zum Hauptinhalt

Grenzkriminalität: Der unsichtbare Elefant

Wie können riesige Mähdrescher und Zugmaschinen einfach verschwinden? Entlang der Grenze zu Polen machen sich Bauern, Landmaschinenhändler und drei Hundertschaften der Polizei auf die Suche nach einer Antwort.

Die Sache dauert schon zu lange. Sie hat die Leute schon verändert. Sie riechen jetzt – derart sind ihre Sinne geschärft – die Kriminalität: Als neulich zwei seiner Kunden stark nach Diesel rochen, wählte der Tankwart 110. Und wirklich hatten die zwei Letten soeben einen Tank leergepumpt.

Als hätte das Land nach Osten hin ein Leck, so verschwinden entlang der Grenze zu Polen Dinge von Wert: Airbags, ausgebaut aus den Autos eines Autohauses, Koi-Karpfen aus einem Teich, ein 14 Tage alter Jungbulle, Kochtöpfe eines Gastrogroßhändlers, eine Rattan-Sitzgruppe aus einem Möbelhaus. Es verschwinden Kabel, Bootsmotoren, Solarpaneele und, das ist neu und kaum vorstellbar: Es verschwinden auch Traktoren, Ackerschlepper, Mähdrescher und Teleskoplader.

Schwerfällige, lärmende Landmaschinen von absurder Langsamkeit, mit dem Volumen eines Tanzsaals und im Wert eines Reihenhauses hinterlassen keine Spur. Im vergangenen Sommer lenkte ein Dieb bei niedrigem Wasserstand der Neiße einen Traktor einfach durch den Fluss auf die polnische Seite. Da gab es mal eine Spur. Aber der Bauer konnte nur hinterhersehen.

Das komische Potenzial dieser Situation ist Michael Branding, Händler von Landmaschinen, im Ortsteil Kerkow von Angermünde, naturgemäß weniger geläufig. Das Leben auf der uckermärkischen Krume sei ja nicht so idyllisch, wie Städter sich das vorstellen. Dass der Anblick eines Mähdreschers auf der Straße Erstaunen auslöste: falsch. Dass ein Traktor, der nachts anspringt, die Nachbarn wecken würde: nicht zwangsläufig. Zur Erntezeit laufen die Maschinen rund um die Uhr. Traktorenlärm verschwindet in Traktorenlärm.

Und jetzt, da als Folge des Landmaschinenklaus die Versicherungsprämien in der Grenzregion um 20 Prozent gestiegen sind und der Selbstbehalt auf 5000 Euro hochgeschnellt ist, fahren die Bauern ihre Geräte, die sie früher, um Zeit zu sparen, nachts auf dem Feld ließen, mit einer Schlange brastiger Autofahrer hinter sich abends nach Hause. Dann schalten sie die Alarmanlagen ein und stellen ihr Handy nicht mehr aus.

Es war dann Branding, der meinte, so gehe es nicht weiter. Denn ihre Werte verschwanden in der Statistik. Diebstähle wurden immer Aufklärungsquoten gegenübergestellt, die das Problem der Bauern relativierten.

Vergangenes Jahr eröffnete Branding eine ganz einfache, eigene Statistik: Er bat Kunden und Bekannte, einfach einmal aufzulisten, wie groß ihr Betrieb war und wie groß ihr Schaden. Er sammelte 92 Unterschriften und Diebstähle im Wert von 2,2 Millionen Euro. Aufklärungsquote: 0.

Die Liste in ihrer erschreckenden Klarheit sandte er im Dezember 2011 in einer Petition an den Landtag. Und endlich zeichneten sich die Umrisse eines Problems ab. In den Statistiken der Brandenburger Polizei hielt sich ein unsichtbarer Elefant versteckt. Er war von solchem Ausmaß, dass bedroht war, was man den inneren Frieden nennt. Nicht nur, weil diese Diebstähle häufig vorkamen. Sondern vor allem, weil sie wegen des ungeheuren Werts der Maschinen an die Existenzgrundlage gingen.

Aber Anfang des Jahres plötzlich bewegte sich der schwerfällige Apparat ein gehöriges Stück. Ein einziger Mann von 47 Jahren hatte ihn in Bewegung gesetzt: Seit Januar sind drei der vier Hundertschaften des Landes ins Grenzgebiet beordert. Erst bis Ende März, dann wegen des Erfolgs bis Ende Juni.

„Tagsüber abschrecken, nachts verfolgen und fassen“, so heißt es bei der Polizei. In dieser Hoffnung leitet Steffen Berger nachts um drei von der Wache in Frankfurt an der Oder aus den Einsatz. Seine Leute leben eine Nachtschicht lang von starkem Kaffee und koordinieren eine groß angelegte Kontrolle an der A12.

Die Angst des Fischers

Aber gerade hat ein Unfall für eine Totalsperrung gesorgt. Sie brechen den Einsatz ab, und Berger hat Zeit zu beschreiben, wie sich die Polizei den Tätern angleichen will: in Sachen Vernetzung, Beschleunigung der Kommunikation, grenzüberschreitender Planung.

2010 wurde die „SoKo Grenze“ gegründet. Berger ist von Anfang an dabei. Als er privat auf die Statistik reagiert, kauft er sich einen Nissan Qashqai, der auf der Diebstahlliste ganz hinten steht. Er weiß, dass man mit einer Festnahme noch längst keinen Fall geklärt hat, denn es herrscht professionelle Arbeitsteilung: Ein Fahrzeugklau braucht einen Späher, einen Dieb, einen Kurier und einen Piloten – Letzterer fährt bei der Überführung in einigem Abstand vor dem Wagen her, um vor Kontrollen zu warnen.

Die Gewaltbereitschaft, sagt Berger, sei gestiegen. „Da springt öfter ein Kollege von der Straße.“ Sie nennen es einen „Durchbruch“, wenn Diebe einfach Gas geben. Dann holt Berger sichergestelltes Einbruchswerkzeug hervor: ein Satz sogenannter „Polenschlüssel“ aus gehärtetem Stahl, zu haben auf jedem Markt in Polen. Er zeigt ein „Ziehfix“, den etwas anderen Korkenzieher, der Schlösser entfernen kann. Die wertvollste Beute aber: Decoder, die die Steuerungselektronik manipulieren. Es sind Diagnosegeräte, wie sie Werkstätten benutzen. Einen geklauten Wagen sicherzustellen sähe natürlich spektakulärer aus. Aber hier wurde sogar ein Diebstahl verhindert.

Michael Branding, dessen Firma auch Finanzierungen anbietet, weiß, dass Bauern sich für ihre Maschinen über Jahre verschulden. Dann verschwinden die gezielt und aus gut gesicherten Schuppen. Sie werden durch Wälder gelenkt, in Hallen gefahren, auseinandergenommen, auf Tieflader gewuchtet, in Einzelteilen unkenntlich gen Osten transportiert.

Branding fürchtet, dass es jetzt so aussehen könnte, als pflege er Polenklischees. Falsch. Er schätzt die Kunden von jenseits der Grenze, die mit großen Mengen Bargeld seine Maschinen bezahlen. „Ich lebe zu 20 Prozent von Polen.“ Es werden auch Letten gefasst und Deutsche. Polen ist für das Diebesgut nur ein Transitland. Außerdem, vermutet Branding, müssen auch jede Menge deutscher Tippgeber an den Diebstählen mitverdienen.

Trotzdem, das hat er seinen Kunden auch erklärt, hat er ein mulmiges Gefühl, wenn sie zu sechst in einem Transporter zu ihm kommen. Während er mit einem von ihnen im Büro an den Schreibtisch gefesselt über Geld verhandelt, schwärmen fünf aus und sehen sich die Maschinen an.

Einmal verkaufte er eine gebrauchte Strohpresse für Quaderballen weiter. Die Werkstatt rief an: Wo die Stahlnadeln seien, die im Innern die Ballen halten, Wert 8000 Euro? Jemand hatte sie ausgebaut. Auf seinem umzäunten Gelände. Häufig fehle dort plötzlich auch ein Anhängerzug, an den man einen Pflug hängen kann oder die Scheibe einer Egge.

So etwas, sagt Branding, lässt auf echte Fachkenntnis schließen. Auf eine mafiöse Organisation, die auf Bestellung beschafft. Und wenn man keinen Schlüssel für einen Traktor hat, dann nehme man einen von einem beliebigen Traktor der gleichen Marke. Sie passen alle.

Ach?

Ja, und das war jahrelang kein Anlass zur Sorge, sagt Branding. Jedenfalls bis es 2009 begann, dass die Riesendinger „massiv“ verschwanden. „Und Saison ist immer,“ sagt Branding. Dann zeigt er das Gelände.

Brandings Zaun ist jetzt die Außengrenze zu Polen. Er bewacht sie rund um die Uhr, wie viele Bauern auch. Sie sind immer in Bereitschaft, sie springen aus den Betten, wenn ein Marder nachts in ihren Bewegungsmelder gerät. Dann fiept ihr Handy. „Dreiuhrdreißig, die Frau zittert.“ Brandings Familie fürchtet die Möglichkeit, dass er doch einmal auf organisierte und folglich schwer entschlossene Menschen trifft. Privat schafften sie sich einen scharfen Hund an, mit dem sie selbst noch nicht so richtig warm sind.

Die Versicherungen verlangen Zäune um die Betriebe. Die Polizei berät, wie man sie befestigt, sichert und überwacht. Privatpersonen investieren, um ihre Versicherungen zu halten. Die Grenzen in Europa sind zu Grenzen zwischen Mein und Dein geworden.

Leider hat in diesem Spiel die Aufhebung der Grenzkontrollen 2007 nur den Räubern alles erleichtert. Die Gendarmen müssen jetzt viel mehr Hindernisse überwinden. Beamte lernen in Tandemprojekten die Sprache der Nachbarn. Sie müssen zusammen ermitteln und dafür sorgen, dass ihr Funk auch bis ins Nachbarland reicht. Bilaterale Verträge mussten klären, dass ein deutscher Beamter einen Täter auch über die Grenze weiter verfolgen darf, „solange der in Sichtweite ist“. Und dabei ist er auch versichert.

Branding freut sich, dass einige der vermissten Traktoren wieder aufgetaucht sind. Aber er glaubt beobachtet zu haben, dass sich seit Januar, also seit die Hundertschaften bei ihnen im Einsatz sind, die Kriminalität etwa 30 Kilometer ins Landesinnere verschoben hat. Sogar bis an den Werbellinsee, wo Volker Wolf, einzig hier verbliebener Fischer, die Maränen aus dem See holt. Nebenan wurde die Marina von Dieben heimgesucht, die Motoren und Pfandflaschen klauten. Ihm stahl man im Januar ein Elektrofischfanggerät, 7500 Euro, einen Honda Außenborder, 15 PS, 2800 Euro, einen Trennschneider, 1000 Euro und so weiter, bis der Schaden sich auf gut 21 000 Euro belief. Die ständige Bedrohung verdüstert sein Leben.

Nachtschicht an der A12

Volker Wolf haut einem Hecht mit einem Stock auf den Kopf, bevor er ihm einen Stromschlag versetzt. Alles auf Auftrag, vermutet er. Sie selbst können nichts dafür. Sie werden einfach getroffen. Wolf ist jetzt einer neu gegründeten Bürgerinitiative beigetreten, die nach Brandings Vorbild die Schäden publik machen soll. Er hat das Gefühl, dass die Polizei sich nicht genug kümmert. Statt zu schützen, gibt sie den Leuten Empfehlungen, sich selbst zu schützen.

Bitte sehr. Frischer Fisch.

Ein paar Frühlingsnächte später stehen sie wieder an der A 12, Raststätte Kersdorfer See, mit Behindertentoilette. Durch diese Gasse müssen alle kommen, die auf der Autobahn nach Polen wollen. Seit 2.30 Uhr wartet der dritte Zug der vierten Hundertschaft am Wald, knapp 30 Mann beleuchtet von Ballonlampen, von Generatoren betrieben. Sie kamen mit Hundeführer, mit Internetanschluss, mit Seelsorger und einem an der Ausfahrt geparkten Wagen „zur Nacheile“, falls jemand Gas gibt. Nacheile“ klingt nur so, als würden sie es zu Fuß machen.

Die erfahrensten Leute entscheiden, wer kontrolliert wird. Nach der Statistik. Nach der Klasse des Autos. Nach der Nervosität des Fahrers. Sie winken heraus: Wagen, die zuletzt am häufigsten geklaut wurden. Männliche Einzelfahrer. Mehrsitzer. Männliche Einzelfahrer in Mehrsitzern. VW. Audi. BMW. Ein Jaguar.

Normalerweise sind die Hundertschaften zuständig für Fußballspiele und Demonstrationen. Die vielen Nachtschichten bringen ihren ganzen Rhythmus durcheinander. Bei Fußballspielen, sagen die Polizisten, könne man sich auf die Gesichter der Fans vorbereiten, viele sind bekannt. Hier ist vieles Glück. Oder Zufall. Oder Dummheit der Täter.

Worauf also trainieren sie den Blick?

Leute und ihre Geschichte müssen zusammenpassen wie die Fahrzeugnummern und die Papiere .

„Guten Tag, wir führen hier eine Kontrolle durch.“

Zu beobachten ist die Genugtuung der Kontrollierten. Endlich passiert etwas!

Zu sehen ist der Kribbelige, auf dem Weg zu einem Termin.

Zu sehen ist der Genervte, der noch mal an sich hält.

„Ohne Erfahrung weiß man nicht, wonach man suchen muss“ hatte Berger, gesagt. Und dann hat er noch erzählt, wie sich diese Erfahrung manchmal nur in einem Gefühl verdichtet. Wie ein Kollege einmal eine Frau in einem BMW anhielt, nur weil sie nicht den Kopf gewendet hat, obwohl er eine Weile parallel zu ihr fuhr. – untypisch für eine Frau. Und der Wagen war nicht ihrer.

Wenn jemand besonders viel sieht, sagen sie seltsamerweise, er habe einen „Riecher“.

Die Polizisten an der A 12, Rastplatz Kersdorfer See, müssen ihren Verdacht an Gegenständen festmachen. Ihr Blick streift über die Sitze, manchmal liegen dort Werkzeuge, sogar Wagenteile. Auf die Verschlusskappen an den Schlüsselschlitzen der Schlösser schauen sie. Wenn der Fahrer lässig den Motor aus- und wieder anstellt ist das erste Verdachtsindiz schon hinfällig. Ist der Wagen geklaut, hat er häufig mit der Zündung Probleme.

„Das Nummernschild: War das schon mal an einen anderen Wagen geschraubt? Da ist eine Bohrung in der 6.“

Nein, es ist nur neu gerahmt.

„Haben Sie in den letzten 24 Stunden ein Rauschmittel konsumiert?“

So hoffen sie auf Beifang. So haben sie schon Kupferkabel und Markenklamotten gefunden.

„Leute, die eine Fahne verdecken wollen, betätigen kurz vor der Kontrolle die Scheibenwischanlage.“ Die riecht auch nach Alkohol.

Der dies sagt, stellt sich als Pfarrer vor, Pfarrer und Seelsorger Sven Täuber, der Polizeischülern in ihrer Ausbildung 30 Stunden Ethik zukommen lässt. Er ist schon so lange dabei, dass er den „Rumänenknick“ erklären kann: eine Delle in der Gummilitze des Fahrerfensters, die auf dessen Aufhebeln schließen lässt.

Täuber ist nicht zufrieden mit der Entwicklung im Land. Mit der Polizeireform, die die Zahl der Polizisten in Brandenburg drastisch reduziert. Mit der Strategie der Präsenz gegen die Diebstähle. Laien, die sich hier freuen, wenn sie mehrmals am Tag kontrolliert werden, können ja Präsenz von Professionalität nicht unterscheiden. Präsenz löst keinen Fall. Aber in ganz Brandenburg gebe es zum Beispiel keinen einzigen Faserspezialisten mehr, sagt er. „Die kriminalistische Qualität fällt ins Bodenlose.“

Und die Statistik, sagt der Pfarrer, könne jede Form annehmen. Ein gefasster Täter kann zur Meldung werden: ein Täter gefasst. Oder: 20 Fälle aufgeklärt.

Die Polizisten, die bald wieder für Fußballspiele gebraucht werden, beugen sich freundlich zu den Kabinen. Aus den Türen quellen Wollstoffe, Jogginganzüge, Bügelfalten, Lederkoffer, Gebrauchsmuster der Vertreter, Kleidersäcke, Thermobecher. Der kraftvolle Motor eines Jaguars knistert fein. Autofans kämen bei diesem Job auf ihre Kosten, heißt es.

„Manche aus der Gegend sind schon mehrfach am Tag angehalten worden“, sagt einer stolz. Das führe zu Vertrauen.

Bilanz der vierten Hundertschaft, dritter Zug, Kontrolle von 2.30 bis 11 Uhr: 293 kontrollierte Personen in 219 kontrollierten Wagen. Keine Landmaschine auf einem Sattelschlepper. Nichts, was sie hier eine „Feststellung“ nennen.

Zur Startseite