zum Hauptinhalt

Grenzenlose Liebe: Eine Ehe in Berg-Karabach

Sie ist Muslimin aus Aserbaidschan, er Christ aus Armenien. Sie leben in der Konfliktregion Berg-Karabach. Sein Volk hat ihr Volk vertrieben, sie blieb an seiner Seite. Im fünften Teil unserer Sommerserie heute.

Von Julia Prosinger

Drei Mal hat er sie entführt. Dann war sie die Seine. Diese Frau mit Wangen wie Äpfel. Drei Mal, dann wurde aus Gülizar Kasimova Mussa Gülizar Grigorian. Drei Mal, dann trug Gülizar den Feind im Namen. Der Name erzählt bereits die halbe Geschichte. Gülizar, Tochter des Mussa, das ist Aserbaidschanisch. Grigorian, armenischer kann es nicht klingen. Als eine der letzten Aserbaidschaner lebt Gülizar, die Frau mit den roten Wangen, in der Konfliktregion Berg-Karabach, im Südkaukasus. In den Kriegsjahren bis 1994 haben Armenier hier alle Aserbaidschaner vertrieben und getötet, übrig blieb nur, wer verheiratet war. Fünf oder sechs gemischte Ehen gibt es noch, in dieser Zwergrepublik, unter 140000 Armeniern, auf einer Fläche, in die das Saarland kaum zwei Mal passt.

Die ganze Geschichte erfährt, mit Glück, wer das kleine Dorf Sarushen besucht. Etwa 100 Familien leben hier, die meisten sind Bauern, in den Wäldern zwischen den sanften Hügeln gibt es Wölfe und Bären. Auf den Feldern steht der Klatschmohn, es duftet nach Lavendel. Von Krieg ist hier nichts zu sehen. Sarushen ist bekannt in der Region für seinen guten Maulbeerwodka. Und für eine Geschichte.

Diese Geschichte. Das erste Mal entführt Slavik Grigorian, 27, die Frau, die er liebt, Gülizar, 17, Kind einer Bauernfamilie, im Jahr 1984, vier Jahre vor dem Krieg. Brautentführung war damals üblich. Dass ein Armenier, ein Christ, sich traut, eine Aserbaidschanerin, eine Muslimin, zu entführen, nicht. „Das gelingt einmal in tausend Fällen“, sagt Slavik. Armenier waren Ungläubige. Mittags mit ihnen das Vesper zu teilen gehörte sich nicht. „Die Aserbaidschaner aus meinem Dorf haben die Armenier gehasst“, sagt Gülizar jetzt, im Sommer 2013, in der Stube der Grigorians. Sie spricht Armenisch mit dem starken Akzent der Karabacher, den selbst Armenier aus dem Rest des Landes schwer verstehen. Weil man dem Dialekt des Bergvolkes seine Geschichte anhört, die Geschichte von wechselnden Herrschern. Arabisch und Persisch stecken darin, gemischt mit Russisch aus Sowjetzeiten. Und natürlich klingt in Gülizars Akzent Aserbaidschanisch, eine Turksprache. „Alle kennen meine Frau“, sagt Slavik. Wenn sie auf dem Markt einkauft, hört man ihr die Herkunft an. Aber niemand beschimpft sie. Gülizar ist keine Gefahr.

Gülizar und Slavik haben einander eigentlich versprochen, ihre Geschichte, die vor dem Krieg spielt, niemandem zu erzählen. Aber jetzt sprechen sie doch. Ihre Tochter Vera, 18, schüttelt den Kopf über die redseligen Eltern, lehnt an der Schulter des Vaters und zwirbelt sein dichtes Armhaar. Darunter verblassen die Tätowierungen aus seiner Zeit bei der sowjetischen Armee. Slavik entdeckt Gülizar 1984 nahe des Klosters von Amaras. Die Felder seiner Kolchose grenzen an die ihrer Kolchose. Er erntet Trauben und Maulbeeren. Sie sammelt Seidenraupen von den Maulbeerbäumen. Der Armenier und die Aserbaidschanerin verabreden sich, die Muslimin und der Christ. Klatschweiber aus dem Dorf erzählen es der aserbaidschanischen Mutter weiter. „Er ist ein Lügner, er wird sie verführen“, sagen sie. Drei Wochen darf Gülizar nicht zur Arbeit. Wenige Stunden nur ist sie nach der ersten Entführung bei Slavik, dann stürmen 70 Männer sein Haus. Gülizars Brüder schreien: Gib sie zurück, oder wir töten sie auf der Stelle! Sie prügeln auf Gülizar ein, bedrohen sie mit Messern. Gülizars Familie bringt das Mädchen zu einem der Brüder. Dort bleibt sie eingesperrt. Einen Monat, damit sie Slavik vergisst. Einen Monat, damit er sie vergisst. Vergessen, diese Frau?

Eine Narbe zieht sich über seinen Bauch. Aserbaidschanische Granatensplitter

Die Grigorians, drei erwachsene Söhne, eine Tochter, sitzen jetzt vor ihren kargen Wänden auf einem braunen zerschlissenen Cordsofa und lachen laut. Mama vergessen? Diese starke Mutter? Wenn es eine Dose zu öffnen gilt, holt man sie heran. Während Slavik erzählt, füllt Gülizar Teller mit Kuchen, die Walderdbeeren hat sie erst morgens gesammelt. Sie scheucht Küken aus dem Haus, holt schnell ein Brot aus dem Ofen und lässt sich dann mit noch röteren Wangen und Mehl an den Händen aufs Sofa fallen. „Einen Monat konnte ich nicht schlafen wegen dir damals“, sagt Slavik. 1985, Slavik gibt nicht auf. Die Karabach-Armenier, sagt man, sind dickköpfig. Bergleute – schwere Arbeit gewohnt. Armenier – Schicksalsschläge gewohnt. Gülizar lebt damals in Stepanakert, der heutigen Hauptstadt Karabachs. Ihre Familie hat sie in einen dritten Stock einquartiert. Wo sie keiner erreichen soll. Wo Slavik sie nicht erreichen soll. Slavik hat gute Freunde, sie helfen ihm. Er entführt sie abermals – dann zerrt Gülizars Familie sie noch weiter weg. Auf ein Dorf, zu Verwandten. Schande hat sie ihnen gebracht. Der Streit um Karabach ist ein Konflikt wie er post-sowjetischer nicht sein könnte. Russland, der Polizist, den keiner wollte, zieht sich Ende der 80er Jahre immer weiter zurück, Streit bricht aus. Über die Frage, wer eigentlich zuerst da war.

Schon im siebten Jahrhundert nach Christus haben die Armenier, das älteste christliche Volk der Welt, Klöster und Kirchen auf die schwarz bewaldeten Hügel gebaut. Wann immer es ihnen schlecht ging, zogen mehr hierher, die meisten kamen während des Genozids durch die Türken 1915. Schwarzer Garten des Gebirges heißt Berg-Karabach. Dabei war Karabach immer auch aserbaidschanisch besiedelt – Dichter, Musiker, Philosophen stammen von hier. 1921 schenkt Stalin das mehrheitlich armenisch besiedelte Gebiet den Aserbaidschanern. Slavik entführt Gülizar ein drittes Mal. Diesmal schickt er einen Brief vorweg. „Ich habe vor, dich noch einmal zu rauben. Bist du einverstanden?“ Gülizar antwortet: „Nein.“ Aus Angst vor ihrer Familie. Slavik schreibt: „Wenn du nicht mit mir sein willst, gehe ich zurück nach Russland.“ Gülizar lenkt ein. „Ich hatte sie endlich und habe sie nie wieder zurückgegeben!“, sagt Slavik. Sie heiraten ohne Gottes Segen, ohne Allahs Segen. Ohne Segen ihrer Familie.

1988 demonstrieren die Karabach-Armenier für den Anschluss an Armenien, sie wollen nicht länger wie auf einer Insel abgeschnitten von ihrem Mutterland leben. Sie wollen Stalins Schenkung rückgängig machen. Erstmals führen zwei Staaten im Sowjetverbund nun Krieg. 30000 Menschen sterben dabei, beide Seiten foltern. Eine Million wird zu Flüchtlingen. Auch Slavik kämpft. Er fährt frisch gebackenes Brot aus dem Dorf zu den Soldaten. Gülizar hofft, dass die Waffen ihres eigenen Volkes ihren Mann nicht treffen. „Wenn ein Mann in den Krieg zieht, ist das nie leicht“, sagt sie, den Blick aus dem Fenster ins Tal gerichtet. „Wenn ein Mann gegen die eigenen Brüder in den Krieg zieht...“, sie sagt jetzt nichts mehr. Gestritten hätten sie sich deshalb nie. Slavik hebt sein Hemd hoch. Eine lange Narbe zieht sich über seinen Bauch. Aserbaidschanische Granatensplitter. 1992 haben sie ihn getroffen. Die Grigorians ziehen für eine Zeit nach Russland. Als sie zurückkehren, ist Karabach leer. Aserbaidschaner-leer.

Sie holt ein Fotoalbum. Sie weint, während sie darin blättert

1994 vermitteln Russland und die OSZE einen Waffenstillstand. 20000 Armenier verteidigen ab diesem Tag die Demarkationslinie. Nach dem Krieg finden die Grigorians auf 16 Prozent vormals aserbaidschanischen Territoriums einen neuen Staat vor, die Republik Berg-Karabach, mit der Standardausstattung der Unabhängigkeit: eigene Symbole, eigene Sehenswürdigkeiten, Panzer, vor denen sich Touristen fotografieren lassen. Eigene Speisen, Zhingalov Khats, ein Fladenbrot gefüllt mit Kräutern der Berge, Estragon, Koriander, Frühlingszwiebeln. Eigenes Telefonnetz, eigene Briefmarken, eigene Flagge. Slavik erhält eine Medaille. „Für die Befreiung.“ Er lächelt schief. Selten wird man in Karabach diese Worte so spöttisch gesprochen hören. Denn seit dem Krieg halten die Karabacher zusammen wie eine Gang. Jede Familie hat um jemanden gebangt, jemanden verloren. Es gibt kaum Opposition. Außer Armenien erkennt kein Land der Welt Karabachs Unabhängigkeit an. Selbst Russland schickt nur Waffen. Es fürchtet, Dagestan oder Tschetschenien könnten es den Karabachern nachmachen. Völkerrechtlich wohnen die Grigorians in Aserbaidschan. Auf dem Fußballplatz der Hauptstadt Stepanakert trainiert eine Nationalmannschaft, die in keinem Turnier zugelassen wird, weil die anderen Staaten sie für keine Nation halten.

Slavik Grigorian hat keine feste Arbeit. Wenn es eine Mauer zu bauen gibt oder Einschusslöcher, Narben des Krieges, zu überdecken, fährt er mit seinen Söhnen nach Stepanakert. „Wir hungern nicht“, sagt er. Im Hof folgt eine Schar Hühner seiner Frau, auf den Feldern weiden Kühe und Schafe. In wenigen Wochen geht die Maulbeerernte los, dann produzieren die Grigorians, wie so viele hier, Maulbeerwodka, 200 Liter aus zehn alten Bäumen. Industrie gibt es in Karabach kaum mehr. Wer würde auch in solch einen Staat investieren? Stepanakerts saubere Straßen zahlt die armenische Diaspora. Aus Russland, Frankreich und den USA. Denn Karabachs Wert ist symbolisch. Erstmals in 500 verlustreichen Jahren hat Armenien hier Land gewonnen. Das geben sie nicht wieder her. Keine UN-Resolution lässt sie einlenken. Für viele Armenier ist es eine Frage der Ehre, ihre Landsleute in Karabach zu unterstützen. So ruiniert sich das arme Armenien für das noch ärmere Karabach. Um Karabach zu halten, ihr Paradies, vergeben die Armenier wichtige Posten an Karabacher, der armenische Präsident ist in Stepanakert geboren. Sie ertragen eine mafiöse Regierung aus Angst, Aserbaidschan könnte innere Unruhen im Nachbarland dazu ausnutzen, Karabach zurückzuerobern. Sie streiten weiter mit den Türken, die ihr aserbaidschanisches Brudervolk verteidigen. Allein könnte Slaviks Volk, könnten die Karabach-Armenier, niemals gegen neun Millionen Aserbaidschaner gewinnen. Dank Öl und Gas können die mehr Geld für die Aufrüstung gegen die Armenier ausgeben, als der gesamte armenische Haushalt beträgt. Die Grigorians leben in keinem Nachkriegsgebiet. Sie leben in einem Vorkriegsgebiet. Immer wieder sterben Soldaten bei Scharmützeln an der Waffenstillstandslinie. Denn in Karabach wachsen nicht nur Maulbeeren. Es wachsen Vorurteile, Feindschaft, Verschwörungstheorien. Irgendwann, vermuten Experten wie die International Crisis Group, wird das gegenseitige Misstrauen zu einem neuen Krieg führen.

Im Haus der Grigorians reden sie nicht über geschlossene Grenzen, die den Handel erschweren, über fehlende Jobs oder die lähmende Angst vor einem neuen Krieg. Sie reden, und darum erzählen sie ihre Geschichte überhaupt, von Gülizars Familie. Nach Slaviks Entführung verstieß die aserbaidschanische Mutter die armenisierte Tochter zunächst. Als der erste Sohn geboren wurde, kam die muslimische Familie kurz vorbei. Seit dem Krieg haben sie nie wieder voneinander gehört. Gülizar holt nun aus dem Schlafzimmer ein kleines, rotes Fotoalbum. Sie weint, während sie durch ihre Vergangenheit blättert. Vielleicht haben seine Armenier ihre Aserbaidschaner getötet. Vielleicht wartet ihre Familie in einem der Flüchtlingslager in Aserbaidschan, die absichtlich Provisorien bleiben, ein lebender Vorwurf. Wer das Dorf Sarushen betritt, den fragen die Bewohner: Seid ihr Gülizars Familie? Vor einigen Monaten haben die Grigorians sogar bei der russischen Sendung „Schdi menja“, „Warte auf mich“ teilgenommen. Jetzt hoffen sie, dass sich jemand aus ihrer Familie meldet. Deshalb haben die Grigorian-Kinder nur armenische Großeltern. Sie haben armenische Namen. Sie sind Christen. Die Sprache ihrer Mutter haben die vier Kinder nie erlernt. Mit wem sollten sie sie auch sprechen? Manchmal, wenn die Kinder nicht verstehen sollen, was sie sagen, reden Slavik und Gülizar Aserbaidschanisch miteinander. Er hat es lange vor dem Krieg gelernt „Ich spreche besser als du“, sagt Slavik jetzt zu Gülizar. Dann lacht sie. Sie hat ein Bild entdeckt in dem Album, Slavik mit langen Haaren. „Schlank warst du damals, als du noch geraucht hast“, sagt Gülizar zu Slavik. Das Feld mit den Maulbeerbäumen unter denen sich Slavik und Gülizar Grigorian einst kennenlernten, gibt es immer noch. Slavik lächelt. „Inzwischen gehört es auch mir.“

Der Text erschien auf der Dritten Seite.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false