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Grenz-Blockade: Das Riesengeschäft von Rafah

Ob Diesel oder Esel: Am Schmuggel in den Gazastreifen verdienen viele. Die UN fordern ein Ende der Blockade.

Zwei Stunden schon steht der orangefarbene Volvo-Tankwagen hinter den Sandhügeln. Generatoren rattern, eine Pumpe brummt, zwischen Blechverschlägen und flatternden Plastikplanen ist die graue Grenzmauer mit Ägypten zu sehen. Keine 200 Meter von ihr entfernt befindet sich Gazas Großtankstelle. Faustdicke schwarze Polyethylenrohre kommen aus der Erde. Wenn der Diesel aus Ägypten durch das Zählwerk gelaufen ist, verschwindet er in dem Bauch des betagten Vierachsers. 7000 Liter sind bereits durch, in Sichtweite der Messuhr liegen zwei junge Helfer in abgerissener Kleidung auf Strohmatten, die rotierenden Ziffern fest im Auge.

Nebenan bespricht sich einer der Schmuggelchefs mit seiner 15-köpfigen Mannschaft. Jung, dünn, gelenkig, das sind sie alle hier, einige tragen Kappen und Sonnenbrillen. Jeder seiner Helfer verdient umgerechnet 20 Euro am Tag, einen Meter Tunnel graben wird mit acht Euro entlohnt. „Wir machen alles auf Bestellung – gestern Holz, heute Süßigkeiten und zwischendurch Zement“, sagen sie. 27 Meter geht ihr sorgfältig gemauerter Rundschacht senkrecht in die Tiefe. Alles wird von drüben aus Ägypten durchgezogen, auf blauen halbierten Plastikfässern, die als Schlitten dienen.

„Wir haben jetzt in Rafah einen kompletten Grenzübergang – nur unter der Erde“, sagt Issa al Nashar, Bürgermeister der Stadt und Mitbegründer der Hamas. Inzwischen gibt es noch mehr Tunnel als vor dem Krieg, jeder Abschnitt des zwölf Kilometer langen Grenzsaums ist vielfach durchlöchert. Immer wieder stürzen Röhren ein und ersticken junge Leute unter der Erde. Manche Stollen sind bis zu zwei Meter hoch, sogar Kühe, Esel und Pferde kann man hier durchtreiben. Verwandte nutzen die unterirdische Alternative für Besuche auf der anderen Seite der geteilten Stadt, zum Beispiel wenn jemand aus der Familie heiratet. Wie die jungen Schaufler stolz berichten, geht unter Tage demnächst sogar eine Passage für Autos in Betrieb, zusammengesetzt aus alten Containern. Auf palästinensischer Seite ist bereits alles fertig, auf der ägyptischen fehlt noch ein kurzes Stück plus die Ausfahrt.

Denn über die vier offiziellen von Israel kontrollierten Warenübergänge kommen seit der Blockade 2007 nur noch die wichtigsten Lebensmittel – wenn überhaupt. Seit dem Krieg wird kein einziger Sack Zement, kein Baustahl und keine einzige Fensterscheibe mehr durchgelassen. Aber auch Ersatzteile und Computer, selbst Kaffee und Tee sind verboten. Israel macht Sicherheitsbedenken geltend, eine offizielle Liste der gesperrten Güter allerdings gibt es nicht. „Wenn die internationale Gemeinschaft dafür sorgt, dass Israel die offiziellen Grenzübergänge öffnet, machen wir die Tunnel morgen zu“, sagt Bürgermeister al Nashar, in dessen Büro eine zwei Meter hohe Karte von Rafah hängt, auf der fast jedes Haus eingezeichnet ist. Auch sein Bürgermeisteramt hat im Krieg einen Treffer bekommen. Die Scheiben an der Fassade sind immer noch kaputt und die beiden obersten Stockwerke nicht mehr nutzbar, weil es kein Material für die Reparatur gibt.

„Was kann man hier auch groß machen, außer essen“, schmunzelt Muhammed Ishta. Er hat Unmengen von Schokolade aus der Türkei, Bonbons aus Deutschland, Pralinen aus Italien und Lutscher aus China auf Lager. Alles ordert er in Kairo bei einem Grossisten, und der liefert bis zur Grenze. 70 Euro verlangen die Schmuggler für einen Zentner Süßigkeiten. Eine Tonne Kuchen schlägt mit 1100 Euro für den Transport zu Buche. „Die Versorgung von Gaza ist ein Riesengeschäft. Viele verdienen daran, auch das Militär und die Polizei auf ägyptischer Seite“, weiß Bürgermeister al Nashar.

„Was ist das Ziel dieser Politik? Worauf soll das Ganze hinauslaufen?“, fragt John Ging, seit 2006 Chef des UN-Flüchtlingshilfswerks für die Palästinenser im Gazastreifen. „Es ist illegal, dass Israel überirdisch die Lieferungen in den Gazastreifen verhindert. Und es ist genauso illegal, dass die Versorgung stattdessen unterirdisch über Rafah organisiert wird. Wie das die Stabilität, die Sicherheit und den Frieden verbessern soll – dass muss mir erst mal jemand erklären.“ Ging fordert die Rückkehr zu internationalem Recht und ein Ende der israelischen Blockade.

Sechs Monate sind seit dem Januarkrieg vergangen, und immer noch sitzen die Menschen in Zelten oder in einer der 14 000 Häuserruinen. Keine der zerstörten Schulen konnte bisher repariert werden, obwohl in drei Wochen (23. August) für mehr als 500 000 Kinder das neue Schuljahr beginnt. „Wenn die Leute hier keine andere Möglichkeit haben, sich Gehör zu verschaffen, werden sie wieder zu Gewalt greifen“, sagt Ging. „Das ist unausweichlich.“

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