zum Hauptinhalt
EU-Ratschef Tusk (links) und der geschäftsführende spanische Premier Rajoy wenige Tage vor dem Gipfel von Bratislava.

© dpa

Gipfel in Bratislava: Europa auf der Couch

Nach dem Brexit-Votum hat die EU beim Gipfel in Bratislava Handlungsfähigkeit demonstriert. Doch der Konsens ist brüchig. Er hält nur so lange, wie die Flüchtlingszahlen niedrig bleiben. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Albrecht Meier

Wäre die EU eine Großfamilie, dann hätte sie eine Familientherapie jetzt dringend nötig. Der Onkel aus Großbritannien, der mit der Sippe noch nie viel anfangen konnte, will jetzt seinen Namen ändern lassen. Und die Geschwister aus dem Osten, die erst spät zur Familie stießen, rebellieren gegen die Eltern, die leider keine feste Adresse haben – immer irgendwo unterwegs zwischen Berlin, Paris und Brüssel.

Ach, Europa. Nach dem Brexit-Votum haben die 27 verbliebenen EU-Staaten nun ohne die Briten getagt, zum zweiten Mal schon. Bei dem Treffen von Bratislava hat sich Europa gewissermaßen auf die Couch begeben. Dabei wollten Merkel und Co. herausfinden, woher es kommt, dass die EU vielerorts in den Augen der Bevölkerung nicht gerade als Sympathieträger gilt. Die Ablehnung der EU mag zwar in Großbritannien besonders radikal sein, aber sie ist keineswegs nur auf die Insel beschränkt. Deshalb war es nur folgerichtig, dass EU-Ratschef Donald Tusk alle Beteiligten zu einer schonungslosen Offenheit aufgefordert hat.

EU-Ratschef Tusk weiß am besten, was die Osteuropäer umtreibt

Tusk weiß als ehemaliger polnischer Ministerpräsident selbst am besten, was die osteuropäischen Mitgliedstaaten umtreibt: der ungewohnte Verlust der Souveränität zugunsten der Brüsseler Ebene. Im Westen Europas wurde der Souveränitätsverzicht hingegen über Jahrzehnte eingeübt, aber auch hier wird er inzwischen wieder infrage gestellt. Die Politik von Frankreichs Front-National-Vorsitzender Marine Le Pen ist das beste Beispiel dafür, dass der EU insgesamt eines Tages komplett der Gemeinschaftssinn abhanden kommen könnte. Dies würde, um im Bild zu bleiben, die Auflösung der europäischen Familie bedeuten.

Endlose Debatten über die "Finalität" Europas bringen nichts

Nun ist aber eine dauernde Selbstzerfleischung für die Europäer genauso wenig eine Lösung wie eine letztlich frustrierende Sinnsuche, die um die früher einmal viel beschworene „Finalität“ der Gemeinschaft kreist. Die akademische Debatte, ob die EU nun „mehr“ oder „weniger“ Europa – Letzteres wünschen sich beispielsweise die osteuropäischen Visegrad-Staaten – brauche, ist in Bratislava zum Glück nicht bis zu Ende ausdiskutiert worden. Stattdessen haben sich die 27 EU-Staaten auf einen pragmatischen Fahrplan des Nützlichen und Machbaren verständigt, der die Zusammenarbeit der Gemeinschaft in den kommenden Monaten prägen soll.

Dass dabei Themen wie der Schutz der EU-Außengrenzen und weitere Schritte auf dem Feld der gemeinsamen europäischen Verteidigungspolitik im Vordergrund stehen, ist kein Zufall. Gerade der EU-Grenzschutz bietet den Osteuropäern die Möglichkeit zur aktiven Teilnahme – und die Chance, ihre Defizite bei der Aufnahme von Flüchtlingen vergessen zu machen. Zudem hat das Brexit-Votum das Feld für eine verstärkte Zusammenarbeit „williger“ EU-Staaten in der Verteidigungspolitik geöffnet. Bisher hatte sich Berlin hier mit Rücksicht auf die Briten mit Initiativen zurückgehalten. Bis zum kommenden März, wenn die EU ihren 60. Geburtstag feiert, soll der „Bratislava-Prozess“ abgeschlossen sein – und damit auch die Therapiesitzung der EU.

Die Stimmung unter den EU-27 ist passabel - aber wie lange noch?

So weit, so gut. Allerdings hält sich die Wirklichkeit selten an papierene Prozesse. Das Treffen in Bratislava verlief auch deshalb vergleichsweise einvernehmlich, weil die Zahl der Flüchtlinge inzwischen wieder deutlich zurückgegangen ist. Doch falls sich dies wieder ändern sollte, dann dürfte sich der Konflikt mit den aufnahmeunwilligen Osteuropäern weiter zuspitzen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false