Eine Militarisierung wird die moralische Überlegenheit aushöhlen, die die Revolution von Anfang an charakterisiert hat“, erklärte ein Sprecher des „Lokalen Koordinationskomitees“, dem wichtigsten Netzwerk der Opposition. Unter den Protestierenden aber mehren sich die skeptischen Stimmen. Man habe jetzt sechs Monate lang friedlich demonstriert und werde damit nichts erreichen – selbst in zehn Jahren nicht, meinte ein syrischer Aktivist.

Syrien ist nicht Libyen. Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum die internationale Gemeinschaft zögert.

Was hat die internationale Gemeinschaft bisher getan?

Nur die USA und die EU haben bislang Sanktionen gegen Syrien verhängt. Mehrere Dutzend Führungsfiguren des Regimes, einschließlich Präsident Assad, dürfen nicht mehr einreisen. Zuletzt beschloss Brüssel, kein syrisches Öl mehr zu kaufen. Dieser Boykott allerdings hat auf Druck Italiens eine Karenzzeit bis Mitte November, genug Spielraum für Damaskus, sich auf dem Weltmarkt Ersatzkunden zu suchen.

Warum reagieren die UN so zögerlich?

Seit Monaten schon versucht der UN-Sicherheitsrat, eine Resolution gegen Syrien zu verabschieden – vergeblich. Russland und China blockieren alle Entwürfe, in denen das Wort Sanktionen überhaupt nur vorkommt. Unterstützt werden sie von Südafrika, Brasilien und Indien, die ebenfalls eine härtere Linie gegen das Regime von Baschar al Assad ablehnen. Ein Militäreinsatz wie in Libyen jedoch will selbst der Westen im Falle Syriens nicht einmal diskutieren, geschweige denn zur Abstimmung stellen. Die syrische Opposition sollte von den Vereinigten Staaten nicht erwarten, dass ihr Land genauso wie Libyen behandelt werde, erklärte der US-Botschafter in Damaskus, Robert Ford. „Syrische Probleme brauchen syrische Lösungen“, sagte der Diplomat und empfahl den Protestierenden, Teile des Regimes für ihre Ziele zu gewinnen.

UN-Generalsekretär Ban Ki Moon dagegen forderte kürzlich erstmals in scharfem Ton eine „kohärente“ internationale Aktion, um das Morden an der Bevölkerung zu stoppen. „Genug ist genug“, erklärte der Chefdiplomat der Vereinten Nationen. Er rief die Staatengemeinschaft auf, nun „mit einer Stimme zu sprechen“. Eine Schlüsselrolle könnte dem türkischen Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan zufallen, der bereits seit Monaten Damaskus mit scharfer Kritik überzieht und die Treffen der Opposition in Istanbul ermöglicht. Die Türkei könnte sich entschließen, als Mitglied der Nato und damit mit Rückendeckung des westlichen Bündnisses entlang ihrer Grenze zu Syrien eine Sicherheitszone für die Zivilbevölkerung einzurichten.

Was unterscheidet die Lage in Syrien von der in Libyen? Lesen Sie weiter auf Seite 3.

Auch wenn kürzlich die syrischen Aufständischen nach libyschem Vorbild erstmals einen Syrischen Nationalrat (SNC) gebildet haben, beide Länder haben wenig gemeinsam. Politisch ist Syrien für den Nahen Osten ein neuralgischer Ort. Umringt von fünf Nachbarn übersteigt die strategische Bedeutung des Landes bei Weitem seine wirtschaftliche Kraft und sein demografisches Gewicht. Gemessen daran ist das Post-Gaddafi-Libyen ein Spezialfall am Rande der arabischen Region, dessen Bevölkerung zudem religiös und ethnisch eher homogen ist. Ein Umsturz in Syrien wird die arabische Welt viel stärker erschüttern, das über Jahrzehnte gewebte regionale Netz an Machtbeziehungen zerstören. Das Nachsehen haben könnten Iran und Hisbollah, aber ebenso auch Israel, Türkei und Libanon, sollte das Post-Assad-Syrien wie der Post-Saddam-Irak den Weg in religiöse Gewalt und Chaos nehmen. Diese Gefahren sehen vor allem die religiösen Minderheiten, die sich von der alawitischen Herrscherclique bisher geschützt fühlten. Egal ob die syrischen Christen nach Ägypten oder Irak schauen, sie fürchten, dass ihre Zukunft in einem sunnitisch dominierten Syrien schwieriger werden könnte. Gleiches gilt auch für die Schiiten, deren alawitischer Ableger als Haussekte des Assad-Clans jahrzehntelang überproportional mächtig war. Die sunnitische Mehrheit könnte eines Tages zur blutigen Hetzjagd blasen. Erste Überfälle auf alawitische Dörfer und Rachemorde an alawitischen Familien gab es bereits.

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