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Gorch Fock: Der mysteriöse Tod einer Kadettin

Jenny Böken starb 2008 bei einer Ausbildungsfahrt der Gorch Fock. Ein Unfall, lautete das Untersuchungsergebnis. Doch bis heute sind viele Fragen offen. Deshalb wird jetzt ist ein neues Verfahren beantragt.

Was genau passierte in der Nacht vom 3. auf den 4. September 2008 kurz vor Mitternacht an Bord des Segelschulschiffs Gorch Fock auf der Ausbildungsfahrt in der Nordsee? Für die Staatsanwaltschaft in Kiel ist der Tod der über Bord gegangenen Kadettin Jenny Böken aus Nordrhein-Westfalen ein Unfall gewesen. Doch für diese Einschätzung sind noch zu viele Fragen offen. Das meinen auch die beiden Obleute des Verteidigungsausschusses Omid Nouripour (Grüne) und Paul Schäfer (Linke).

Weil er zahlreiche Ungereimtheiten sieht, hat jetzt Rainer Dietz, der Anwalt der Familie Böken, die Wiederaufnahme des im Januar 2009 abgeschlossenen Verfahrens beantragt. Dietz möchte geklärt haben, ob der Grund schlampige Ermittlungen waren oder ein handfester Skandal in der Bundeswehr dahintersteckt. Eine Sprecherin der Kieler Staatsanwaltschaft wollte vor einer Entscheidung über die etwaige Wiederaufnahme von Ermittlungen nicht Stellung nehmen.

Jenny Bökens Mutter Marlis hegt weiterhin den Verdacht, dass ihre damals 18-jährige Tochter von einem Marinekameraden sexuell belästigt wurde und nach einer ärztlichen Untersuchung womöglich ihren Peiniger anzeigen wollte. Sie stützt sich auf eine E-Mail der Offiziersanwärterin einen Tag vor ihrem Tod. Darin klagte sie über Unwohlsein und kündigte an, sich beim nächsten Landgang am Wochenende in die Krankenhaus-Notaufnahme zu begeben.

Ungeklärt ist auch die Rolle einer Truppenärztin und deren Tochter. In der Personalakte befand sich ein Vermerk über Jenny Bökens Schlafstörungen, der in der Krankenakte dann nicht mehr auftauchte. Die Ärztin vom Bundeswehr-Personalamt in Köln attestierte der Kadettin schließlich die Diensttauglichkeit für die Offiziersausbildung auf der „Gorch Fock“. Ausgerechnet die Tochter der Ärztin war in der Todesnacht zusammen mit Jenny Böken für den Wachdienst an Deck eingeteilt, als deren unmittelbare Wachablösung. Hat sie etwas gesehen oder gehört? Als Zeugin ist sie jedenfalls bisher genau wie auch andere der damals 220-köpfigen Besatzung noch gar nicht gehört worden.

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Fraglich bleibt deshalb auch, warum die Ärztin ihre Tochter im nächsten Anlegehafen Wilhelmshaven am 4. September direkt nach dem Vorfall 15 Kilometer vor Norderney auf hoher See von Bord holte und auch anderen Besatzungsmitgliedern Sonderurlaub gewährt wurde. Eine der Aussagen, die die von der Staatsanwaltschaft vernommenen Besatzungsmitglieder machten, weicht in der Frage, welches das nachweislich zeitlich letzte Lebenszeichen Jenny Bökens war, bis der Notruf „Mann über Bord“ erfolgte, auffallend von den andern ab. Die Ermittler haben aber offenbar nicht zwischen den widersprechenden Angaben abgewogen.

Merkwürdig findet Anwalt Dietz es auch, dass Jenny Böken bei sieben Windstärken angeblich nach ihrem Sturz auf dem Mitteldeck gegen den Wind eine Schräge hinauf über die Reling geschleudert worden sein soll.

Als dann der Leichnam elf Tage später von Fischern aus dem Wasser gezogen wurde und eine rechtsmedizinische Untersuchung erfolgte, fand sich laut Obduktionsbericht kein Wasser in den Lungen der jungen Frau, was jedoch zwingend notwendig gewesen wäre, um von Tod durch Ertrinken zu sprechen, wie es der Ermittlungsbericht der Staatsanwaltschaft tut. Damit bleibt die These, dass Jenny Böken bereits im leblosen Zustand über Bord gegangen ist. Ihre Mutter fühlt sich dadurch bestätigt, dass ihre Tochter durch ein Verbrechen zu Tode gekommen ist. Sollte die zuständige Staatsanwaltschaft in Kiel eine Wiederaufnahme der Ermittlungen ablehnen, erwägt Anwalt Dietz mit einem Klageerzwingungsverfahren eine gerichtliche Überprüfung.

Zwei Jahre nach dem Tod von Jenny Böken war im November 2010 eine weitere junge Offiziersanwärterin auf der „Gorch Fock“ aus der Takelage gestürzt und zu Tode gekommen. Der Fall hatte unter anderem für die Absetzung des Kapitäns und eine Neuordnung der Ausbildung auf dem Schulschiff der Marine gesorgt. Zur Zeit werden keine Offiziersanwärter auf dem Dreimaster ausgebildet.

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