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Grundlagenforschung ist oft unspektakulär, aber unentbehrlich. Benutzte Pipetten in einem Behälter im Max-Planck-Institut für Infektionsbiologie.

© picture alliance / Wolfgang Kumm

Global Challenges: Nährboden für Höhenflüge

Die naturwissenschaftliche Grundlagenforschung in Europa muss gestärkt werden. Ein Gastbeitrag.

Von Ann-Kristin Achleitner

Global Challenges ist eine Marke der DvH Medien. Das neue Institut möchte die Diskussion geopolitischer Themen durch Veröffentlichungen anerkannter Experten vorantreiben. Heute ein Beitrag von Ann-Kristin Achleitner, Distinguished Affiliated Professor an der Technischen Universität München. Weitere Autoren und Autorinnen sind Sigmar Gabriel, Günther Oettinger, Prof. Jörg Rocholl PhD, Prof. Dr. Bert Rürup, Jürgen Trittin und Prof. Dr. Renate Schubert.

Wir schreiben das Jahr 1930: In den USA herrscht die „Große Depression“, Millionen von Amerikanern stürzen in Arbeitslosigkeit und Armut. Im selben Jahr eröffnet in Princeton das Institute for Advanced Study (IAS) – ein erstklassiges Forschungsinstitut, das nur einem Zweck folgt: keinen Zweck zu verfolgen.

Vor dem Hintergrund der großen gesellschaftlichen Herausforderungen kontrastiert dieser „Elfenbeinturm“ besonders stark. Sollte die Forschung nicht den Menschen dienen? IAS-Gründungsdirektor Abraham Flexner sah darin keinen Widerspruch. Er war von der „Nützlichkeit nutzlosen Wissens“ überzeugt: Was heute zweckfreie Grundlagenforschung ist, kann morgen schon die Welt verändern.

Wie recht er hat, zeigt das Beispiel des Physiknobelpreisträgers Albert Einstein, der von 1933 bis zu seinem Tod 1955 am IAS blieb: Auf seinen Erkenntnissen fußen unter anderem die satellitengestützte Navigation (GPS), die Lasertechnologie und die Photovoltaik.

Heute steht die Gesellschaft wieder vor großen Herausforderungen: Pandemie, Klimawandel, demographische Wende. Die Erwartungshaltung gegenüber der Wissenschaft ist hoch. Und auch in den geopolitischen Auseinandersetzungen spielen Grundlagenforschung und neue Schlüsseltechnologien eine zunehmend wichtige Rolle.

Wetterleuchten am wirtschaftlichen Horizont

Die Konflikte zwischen den USA und China um die Versorgung mit Computerchips oder den Netzwerkausrüster Huawei sind nur das Wetterleuchten. Zumal die meisten Zukunftstechnologien auch ein hohes militärisches Nutzungspotenzial haben. Die Nato etwa schätzt insbesondere die Entwicklungen rund um Künstliche Intelligenz, Quanten, Bio- und Weltraumtechnologien als disruptiv ein.

US-Präsident Joe Biden hat angekündigt, die Ausgaben für Grundlagenforschung im kommenden Jahr um gut elf Prozent zu steigern. Dieser Schub geht einher mit der Stärkung angewandter Forschung und soll eine Trendwende bringen: Über mehr als zwei Dekaden waren Amerikas öffentliche Investitionen in Forschung und Entwicklung gemessen am Bruttoinlandsprodukt gesunken.

Auch Pekings Ambitionen sind unverkennbar. Der aktuelle Nature Index weist China nach den USA als weltweit führende naturwissenschaftliche Forschungsnation aus. In der Chemie nimmt China sogar die Spitzenposition ein. Und im Vergleich der stärksten Forschungseinrichtungen belegt die Chinese Academy of Sciences Platz eins – vor der Harvard University und der Max-Planck-Gesellschaft. Pekings neuer Fünf-Jahres-Plan lässt keinen Zweifel daran, dass Partei und Regierung weiterhin alles daransetzen, China zur dominierenden Wissenschafts- und Technologiemacht aufzubauen, wobei der Fokus sich in Richtung Grundlagenforschung verschiebt. Ihr Anteil an den Gesamtausgaben für Forschung und Entwicklung soll steigen.

Wie frei Forschung in einem autoritären System sein kann, mag dahingestellt bleiben. Für Europa und Deutschland aber stellt sich die Frage: Wie positionieren wir uns im Wettbewerb mit China und den USA? In Deutschland ist man zwar zu Recht stolz auf die traditionell starke Grundlagenforschung.

Gleichzeitig wächst die Kritik, dass aus der Forschung zu wenige praktische Anwendungen und Innovationen hervorgehen. Angesichts dieser „Verwertungsschwäche“ verschieben sich die wissenschaftspolitische Debatte und der Fokus in Richtung angewandte Forschung und missionsorientierte Förderung. Das aber birgt zwei Gefahren: Erstens droht das Pendel zu weit in Richtung vermeintlich „nützlicherer“ Forschung auszuschlagen und Grundlagenforschung nur noch als second best betrachtet zu werden.

Ausruhen auf den Lorbeeren

Grundlagenforschung war und ist jedoch der Nährboden für angewandte Forschung und die Gründung von Deep-Tech-Unternehmen. Zugleich besteht gerade in Deutschland die Gefahr, dass wir uns auf den Lorbeeren der Vergangenheit ausruhen. Unsere starke Position in der Grundlagenforschung lässt sich angesichts der weltweiten Wissensexplosion und des harten internationalen Wettbewerbs aber immer schwerer verteidigen.

Die Grundlagenforschung auf unserem Kontinent zu stärken, heißt vor allem ihre Freiheit zu stärken. Forscherinnen und Forscher müssen ihrer Neugier folgen können – frei von direkten Nützlichkeitsüberlegungen. Wir müssen der Versuchung widerstehen, von ihr einen zeitlich unmittelbar greifbaren Return on Investment einzufordern.

Dazu gehört auch, auf ein steuerungs- und kennzahlenfixiertes Management verzichten und die Forschung von Bürokratie zu befreien: weniger Vorgaben, weniger Routinen, weniger Ausschüsse, weniger Hierarchien. Die meisten Forscherinnen und Forscher hingegen verbringen einen bedeutenden Teil ihrer Zeit damit, Drittmittelanträge zu schreiben, an Gremiensitzungen teilzunehmen und sich mit administrativen Vorgängen zu befassen. Universitäten und Forschungseinrichtungen müssen in dieser Hinsicht attraktivere Bedingungen bieten. Sonst wird sich der Brain Drain in die Privatwirtschaft weiter verschärfen.

Die amerikanischen IT-Konzerne werben bereits massiv junge Top-Talente aus europäischen Mathematik- und Informatik-Fakultäten ab. Gleichzeitig investieren sie große Summen in die Grundlagen der Künstlichen Intelligenz und des Quantencomputings. Eine weitgehende Privatisierung der Grundlagenforschung kann jedoch ihre Freiheit konterkarieren und so die Chance auf bedeutende Durchbrüche zum Wohl der Gesellschaft mindern.

Existenzieller Luxus

Auch in Zukunft wird es Grundlagenforschung sein, die technische Durchbrüche zur Bewältigung der Global Challenges erst ermöglicht. In der Coronakrise hatten wir das Glück, die über 25-jährige mRNA-Forschung zur Hand zu haben, auf der die Impfstoffentwicklung unmittelbar aufsetzte. Schon dieses Beispiel zeigt, welch entscheidenden Beitrag Grundlagenforschung zur Lösung zukünftiger Probleme leisten kann, deren Existenz und Ausmaß wir heute noch gar nicht ermessen.

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Wie theoretische Erkenntnisse den Weg in die praktische Anwendung finden, lässt sich nur schwer planen. Häufig sind es auch gar nicht die Forscherinnen und Forscher, die ihre Arbeit in bahnbrechende Innovationen verwandeln, sondern Erfinderinnen und Tüftler, die das neue Wissen kreativ kombinieren und verwerten. Es ist kein Zufall, dass viele der heute erfolgreichsten Technologiekonzerne im Umfeld der exzellenten Forschungscluster an der amerikanischen West- und Ostküste entstanden sind.

Deutschland und Europa müssen die Grundlagenforschung stärken und dürfen das Pendel nicht zu stark in Richtung angewandte Forschung ausschlagen lassen – nicht nur aus geopolitischen Gründen. Grundlagenforschung leistet einen wichtigen Dienst an der Gesellschaft. IAS-Gründer Abraham Flexner fand dafür jedenfalls grosse Anerkennung. Die New York Times würdigte ihn 1959 in einem Nachruf mit den Worten: „Kein Amerikaner seiner Zeit hat mehr für das Wohl des Landes getan - und für das Wohl der gesamten Menschheit.“

Ann-Kristin Achleitner

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