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Gorbatschow wird 80: Wer zu spät kommt

Michail Gorbatschow wollte die Sowjetunion reformieren und trug damit zu ihrem Ende bei – am heutigen Mittwoch wird der frühere Staats- und Parteichef achtzig Jahre alt.

Mit leicht hängenden Schultern steht ein alter Mann vor einem in kaltem Blau ausgeleuchteten Aquarium. Psychologen haben festgestellt, dass Fische und Korallen beruhigend wirken. Doch Michail Gorbatschow, der an diesem Mittwoch achtzig Jahre alt wird, ist nicht zu bremsen. „Ich schäme mich für sie“, sagt er. Gemeint sind seine Nachfolger: Wladimir Putin und Dmitri Medwedew, denen er ausufernde Korruption und Übermacht der Geheimdienste und einen Politikstil vorwirft, bei dem persönliche Ergebenheit vor Kompetenz rangiert. Darum, rügt Gorbatschow, seien Russlands demokratische Institutionen ineffektiv und würden die Probleme des Landes zu langsam lösen. Der einzige Ausweg sei die Rückkehr zu freien Wahlen mit realen Alternativen wie 1990 in der Götterdämmerung der Perestroika. Seiner Perestroika.

Man kann förmlich sehen, wie der Mann sich aufpumpt, um einer Journalistin in die Parade zu fahren, die zu einer kritischen Nachfrage ansetzt. Er duzt sie sogar, obwohl die Frau weit über 50 ist. Nicht einmal Putin, den Gorbatschow zuvor auch wegen gelegentlicher linguistischer Exkurse in die Gosse kritisierte, wären derartige Formfehler passiert.

Dabei konnte Gorbatschow einer Demokratie mit Einschränkungen wie der russischen durchaus noch Charme abgewinnen, als Bürgerrechtler bereits vor einer Teilrestauration der Sowjetunion warnten, die 1991 ihr Leben aushauchte. Putin nannte den Zusammenbruch eine der größten Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Gorbatschow muss Ähnliches empfunden haben. Schließlich musste er Kremlschlüssel und Atomkoffer ausgerechnet seinem Intimfeind übergeben: Boris Jelzin. Und mit Versuchen zu einem politischen Comeback im postkommunistischen Russland scheiterte er: Bei den Präsidentenwahlen 2000 bekam er weniger als ein Prozent aller Stimmen, bei der Gründung einer sozialdemokratischen Partei verfehlte er die Zulassungskriterien. Ehrgeiz und Gestaltungswillen muss Gorbatschow daher in einer faktisch einflusslosen politischen Stiftung austoben.

Im Westen dagegen zählt der Gorbi- Fanclub nach wie vor Millionen. Hersteller von Luxusgütern verpflichten ihn gelegentlich für Werbespots. Zu Hause kommt das nicht gut an. Für die massiven sozialen Probleme, mit denen Russland nach wie vor zu kämpfen hat, macht Iwan Normalverbraucher vor allem Gorbatschow verantwortlich.

Denn geplant war zunächst keineswegs ein Systemwechsel. Das System sollte lediglich reformiert werden. Doch der Umbau lief den Reformern bald aus dem Ruder.

Russland in der Perestroika-Zeit: Mit wasserfestem Kopierstift malen sich die Moskowiterinnen abends um zehn, wenn die Lebensmittelgeschäfte schließen, Nummern auf die Handflächen, um am nächsten Morgen ihren Platz in der Schlange verteidigen zu können, Staatliche Fleischerläden sind leer. Die Kooperativen verkaufen lieber an Bauernmärkte, wo der Preis nur durch Angebot und Nachfrage geregelt wird. In privaten Läden gibt es alles, was der Homo sovieticus nur aus geschmuggelten West-Illustrierten kannte. Neue unabhängige Medien dürfen die Wahrheit über den Krieg in Afghanistan verbreiten, in dem 14 000 Sowjetsoldaten getötet werden.

Gleich daneben springen den Leser Fotos von Raissa Gorbatschowa an, die – für sowjetisches Politikverständnis ein Tabubruch – Ehemann Michail auf allen Auslandsreisen begleitet. Mit goldenen Cartier-Ohrringen und gut geföhnt im Fond von Luxuslimousinen. Frauen, die in der überfüllten Metro unterwegs sind, weil es am anderen Ende von Moskau mit Sägemehl vermischte Wurst geben soll, verfluchen die Demokratie, Gorbatschow und Raissa.

Als Raissa 1999 an Blutkrebs stirbt, ist ihr Sarg dennoch voller Blumen. Vor allem Russlands Frauen stehen stundenlang Schlange, um sich von ihr zu verabschieden. Die verklausulierte Liebeserklärung an Raissa ist zugleich eine heimliche kollektive Abbitte an Gorbatschow. Zutiefst gedemütigt durch Jelzins verkorkste Privatisierung, durch die Hyperinflation und eine Außenpolitik, die Russland zu einer Art „Obervolta mit Atomraketen“ macht, wie Altkanzler Helmut Schmidt scharfzüngig formuliert, bringt Russland seinem gescheiterten und vom Schicksal geschlagenen Hoffnungsträger jene Sympathien entgegen, um die er im Zenit seiner Macht vergeblich buhlte.

In politisches Kapital ummünzen kann er den Bonus nicht. Russland liebt seine Märtyrer, vertraut ihnen aber nie die Macht an. Dafür macht ein Mehrteiler, im damals weitgehend unzensierten Staatsfernsehen landesweit Quote. Gorbatschow, der sonst von sich selbst in der dritten Person redet, herablassend und mit Anzeichen von Altersstarrsinn, entwaffnet durch Ehrlichkeit und Dünnhäutigkeit. In einem Weizenfeld, das sich bis zum Horizont dehnt, wo sich die Häuser eines Kosakendorfes ducken – Priwolnoje in der südrussischen Region Stawropol, wo Gorbatschow am 2. März 1931 zur Welt kam –, lässt er mit feuchten Augen sein Leben Revue passieren. Vom Studium der Rechtswissenschaft, das er 1955 in Moskau abschließt, über die Wahl zum KP-Generalsekretär 1985 bis hin zur Strickjackenkonferenz im Kaukasus, wo 1990 die Alliierten, Bundesrepublik und DDR den Feinschliff der deutschen Einheit besorgen.

Gorbatschow hat sich in schlaflosen Nächten dazu durchgerungen, den ersten Sicherheitskordon – den Ostblock – aufzugeben um den zweiten halten zu können: die Unionsrepubliken. Mit dem Entwurf eines neuen Unionsvertrages, der aus der Sowjetunion eine Konföderation machen sollte, versucht er Anfang 1991 das Steuer herumzureißen. Drei Tage vor der Abstimmung putschen Altstalinisten und internieren die Gorbatschows in ihrem Urlaubsdomizil auf der Krim. Welchen Part Gorbi dabei spielte, ist unklar.

Als Gorbatschow drei Tage später nach Moskau zurückkehrt, ist er schon ein König ohne Land. Jelzin, im Juni zum Präsidenten Russlands gewählt, hat beim Putsch nicht das Leben riskiert, um die Macht wieder an Strukturen und Politiker abzugeben, deren Zeit aus seiner Sicht vorbei ist.

Gorbatschow hat es womöglich schon bei der makabren Jubelfeier zum 40. Jahrestag der DDR geahnt. „Wer zu spät kommt“, sagt er beim Abschied zu Erich Honecker, „den bestraft das Leben.“ Die Dolmetscher rätseln bis heute, wen der Russe dabei im Visier hatte: seinen Gastgeber oder sich selbst.

Zu Gorbatschows 80. Geburtstag läuft im Kennedy-Museum am Pariser Platz in Berlin eine Ausstellung. Mehr dazu hier.

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